Ein Edelmann aus der Provinz Nursia, der Vater jenes Castorius, der sich jetzt bei uns in Rom aufhält, sah, daß der ehrwürdige Equitius, ohne eine heilige Weihe empfangen zu haben, von Ort zu Ort eilte und mit Eifer das Predigtamt ausübte. Eines Tages nun wagte er es, ihn freundschaftlicherweise darüber zu befragen und sagte: „Du hast keine heilige Weihe und hast auch vom römischen Oberhirten, unter dem du stehst, keine Vollmacht zu predigen erhalten, wie getraust du dich dennoch zu predigen?” Der Heilige sah sich durch diese Frage gezwungen, zu offenbaren, auf welche Weise er die Erlaubnis zu predigen bekommen hatte, und sagte: „Oft muß ich selbst über das, was du sagst, nachdenken. Aber es erschien mir einmal in der Nacht ein schöner Jüngling, der legte ein Aderlaßmesser auf meine Zunge und sagte: ‘Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund; ziehe aus zu predigen!’ Und von jenem Tage an kann ich nicht mehr von Gott schweigen, selbst wenn ich wollte.”
Petrus. Da möchte ich erst ein Wunderwerk von diesem Abte hören, wenn er schon solche Gnadengaben empfangen hat.
Gregorius. Das Wunderwerk, Petrus, kommt von der Gnadengabe, nicht die Gnadengabe von dem Wunderwerk, sonst wäre die Gnade nicht mehr Gnade. Denn jedem Werke gehen Gnaden voraus, wenn auch allerdings die Gnadengaben durch die nachfolgenden Werke neues Wachstum empfangen. Damit du jedoch nicht ohne Kenntnis von seinem Lebenswandel bist, so wisse, daß der hochwürdigste Bischof Albinus von Reate13 ihn gut kannte und daß noch viele leben, die ihn kennen konnten. Warum fragst du aber noch nach einem Wunderwerk, da doch die Reinheit seines Lebens mit seinem Predigteifer übereinstimmte? Denn er besaß einen so großen Eifer, Gott Seelen zu gewinnen, daß er neben der Leitung der Klöster noch die Kirchen, Städte und Dörfer und die Häuser der Gläubigen im ganzen Umkreis besuchte und in den Herzen seiner Zuhörer die Liebe zum himmlischen Vaterlande entzündete. Dabei war er so armselig gekleidet und war so unscheinbar in seinem Auftreten, daß man ihm, wenn man ihn etwa nicht kannte, nicht einmal den Gruß erwidern mochte, So oft er sich nach auswärts begab, ritt er das schlechteste von allen Tieren, das im Kloster zu finden war; dabei benützte er die Halfter als Zaumzeug und ein Hammel feil als Sattel. Die heiligen Bücher führte er an seinem eigenen Leibe mit sich und trug sie rechts und links in Taschen aus Fell; sowie er irgendwo hinkam, erschloß er den Quell der heiligen Schriften und bewässerte die geistigen Gefilde. Natürlich drang die Kunde von seinen Predigten auch nach Rom; und wie nun einmal die Schmeichlerzunge die Seele dessen, der ihr sein Ohr leiht, zu umgarnen und zu töten weiß, so beklagten sich damals die Kleriker dieses apostolischen Stuhles schmeichlerischer Weise beim Papste und sagten: „Wer ist denn dieser Bauer, der die Befugnis zu predigen sich herausnimmt und das Amt unseres apostolischen Herrn sich anzumaßen wagt, ohne daß er etwas gelernt hat? Man soll darum, wenn es so beliebt, jemand hinschicken und ihn hierher bringen lassen, damit er einen Begriff von Kirchenzucht bekomme!” Wie nun in der Regel die Schmeichelei bei einem vielbeschäftigten Geiste sehr leicht Eingang findet, wenn sie nicht schon an der Schwelle des Herzens schleunigst abgewiesen wird, so stimmte der Papst dem Rat der Kleriker bei, daß man den Equitius nach Rom bringen müsse, damit er lerne, was sich für ihn gezieme. Er betraute mit dieser Sendung den damaligen Defensor14 Julianus, der später Bischof von Sabina wurde, trug ihm jedoch auf, den Diener Gottes auf sehr ehrenvolle Weise hierherzuführen und ihm aus dem Beschluß keinerlei Kränkung entstehen zu lassen. Um den Wunsch der Kleriker bezüglich des Equitius zu erfüllen, brach er eilends nach dessen Kloster auf. Der Gesuchte war gerade nicht zu Hause. Julianus fand aber die Bücherschreiber über ihrer Arbeit und erkundigte sich, wo der Abt sei. Sie sagten: „Dort unten im Tal, unterhalb des Klosters, mäht er Gras.” Es hatte aber Julianus einen sehr hochmütigen und trotzigen Diener, über den er oft selbst kaum Herr werden konnte. Diesen also schickte er fort, den Equitius so schnell wie möglich herbeizuholen. Der Diener machte sich auf den Weg und betrat keck und eiligen Schrittes die Wiese. Er musterte mit seinem Blicke alle Mäher und fragte, wer von ihnen Equitius sei. Kaum aber hatte er gehört, welcher es sei, und ihn von weitem angesehen, ergriff ihn eine ungeheure Furcht, und es befiel ihn ein Zittern und eine solche Schwäche, daß er sich schwankenden Fußes kaum aufrecht halten konnte. Zitternd nahte er sich dem Manne Gottes, umfing demütig unter Küssen seine Knie und meldete ihm, daß sein Herr zu ihm gekommen sei. Der Diener Gottes erwiderte seinen Gruß und befahl ihm: „Nimm von dem frischen Gras und füttere damit die Tiere, auf denen ihr hergeritten seid! Ich werde, da nur mehr wenig steht, die Arbeit vollenden und dann nachkommen.” Der Defensor Julianus wunderte sich gar sehr, daß sein Diener so lange nicht zurückkehrte. Doch endlich, sieh, da sah er ihn kommen und Gras von der Wiese dahertragen. Darob wurde er sehr aufgeregt und herrschte ihn an: „Was ist denn das? Ich habe dich fortgeschickt, den Mann zu bringen, und nicht Gras!” Der Diener antwortete darauf: „Siehe, der, den du suchst, kommt nach mir gegangen.” Da kam der Mann Gottes, mit genagelten Stiefeln angetan und mit der Sense auf der Schulter. Als er noch weit entfernt war, zeigte der Diener auf ihn und sagte seinem Herrn, dieser sei es, den er suche. Auf den ersten Anblick dachte Julianus gering von dem Diener Gottes wegen seines Äußeren und legte sich hochfahrend schon die Worte zurecht, mit denen er ihn anreden wollte. Der Diener Gottes war aber kaum näher gekommen, da befiel Julianus auch schon ein unerträglicher Schrecken, so daß er zitterte und kaum das Wort finden konnte, um zu sagen, wozu er gekommen sei. Gedemütigten Sinnes fiel er ihm zu Füßen, bat ihn um sein Gebet und berichtete, sein apostolischer Vater, der Papst, trage Verlangen, ihn zu sehen. Equitius, der ehrwürdige Mann, sprach dafür Gott, dem Allmächtigen, unendlichen Dank aus und versicherte, in dem Papste habe ihn die göttliche Gnade einer Heimsuchung gewürdigt. Auf der Stelle berief er die Brüder zu sich, ließ in derselben Stunde noch die Reittiere in Bereitschaft setzen und drängte seinen Exekutor energisch zu augenblicklicher Abreise. Julianus aber wendete ein: „Das geht nicht an, denn ich bin noch müde von der Reise und kann heute nicht mehr aufbrechen.” Darauf erwiderte Equitius: „Ach, du machst mich traurig, mein Sohn, denn wenn wir heute nicht mehr fortgehen, kommen wir auch morgen nicht mehr zur Abreise.” So verblieb also der Diener Gottes, durch die Müdigkeit seines Exekutors genötigt, diese Nacht noch in seinem Kloster. Aber siehe! Am folgenden Tage kam beim Morgengrauen auf einem durch den Ritt ganz abgehetzten Pferde ein Diener mit einem Brief zu Julianus; in dem Briefe wurde ihm aufgetragen, den Diener Gottes nicht zu belästigen und ihn nicht vom Kloster fortzunehmen. Als nun Julianus fragte, warum der Auftrag geändert worden sei, erfuhr er, daß in derselben Nacht, in der er als Exekutor abgeschickt wurde, der Papst durch eine Erscheinung lebhaft darüber in Schrecken versetzt worden sei, daß er sich unterfangen habe, den Mann Gottes herbeiholen zu lassen. Sogleich erhob sich Julianus, empfahl sich in das Gebet des ehrwürdigen Mannes und sagte: „Unser Vater bittet, ihr sollet euch nicht weiter mehr bemühen.” Als der Diener Gottes dies vernahm, wurde er traurig und sagte: „Habe ich es dir nicht gestern gesagt, daß wir überhaupt nicht reisen dürfen, wenn wir nicht sogleich aufbrechen?” Darnach hielt er seinen Exekutor zum Erweise der Gastfreundschaft noch eine Weile im Kloster zurück und nötigte ihn trotz seines Sträubens einen Lohn für seine Bemühung anzunehmen. Erkenne also, Petrus, wie sehr diejenigen unter dem Schutze Gottes stehen, die gelernt haben, in diesem Leben sich selbst gering zu achten; welches Reiches Bürgern diejenigen in Ehren innerlich beigezählt werden, die sich nichts daraus machen, nach außen vor den Menschen gering zu scheinen, daß dagegen in den Augen Gottes diejenigen wenig gelten, welche in ihren eigenen Augen und vor den Augen der Mitmenschen aus eitler Ruhmsucht sich groß tun! Darum gilt gar manchen das Wort der ewigen Wahrheit: „Ihr rechtfertiget euch wohl vor den Menschen, aber Gott kennt eure Herzen; denn was hoch ist vor den Menschen, das ist ein Greuel vor Gott.”15
Petrus. Ich muß mich sehr darüber wundern, daß einem so großen Papste dieser Irrtum über den großen Mann unterlaufen