Während dieser ersten Jahre des Klosterlebens war es, daß Gregor, wie uns Johannes Diaconus erzählte, einmal auf dem Sklavenmarkte englische Gefangene sah und so von Mitleid erfüllt wurde, daß er den Entschluß faßte, dieses Volk mit dem Evangelium bekannt zu machen. Er soll sein Anliegen Papst Benedikt (574—579) vorgetragen und sich entschlossen haben, selbst nach England zu gehen, da kein Missionar sich fand. Ungern habe ihn Klerus und Volk ziehen lassen; bald aber sei eine so große Unzufriedenheit wegen seines Wegganges entstanden, daß eine Abordnung Gregor nachreiste und ihn zurückholte. Ließe sich aus diesem Vorkommnis schließen, daß das Volk noch immer an dem ehemaligen Stadtpräfekten hing, so erhellt aus einer bestimmten Tatsache, welches Vertrauen ihm Papst Benedikt schenkte. Er übertrug ihm nämlich das eben erledigte Amt eines der sieben Diakone. Der Diakon aber hatte für das Wohl der ihm anvertrauten Region zu sorgen. Während die Römer sich freuten, daß Gregor auf diese Weise gleichsam wieder zu ihnen zurückkehrte, folgte dieser nur ungern dem päpstlichen Wunsche, der ihn den weltlichen Sorgen zurückgab. 28 Unerwartet schnell starb Papst Benedikt 579. Sein Nachfolger Pelagius II. erteilte Gregor die Diakonatsweihe und ernannte ihn sofort zu seinem ständigen Gesandten oder Apokrisiar beim oströmischen Kaiserhofe.
Gregor reiste, wahrscheinlich die sehr belebte Via Egnatia benützend, über Durazzo durch Epirus und Mazedonien nach Konstantinopel. Er war dabei von einer größeren Anzahl von Mönchen begleitet, und mit ihnen führte Gregor in der Hauptstadt das klösterliche Leben fort. Er konnte, sagt er, zu ihnen von den Stürmen und Wogen der weltlichen Geschäfte immer wieder wie zu einem ruhigen Gestade heimkehren und die Seele gleichsam vor Anker legen. 29 Von den Aufgaben, die Gregor am Hofe zu lösen hatte, wissen wir nur wenig; denn er hat selbst nicht viel davon erzählt, und der Briefwechsel zwischen dem Papst Pelagius und ihm ist verlorengegangen. Johannes Diaconus sagt noch, daß er im päpstlichen Archiv aufbewahrt werde, und führt zum Beweis der umfassenden Geschäftsführung Gregors einen Brief des Papstes an ihn an. 30 Die Lage des Reiches war damals gespannt. Kaiser Tiberius II. (578 bis 582) wurde vom Papste um Hilfe für Rom und Italien angegangen; aber der Kaiser vermochte trotz seines Wohlwollens keine Hilfe zu schicken, da seine Kräfte kaum hinreichten, um gegen die Perser, die unter Chosroes II. das Reich wieder ernstlich bedrohten, standzuhalten. Ihrem Andrange gelang es auch wirklich, wenige Jahrzehnte später Syrien, Kleinasien und Ägypten an sich zu reißen, Tiberius konnte nicht einmal seinem Exarchen in Ravenna beispringen, geschweige denn Rom. So rief denn der Kaiser die Franken gegen die Langobarden zu Hilfe; aber der Erfolg war, daß das Langobardenvolk sich wieder einigte; hatten während des Interregnums die Herzöge nach ihrem eigenen Willen und ohne Geschlossenheit regiert, so verlangte jetzt das Volk nach einem Könige und wählte dazu Authari, 585, der sogleich Ravenna bedrohte. Unter all den Verhandlungen, die in dieser Zeit zwischen Rom und Konstantinopel gepflogen wurden, mag Gregor die Überzeugung gewonnen haben, daß von Byzanz keine Hilfe für Italien zu erwarten sei und daß Italien selbst auf seine Rettung bedacht sein müsse. Insofern sind diese Verhandlungen für Gregors spätere Tätigkeit bedeutungsvoll geworden.
Gern zog sich Gregor von dem prunkvollen und ränkesüchtigen Hof zu seinen Mitbrüdern zurück. Dort sah er oft einen Mann, der mit ihm gleicher Gesinnung war und den ebenfalls Staatsgeschäfte nach Byzanz geführt hatten, nämlich Bischof Leander von Sevilla, der beim Hofe die Sache des zum katholischen Glauben übergetretenen Königssohns Hermenegild vertrat. Leander ersuchte Gregor, dem Kreise der ernsten Männer das Buch Job in Konferenzen zu erklären. So entstanden die 35 Bücher über das Buch Job oder die Moralia. Endlich, 585 oder 586, wurde Gregor zurückberufen und durfte wieder sein Kloster St. Andreas beziehen. Dort vollendete er die Moralia und hielt vor den Mitbrüdern Vorträge über den Pentateuch, das Buch Josue, das Buch der Richter, die Bücher der Könige, über die Propheten, über die Sprüche und das Hohelied, schrieb jedoch die Erklärungen nicht selbst nieder; ein Schüler namens Claudius machte wohl Notizen; diese fanden aber so wenig das Gefallen Gregors, daß sie nicht weiter verwendet wurden und verlorengingen.
Ob Gregor nach seiner Rückkehr von Konstantinopel Abt seines Klosters wurde, ist fraglich. Dem ersten Abte Valentio folgte Maximianus, der Gregor auch in Konstantinopel besuchte und der bis zu seiner Ernennung zum Bischof von Syrakus im Jahre 591 Abt gewesen sein muß; denn gegen Ende 590 wird in einer Urkunde für das Kloster St. Andreas Maximus oder Maximianus als Abt des Klosters genannt. 31 Papst Pelagius ernannte Gregor zu seinem Sekretär und bediente sich seiner als eines erfahrenen Ratgebers.
5. Gregor als Papst
Das Jahr 589 war ein Schreckens- und Unglücksjahr für das Reich und für Rom. Im Osten wurde das kaiserliche Heer von den Persern geschlagen. Slaven drangen in Thrazien ein, Antiochien wurde durch ein Erdbeben großenteils in Trümmer gelegt, wobei 60 000 Menschen den Tod fanden. In Italien wüteten unerhörte Regengüsse und verursachten Überschwemmungen. Die Etsch überflutete das Ufer so hoch, daß die Kirche von St. Zeno in Verona bis zum Dache unter Wasser stand. In Rom verließ der Tiber sein Bett und bedeckte das Marsfeld; zahlreiche Gebäude fielen den Fluten zum Opfer, besonders die Kornspeicher, die dem Ufer entlang standen. Zu alledem kam von Ägypten her die Beulenpest und forderte in den ohnehin schwer heimgesuchten Gegenden viele Opfer. In Rom war es nicht mehr möglich, die Toten zu beerdigen; Nacht für Nacht führte man sie wagenweise vor die Stadt und lud sie vor den Mauern ab. Unter diesem Elend wurde auch Papst Pelagius von der Krankheit ergriffen und starb am 8. Februar 590. Klerus und Volk wählten Gregor zu seinem Nachfolger. Dieser aber schrak vor dem Amte zurück und schrieb an den Kaiser, der die Wahl zu bestätigen hatte, er solle seine Zustimmung versagen. Der Stadtpräfekt Germanus hielt jedoch den Brief ohne Wissen Gregors zurück und sandte das Wahldokument zur Bestätigung nach Konstantinopel. Unterdessen versah Gregor mit dem Archipresbyter, dem Archidiakon und dem Primicerius notariorum die notwendigen Geschäfte des päpstlichen Stuhles. Da die Pest noch immer wütete, hielt Gregor in der Laterankirche eine Predigt, um das Volk zur Buße zu ermahnen, und ordnete eine große, siebenfache Bittprozession an, wie der Diakon Agilulf von Tours, der damals in Rom weilte, an seinen Bischof Gregor berichtete. 32 Am frühen Morgen des 25. April zogen sieben Prozessionen, nach Ständen getrennt, von sieben Kirchen aus nach S. Maria Maggiore auf den Esquilin, um von Gott die Abwendung der Geißel zu erflehen. Die Legende erzählt als äußeres Zeichen der Erhörung, daß man während des Bittganges nach St. Peter sah, wie über dem Grabmal Hadrians der hl. Erzengel Michael sein flammendes Schwert in die Scheide steckte. 33
Während die Pest nach und nach erlosch, wartete Gregor auf die Antwort aus Konstantinopel. Gegen Ende des Monats August traf die Bestätigung der Wahl ein. Gregor war förmlich bestürzt und dachte daran, sich der Papstweihe durch die Flucht zu entziehen. Gregor von Tours berichtet, daß Gregor während der Vorbereitung zur Flucht überrascht und nach St. Peter geführt worden sei. 34 Gregor selbst sagt in dem Begleitbrief zur Pastoralregel: „Pastoralis curae me pondera fugere delitescendo voluisse, benigna, frater carissime, atque humili intentione reprehendis. 35 Gregor gab das Widerstreben auf und wurde am 3. September 590 zum Papste konsekriert. Er habe, schreibt er gleich darauf an den Patriarchen Johannes von Konstantinopel, als ein unwürdiger und kranker Mann die Leitung des alten und stark beschädigten Schiffes übernehmen müssen. 36
Wie aber nun Gregor regierte, erregt unser Staunen und unsere Bewunderung. Er entfaltete eine Tatkraft, die an alle Bedürfnisse und Bedrängnisse der Zeit herantrat, sich aller Not annehmend, nur immer helfen und retten wollte, die alles überschaute und mit zähester Energie zu beeinflussen verstand; er war ein klarer, juristisch denkender Mann, der schnell und immer die geeigneten Wege zeigte und der die Gewohnheit besaß, die Gedanken und Entschlüsse sofort niederzuschreiben oder zu diktieren. Er blieb, als er in den Lateranpalast übersiedelte, der einfache Mönch und wollte