Wenn eine gedrängte Übersicht über die päpstliche Wirksamkeit Gregors gegeben werden soll, so ist wegen der vielfältigen und verschiedensten Angelegenheiten, die nebeneinander den Geist Gregors beschäftigten, eine chronologische Aufzählung weder möglich noch statthaft; darum sollen die einzelnen Gebiete für sich kurz zusammengefaßt werden.
a. Das Verhältnis zwischen dem päpstlichen Stuhl und dem Langobardenreich
Gregor war erfüllt von großem Unwillen gegen die Langobarden, weil sie ohne Unterlaß das Land beunruhigten, bald da, bald dort plündernd einfielen, mit Tod und Feuersbrunst das Volk heimsuchten. Dazu kam, daß sie Arianer waren und Rom mehr und mehr bedrohten. König Agilulf stand in Verbindung mit den süditalischen Langobarden, die von Benevent und von Spoleto her Rom einzukreisen drohten. Während so die Lage Roms immer gefahrvoller wurde, war von Ravenna keine Hilfe zu erlangen; denn der Exarch Romanus besaß kaum Macht genug, Ravenna zu halten. So mußte der Papst für sich allein auf den Schutz von Rom bedacht sein. Er suchte mit Herzog Ariulf von Spoleto, der Rom belagerte, Frieden zu schließen, fand aber unerklärlichen Widerstand beim Exarchen, der die Verhandlungen nicht bestätigte. Auch mit den tuscischen Langobarden konnte ein Friede wegen des Widerstrebens des Exarchen nicht zustandekommen. König Agilulf ging über den Po, rückte nach Süden bis gegen Rom vor und schickte sich an, die Stadt zu belagern, 593. Damals hielt Gregor die Homilien über Ezechiel. In der 6. Homilie des II. Buches bricht sein Schmerz in laute Klagen aus. „Was gibt es noch, frage ich, das einen auf dieser Welt freuen könnte? Überall sehen wir Trauer, von überall her hören wir Wehklagen. Verwüstet sind die Städte, die Schlösser zerstört; das Land ist entvölkert, verödet unsere Heimat. Kein Bauer ist mehr auf dem Felde, kaum mehr ein Einwohner in der Stadt; und dem kleinen Rest, der noch übrig ist, werden täglich neue Wunden geschlagen. Wo ist der Senat? Wo das Volk?“ 37 Gregorovius nennt diese erschütternde Homilie die Leichenrede am Grabe des alten Rom. 38 Damals soll es Gregor gelungen sein, König Agilulf durch die Macht seiner Persönlichkeit und durch sein Bitten zum Abzug zu bewegen. 39 Agilulf kehrte nach Mailand zurück. Gregor schloß mit ihm einen Waffenstillstand, aber wiederum versagte der Exarch seine Einwilligung. So dauerte der Krieg fort und griff nach Sardinien über. Unterdessen starb Romanus; sein Nachfolger Kallinicus schlug eine andere Politik ein und schloß 598 einen Waffenstillstand mit Agilulf. Gerührt dankt Gregor dem König und seiner Gemahlin Theodelinde, die sich besonders um den Frieden bemüht hatte. Die ruhige Zeit dauerte bis 601, wo der Krieg in der Lombardei neuerdings aufflammte; aber noch in einem seiner letzten Briefe kann Gregor, schon den Tod vor Augen — in summo vitae periculo atque discrimine — dem König durch Theodelinde für Wiederherstellung des Friedens danken; voll Freude schickt er für den königlichen Prinzen Adaloald, der katholisch getauft wurde, einen Kreuzpartikel und ein Evangelienbuch in kostbarem Umschlag und für die Prinzessin drei Ringe. 40 So war dem Papste noch vor seinem Lebensende ein glücklicher Erfolg der unablässigen Friedensbemühungen beschieden. 41
b. Das Verhältnis zwischen Kaisertum und Papsttum
Aus dem Gesagten geht hervor, daß damals die politische Macht Konstantinopels in Italien gering war. Je mehr sie zurücktrat, desto mehr wuchs der Einfluß des Papsttums in Rom. Als Diokletian und nach ihm Konstantin den Herrschersitz des großen Reiches nach Byzanz verlegten, als Italien nach den Ostgotenkämpfen eine Provinz Ostroms und Ravenna der Sitz des Exarchen geworden war, wird in dem freien Raum um Rom naturnotwendig eine neue Macht emporgetragen, ein neues geistig-religiöses Kaisertum. Solange die beiden Reiche dann nebeneinander bestehen, greifen sie verschiedentlich ineinander über. Der oströmische Kaiser ist der große weltliche Gesetzgeber; er beruft auch Konzilien, erläßt kirchliche Edikte, verdammt Häresien; seine Person und seine Regierung gelten als heilig. Anderseits werden dem Papste und den Bischöfen Italiens von Justinian 554 viele Befugnisse weltlicher Art übertragen: Der Papst wird neben dem Senate mit der Kontrolle der Maße und Gewichte betraut; die Bischöfe wählen gemeinsam mit den angesehensten Grundbesitzern die Statthalter der Provinzen; sie können in die Amtsbefugnisse, besonders in die richterliche Gewalt des Statthalters eingreifen. Dadurch gelangte der Papst, dem die Bischöfe unterstanden, zu großem weltlichen Einfluß. 42
Gregor bringt nie Kirche und Staat in Gegensatz zueinander, sondern immer nur die Kirche Gottes und die sündige Welt; von dieser gehen die Übergriffe aus, wenn solche bei den staatlichen Beamten oder bei den Bischöfen zutage treten. Gregor wacht gewissenhaft und peinlich darüber, daß sie vermieden werden, und hält mit Verweisen nicht zurück, wie seine Briefe bekunden; das gilt auch dem Kaiser Mauritius (582—600) gegenüber. Die Briefe des Papstes an ihn sind äußerst respektvoll gehalten; wo er es aber als seine Pflicht erkennt, so in der Angelegenheit des Exarchen Romanus oder des Patriarchen Johannes Jejunator, schlägt Gregor einen sehr strengen und ernsten Ton an.
Das Ansehen des Papstes und sein Einfluß waren auch deswegen so groß, weil er durch die Mehrung der Güter des apostolischen Stuhles einer der größten, wenn nicht der größte Grundbesitzer in Italien war. Die Kirche besaß schon vor Konstantin kleinere Liegenschaften, die allerdings in der Verfolgungszeit oft gefährdet waren. 321 gab Konstantin der Kirche das Recht, Güter zu erben, und beschenkte sie selbst. Reiche Adelsfamilien ahmten ihm nach. Bald auch ließen die traurigen Verhältnisse den Besitz von Landgütern nicht mehr so wie früher begehrenswert erscheinen. Deshalb verschenkten manche ihre Güter. Auf diese Weise gelangte der päpstliche Stuhl zu großen Besitztümern in Kampanien, Tuscien, Unter- und Oberitalien, auf Sizilien, Korsika, Sardinien, in Dalmatien und Afrika. 43 Mit staunenswerter Vielseitigkeit überwacht und leitet Gregor die Verwaltung dieser Güter, wie uns seine Briefe zeigen. 44 Er legt großes Gewicht auf regelmäßige Abrechnung, auf gerechte Behandlung der Pächter und besonders auf die Verwendung der Einkünfte. Den Armen, der hungernden Bevölkerung Roms, den Klöstern, Armenhäusern, Spitälern und kirchlichen Gebäuden sollten die Erträgnisse an Getreide, Öl, Wein, Wolle und Bauholz vor allem zugute kommen. So wurde die römische Kirche in dieser Zeit zu einem Kornspeicher, der allen offen stand, der Papst selber aber der Hausvater Christi 45 und der große Wohltäter der Armen. „Mit tausend Augen überschaut er wie ein Argus die ganze Welt“ 46 und erfährt auf vielerlei Wegen, wo irgendeine Not der Abhilfe bedarf. Unzählige Stellen der Briefe sagen uns, mit welcher Entschiedenheit, aber auch mit welcher Freigebigkeit und Feinsinnigkeit er vorging. Nur zwei Stellen seien angeführt. An Subdiakon Anthemius schreibt er 591: „Als Du von mir Abschied nahmst, und dann noch bei anderer Gelegenheit habe ich Dir aufgetragen, Dich der Armen anzunehmen und es mir mitzuteilen, wenn Du irgendwo Not wahrnimmst. Das hast Du nur in wenigen Fällen getan. Ich will aber, daß Du der Frau Pateria, meiner Tante, unverzüglich nach Empfang dieses Auftrages zum Unterhalt ihres Gesindes 40 Dukaten und 400 Scheffel Weizen anweisest, der Frau Palatina, der Witwe des Urbicus, 20 Dukaten und 300 Scheffel Weizen, und Frau Viviana, der Witwe des Felix, ebenfalls 20 Dukaten und 300 Scheffel Weizen. Die 80 Dukaten sind in die Rechnung einzusetzen.“ 47 Diakon Cyprian erhält 595 die Anweisung: „Mein Mitbruder, Bischof Zeno, benachrichtigt mich, daß die Leute in seiner Stadt Mangel leiden. Da ich ihnen helfen will, trage ich Dir auf, dem genannten Mitbruder und Bischof 1000 Scheffel Weizen oder, wenn er mehr abführen kann, bis zu 2000 Scheffel anzuweisen. Tu das sofort ohne Verzögerung.“ 48
Das waren in knappen Zügen die weltlichen, politischen und sozialen Verhältnisse, mit denen sich Gregor während seines ganzen Pontifikates befassen mußte. Es ist selbstverständlich, daß ein Mann von so festem Willen und von solcher Gewissenhaftigkeit den inneren Fragen der Kirche erst recht seine Sorgfalt zuwandte.
c. Gregor als Seelenhirte
Schon im Synodalschreiben, das er im Februar 591 an die Patriarchen von Konstantinopel, Alexandrien, Antiochien und Jerusalem und an den Expatriarchen von Antiochien richtet, entwirft er das Bild des Hirten, das er trotz seiner Schwäche verwirklichen will. Der wahre Führer der Gläubigen muß rein sein und in der Tätigkeit