Petrus. Hat wohl dieser ausgezeichnete Mann früher selbst, um später Schülern ein Lehrmeister zu werden, einen Lehrer gehabt?
Gregorius. Ich habe nie das Geringste davon gehört, daß er je eines anderen Schüler gewesen sei; doch die Gabe des Hl. Geistes unterliegt keinem Gesetze. Es gilt zwar im geistlichen Leben als Regel, daß keiner es wage, Vorsteher zu sein, der nicht gelernt hat, Untergebener zu sein, oder daß einer nicht von den Untergebenen Gehorsam verlange, den er nicht selbst den Oberen zu leisten weiß. Es gibt jedoch manche, die innerlich so durch die Schule des Hl. Geistes unterwiesen werden, daß ihnen trotz des äußeren Mangels einer menschlichen Schule die Eigenschaft eines innerlichen Lehrers nicht abgeht; doch darf dieser freie Zug im Leben solcher Männer nicht von Schwachen nachgeahmt werden, damit nicht jeder wähne, er sei vom Hl. Geiste erfüllt, und es so verschmäht, eines Menschen Schüler zu sein und dafür ein Lehrer des Irrtums wird. Eine Seele aber, die des göttlichen Geistes voll ist, trägt klare Anzeichen an sich, Tugendkraft nämlich und Demut. Finden sich beide in vollkommenem Grade in einer Seele vereinigt, legen sie ohne Zweifel Zeugnis ab von der Gegenwart des Hl. Geistes. So liest man auch nichts davon, daß Johannes der Täufer einen Lehrmeister gehabt habe. Auch hat die Wahrheit selbst, die in leiblicher Gegenwart die Apostel lehrte, ihn dem Leibe nach nicht den Jüngern beigesellt; sie unterwies ihn vielmehr auf innerliche Art und überließ ihn sozusagen nach außen seiner Freiheit. So wurde Moses in der Wüste von einem Engel geleitet und erhielt von ihm, nicht von einem Menschen, seine Weisung.3 Doch soll, wie gesagt, dies für die Schwachen ein Gegenstand der Verehrung, nicht der Nachahmung sein.
Petrus. Was du sagst, ist sehr schön; aber bitte, sage mir auch, ob dieser große Abt auch einen Schüler hinterließ, der in seine Fußstapfen trat!
II. Kapitel: Von Libertinus, dem Prior4 jenes Klosters
Gregorius. Libertinus, ein gar ehrwürdiger Mann, der zur Zeit des Gotenkönigs Totila Prior des Klosters zu Fundi war, lebte und erhielt seine Ausbildung unter der Leitung des Honoratus. Obwohl schon vielerseits seine zahlreichen Wundertaten erzählt und verbreitet wurden, berichtete mir doch der erwähnte fromme Laurentius, der noch am Leben ist und ehedem sehr vertraut mit dem Heiligen war, vieles von ihm. Aus dem, was ich davon in Erinnerung habe, will ich einiges erzählen.
Er machte einmal in der oben genannten Provinz Samnium für das Kloster eine Reise. Da kam der Gotenanführer Darida mit seinem Heere desselben Weges, und dessen Leute rissen den Diener Gottes vom Reitpferde herab. Er ertrug willig den Verlust des Tieres und gab den Plünderern auch noch die Peitsche, die er in der Hand hielt, mit den Worten: „Nehmet sie nur, damit ihr doch etwas habet, um das Pferd antreiben zu können!” So wie er dies gesagt, begann er zu beten. In eiligem Ritte kam die Schar des Anführers an einen Fluß mit Namen Vulturnus. Sie stießen dort mit den Lanzen auf die Pferde ein und verwundeten sie mit den Sporen bis aufs Blut. Die Pferde wurden durch die Stöße und Verwundungen zwar erschöpft, waren aber nicht von der Stelle zu bringen; sie fürchteten sich, ins Wasser zu gehen, wie vor einem tödlichen Sprung. Als nun die Reiter selbst vom langen Zuschlagen müde waren, bemerkte einer aus ihnen, daß sie wegen der Unbill, die sie dem Diener Gottes unterwegs zugefügt hätten, jetzt auf dem Marsche so aufgehalten würden. Sie kehrten sogleich zurück und fanden Libertinus im Gebete auf den Boden hingestreckt. Sie sagten zu ihm: „Stehe auf und nimm dein Pferd wieder!” Er aber antwortete: „Gehet in Frieden, ich habe das Pferd nicht nötig!” Da saßen sie ab, hoben ihn wider seinen Willen auf das Pferd, von dem sie ihn heruntergezogen hatten, und ritten eiligst von dannen. Ihre Pferde gingen nun so leicht über den Fluß, den sie vorher nicht hatten überschreiten können, wie wenn das Flußbett ohne Wasser gewesen wäre. So wurde also dadurch, daß der Diener Gottes sein Pferd zurückerhielt, einem jeden von ihnen das seinige wiedergegeben.
Zur selben Zeit fiel Buccelinus5 mit seinen Franken in Kampanien ein. Über das Kloster unseres Dieners Gottes ging das Gerücht, daß es viel Geld besitze. Die Franken drangen deshalb in die Kirche ein, suchten wütend nach Libertinus und schrien immer „Libertinus!” gerade da, wo dieser betend am Boden lag. Ein wahrhaft wunderbarer Vorgang: Die Franken suchen und wüten, dringen ein, stoßen schon auf der Schwelle auf ihn und können ihn doch nicht sehen. So wurden sie in ihrer Blindheit irregeführt und kehrten mit leeren Händen wieder um.
Ein andermal wieder reiste er in Sachen des Klosters und im Auftrage des Abtes, der seines Lehrers Honoratus Nachfolger war, nach Ravenna. Aus Liebe zu diesem ehrwürdigen Honoratus pflegte Libertinus überall, wohin er ging, einen Schuh desselben bei sich zu tragen. Während er so des Weges zog, siehe, da brachte eine Frau den Leichnam ihres Sohnes daher. Als sie den Diener Gottes sah, loderte die Liebe zu ihrem Kinde aufs neue auf, und sie ergriff sein Pferd am Zügel und beschwor ihn: „Oh, du darfst mir nicht weiterziehen, ehe du meinen Sohn wieder lebendig gemacht hast!” Es schien ihm ein solches Wunder zu außerordentlich, und er erschrak über ihre Bitte. Er wollte der Frau ausweichen; da ihm dies aber nicht gelang, wußte er nicht, was er tun sollte. Nun können wir uns vorstellen, welch ein harter Streit in seiner Seele entstand. Denn hier stritten miteinander die Demut seines Wandels und das Mitleid mit der Mutter; auf der einen Seite die Angst, er könnte sich etwas Ungewohntes anmaßen, auf der andern Seite der Schmerz, er müsse der armen Frau seine Hilfe versagen. Aber zur größeren Ehre Gottes gewann das Mitleid den Sieg über das tugendhafte Herz, das gerade dadurch sich stark erwies, daß es sich besiegen ließ; denn es wäre kein tugendhaftes Herz gewesen, wenn es dem Mitleid nicht nachgegeben hätte. So stieg er also ab, kniete nieder, erhob seine Hände gegen den Himmel, nahm dann den Schuh aus seinem Busen und legte ihn dem toten Knaben auf die Brust. Und während er betete, kehrte die Seele des Knaben in den Körper zurück. Er nahm ihn bei der Hand und gab ihn der weinenden Mutter lebend zurück. Hierauf setzte er seinen Weg fort.
Petrus. Was sollen wir nun dazu sagen? Wirkte dieses Wunder das Verdienst des Honoratus oder das Gebet des Libertinus?
Gregorius. Bei diesem großen Wunder traf mit dem Glauben der Frau der beiden Männer Wunderkraft zusammen, und darum glaube ich, Libertinus habe deshalb solches vermocht, weil er gelernt hatte, mehr auf die Kraft des Meisters als auf seine eigene zu bauen. Indem er nämlich dem toten Knaben den Schuh des Honoratus auf die Brust legte, dachte er, daß dessen Seele die Erhörung seiner Bitte erlangen werde. Denn auch Elisäus trug den Mantel seines Meisters, kam an den Jordan und schlug damit einmal in das Wasser, aber es teilte sich nicht. Doch als er gleich darauf sagte: „Wo ist denn jetzt der Gott des Elias?”6 und den Fluß mit dem Mantel des Meisters schlug, da bahnte er einen Weg mitten durch das Wasser. Siehst du nun, Petrus, wieviel bei Wunderzeichen die Demut vermag? Dann erst konnte er des Meisters Kraft ausüben, als er dessen Namen nannte. Denn dadurch, daß er zur Demut gegen den Meister zurückkehrte, konnte er tun, was der Meister getan.
Petrus. Jetzt verstehe ich; doch, ich bitte, weißt du noch mehr von ihm zu unserer Erbauung zu erzählen?
Gregorius. Gewiß, vorausgesetzt, daß es Nachahmer findet. Denn ich für meinen Teil schätze die Tugend der Geduld höher als Zeichen und Wunder. Eines Tages also wurde der Amtsnachfolger des ehrwürdigen Honoratus gegen unsern ehrwürdigen Libertinus sehr zornig, so zwar, daß er ihn mit den Händen schlug. Da er keinen Stock zum Schlagen finden konnte, griff er nach einem Fußschemel und schlug ihn damit auf den Kopf und in das Gesicht, so daß das ganze Antlitz geschwollen und blau wurde. Stillschweigend suchte Libertinus, so übel er zugerichtet, sein Lager auf. Es war aber auf den andern Tag in einer Klostersache