7. Gregors Persönlichkeit
Eine gelegentliche Bemerkung Gregors 84 läßt vermuten, daß er einmal ein voller, kräftiger Mann gewesen sein muß, daß der Körper aber durch die lange Krankheit ganz mager und ausgetrocknet wurde. Oft tauchen in den Schriften Gregors Bemerkungen auf über ein Magenleiden und besonders über das Podagra, das ihn peinigt. Vom Jahre 598 an scheint er die meiste Zeit ans Bett gebunden gewesen zu sein; nur mühsam konnte er zuweilen drei Stunden außer Bettes sein, um die heiligen Geheimnisse zu feiern. Von seinem leiblichen Aussehen zeugt uns leider kein zeitgenössisches Bild, Johannes Diaconus sah in St. Andreas noch ein sehr altes Porträt Gregors und beschreibt es eingehend. Darnach war er von regelmäßiger und schöner Gestalt, sein Antlitz hatte etwas von dem länglichen Oval des Vaters und von der Rundung des mütterlichen Gesichtes; der Bart war etwas blond und kurz geschoren, der Scheitel kahl mit zwei kleinen Locken oberhalb der schönen Stirne; das Haar zu beiden Seiten des Hauptes war dunkel, die Farbe der Augen braun, die Nase gerade, in der Mitte etwas anschwellend, das Kinn etwas vorstehend; das Kolorit war dunkel und voller Leben und verriet noch nicht sein Magenleiden; die Hände waren schön geformt. 85 Von den Charaktereigenschaften Gregors fällt vor allem sein tiefer Ernst auf, der dadurch noch besonders gesteigert wird, daß er das Ende der Zeiten nahe sieht. Alle die schweren Bedrängnisse seiner Zeit bestärken ihn in der Annahme von der alternden Welt, von dem Herannahen des Endes. Mit dem Ernste verbindet sich die Festigkeit in der Verfolgung eines Zieles: „Eher bin ich bereit zu sterben, als zu meinen Lebzeiten die Kirche des hl. Petrus in ihrem Ansehen schädigen zu lassen; lange kann ich etwas ertragen, aber wenn ich mich einmal entschlossen habe, es nicht länger zu tragen, gehe ich freudig allen Gefahren entgegen.“ 86 Bescheiden bekennt er zwar seine Fehler, ist aber unbeugsam, wenn er es für notwendig hält. Als ihm Bischof Anastasius von Antiochien einen leisen Tadel ausspricht, weil er die Angelegenheit des Johannes Jejunator so ernst nehme, schreibt er: „Ich weiß, daß ich immer Fehler an mir hatte, und ich gab mir Mühe, sie zu bekämpfen und abzulegen.“ 87 Johannes Jejunator, Patriarch von Konstantinopel, legte sich nämlich den Titel eines ökumenischen Bischofs bei, wogegen Gregor entschiedenen Einspruch erhob. In derselben Sache zieh Kaiser Mauritius den Papst einer gewissen Unversöhnlichkeit; dieser antwortete darauf: „Ich bin ein Sünder, habe aber mit Gottes Hilfe die Demut bewahrt und bedarf keiner Ermahnung zur Demut.“ 88 So zeigt sich sein entschiedener Wille, der die Menschen nicht fürchtet, wenn er in einer Angelegenheit Gott gefallen will. 89 Ist Gregor auch streng gegen solche, die gefehlt, so denkt er doch nicht gleich an Schlimmes, sondern ordnet sofort eine Untersuchung des Falles an. Dabei ist er Streitigkeiten gänzlich abgeneigt. So hat er einmal Anweisung gegeben, wie ein Grenzstreit beizulegen ist, und fügt bei, er wolle keinen Prozeß angestrengt wissen, die Mißhelligkeiten sollen auf jede Weise beigelegt werden; er erwarte darum, daß in dieser Sache keine Klage mehr an ihn komme. 90 Neben dem Ernste ist ein Hauptcharakterzug die Gerechtigkeitsliebe. Er hat erfahren, daß auf Sizilien viele Leute durch die Verwalter des römischen Kirchengutes geschädigt wurden. Er beauftragt den Subdiakon Petrus, 91 alles genau zu untersuchen; wenn jemand geschädigt wurde, so soll ihm sein Eigentum zurückgegeben werden. Er hörte auch, daß Sklaven entlaufen wären und sich dann als zu einer Kirche gehörig ausgegeben hätten, worauf Kirchenverwalter solche sogleich als Kirchengut angesehen und behalten hätten. „Dies mißfällt mir sehr,“ schreibt er im gleichen Brief, „da es jeder Gerechtigkeit widerspricht. Mache das alles ohne Zögern gut!“
Muß er tadeln, so tut er das nicht aus Härte, sondern aus brüderlicher Liebe. „Wir sind alle ein Glied am Leibe unseres Erlösers. Darum leide ich mit, wenn Du fehlst, und freue mich, wenn Du Gutes tust!“ So an Bischof Januarius von Cagliari. 92 An Bischof Opportunus in den Abruzzen, den er tadeln mußte, und der darob noch traurig ist, schreibt er in freundlichen Worten, er habe nicht aus Härte, sondern aus Liebe, um seiner Seele willen, so zu ihm reden müssen. 93 Eine andere Eigenschaft Gregors ist seine helfende, sich um alles kümmernde Güte. Es sind oben 94 schon Beispiele angeführt worden, wir fügen jedoch zur Zeichnung seines Charakterbildes noch einige Züge an. Um 596 machten die Langobarden in Kampanien viele Gefangene. Im Mai des Jahres schreibt der Papst an den Subdiakon Anthemius in Neapel, wie groß sein Schmerz darüber sei, und schickt Geld zur Abhilfe; die Freien, die nicht selbst das Lösegeld aufbringen können, solle er loskaufen, ebenso die Sklaven, deren Herren nicht imstande sind, sie freizukaufen; er soll ein Verzeichnis der Losgekauften mit Angabe der persönlichen Verhältnisse einschicken und die aufgewandte Summe benennen. 95 Er hat großes Bedauern mit Bischof Ecclesius von Chiusi wegen seiner Erkrankung und schickt ihm ein Pferd, damit er sich ausfahren lassen kann. 96 Dem Abt Johannes Climacus vom Kloster auf dem Sinai schickt er am 1. September 601 Bettdecken, Mäntel und Beinkleider für seine Mönche; und dem Presbyter Palladius desselben Klosters, der angeschwärzt wurde und darüber sehr niedergeschlagen war, sandte er mit tröstlichen, väterlichen Worten eine Cuculle und eine Tunika. 97 Dabei wachte Gregor darüber, daß an seinem Hofe Adel und Würde hochgehalten wurden. Er ist nicht zufrieden mit dem Subdiakon Petrus, weil ihm dieser ein schlechtes Pferd sandte; wenn er ausreitet, soll sein Tier von gutem Schlage sein. 98 Keiner der Diener des Papstes, berichtet Johannes Diaconus, vom untersten bis zum obersten, zeigte etwas Barbarisches in Rede oder Haltung; das alte echte lateinische Wesen in der Toga nach Art der Quiriten behauptete seinen Platz in dem latialischen Palast. Bei wem es an heiligem Wandel oder an Klugheit fehlte, der durfte sich keine Aussichten machen, vor dem Papst bestehen zu können. 99
So steht Gregor als ein einheitlicher Charakter, als ein starker, unablässig um die Herde Christi besorgter, vor keiner Schwierigkeit zurückweichender Papst im Sturmlauf jener Tage unerschütterlich da. Es ist, als ob er nicht an die Zukunft dächte; er will den Stand der Kirche in Ordnung halten vor dem nahenden Weltende. Aber nach seinem Tode, 604, wendet sich allmählich der Zeiten Lauf wieder aufwärts; Gregor steht als Grenzstein zwischen dem Altertum und dem Mittelalter der Kirche; er schließt die Zeit vor ihm ab und wird zum Ausgangspunkt, zum großen Lehrmeister für die Folgezeit. In allen Stücken knüpft sie an ihn an; er befruchtet durch seine Schriften ihren Seeleneifer; er ist das Vorbild für die Unterweisung aller Stände in der Predigt, für die Verwaltung und Rechtsprechung der Kirche und für die Feier der heiligen Geheimnisse. Er ist der heilige Kirchenlehrer, auf den das ganze Mittelalter horcht. Darum erhält er auch die Bezeichnung der Große, die vom Ausgang des 11. Jahrhunderts sich allgemein einbürgert. 100
„Es ist bewundernswert“, sagt Papst Pius X. in dem Rundschreiben zur Zentenarfeier v. 11. März 1904, „was Gregor in der kurzen Zeit seiner Regierung erreichte: er reformierte das gesamte christliche Leben, weckte die Frömmigkeit der Gläubigen, stellte die Disziplin der Mönche und des Klerus wieder her und schärfte den Bischöfen die Sorge für die ihnen anvertraute Herde wieder ein. Wahrhaft ein Stellvertreter Gottes, dehnte er seine Wirksamkeit über die Mauern Roms hinaus aus und war überall auf das Wohl der bürgerlichen Gesellschaft bedacht. … Seine Wirksamkeit war so heilsam, daß die Erinnerung an seine Taten sich tief den kommenden Geschlechtern einprägte, namentlich während des Mittelalters, das nach seinem Geiste lebte, von seinen Worten