Leopold Kohr hatte in der Schule mit Griechisch die größten Schwierigkeiten und man empfahl von Schulseite daher seinem Vater, einem Arzt, Kohr doch besser Schlosser lernen zu lassen. Später dann freilich war für Kohr Griechenland, waren insbesondere die kleinen griechischen Stadtstaaten mit ihren kleinen Philosophen, waren also sozusagen die Devianzler die unversiegbare Schatzquelle, aus der er beständig seine historisch-anekdotischen Beispiele für Autonomie und Autarkie, also für Unabhängigkeit und Selbstversorgung, schöpfte. Ob Kohrs Überlegungen fürs heutige Griechenland eine Hilfe sein könnten oder etwa gar für die spanischen Podemos-Leute, scheint mir persönlich aber mehr als fraglich, obwohl Kohr seinen Anarchismus ja angeblich bei den spanischen Anarchisten gelernt hat. Wenn ich – Schmäh ohne – beispielsweise ein Augustin-Exemplar durchblättere oder Robert Sommers jüngstes Büchl Wie der Rand am Rand bleibt oder die mehr als ein Vierteljahrhundert alte Aktionsradius-Augarten-Büchlbroschüre Vom Grund. Stadtteilarbeit im Wiener Augartenviertel, lerne ich persönlich mehr daraus, als wenn ich in Kohrs Büchern vertieft lese. Zugleich aber gehe ich jede Wette darauf ein, dass genau das im Sinne Kohrs ist. Die Sache ist meiner Meinung überhaupt ganz einfach: Kohr war fürs Leben und Leben-Lassen und gegen alles Aufgeblasene. Man sollte ihn selber also auch nicht aufblasen. Seine Grunderkenntnis ist wertvoll genug.
Dass sie sowohl rechts als auch links und alternativ verwendet wurde, in Österreich weit mehr rechts als links, sollte nicht vergessen machen, wohin Kohr eigentlich gehört, nämlich nach Cuernavaca. In die mexikanische Stadt des, wie man sagt, ewigen Frühlings, die indianisch übersetzt Bei den Bäumen heißt und in der Ivan Illich und zum Beispiel auch Paulo Freire und vor allem auch Erich Fromm gelebt und gewirkt haben. Zusammen. Kohr war meines Wissens zwar nie selber dort und in den Büchern von Kohr und über Kohr kommen Cuernavaca und vor allem der linke Sozialpsychologe Erich Fromm mit seiner ständigen individualmenschlichen Grundentscheidung zwischen der Liebe zum Leben und der Liebe zum Tod zwar nie vor. Aber das heißt vielleicht bloß, dass das wirklich Sozialpsychologische und das wirklich Linke und das wirklich Brauchbare und das wirklich Befreiende des Leopold Kohr bislang noch immer unerforscht sind.
Für demonstrierende Studenten allerdings scheint Kohr nicht viel übrig gehabt zu haben, die sollten, meinte er in etwa, stattdessen studieren und etwas arbeiten. Ich weiß nicht, ob er das ernst gemeint hat. Jedenfalls hat er andererseits auch geäußert, dass man Unizugänge nicht sperren, sondern für die vielen Studierenden viele neue kleine Unis bauen solle. Und zu den Studierenden hat er gesagt, sie sollen sich nicht für Machtpositionen interessieren, weil die Macht eben nichts wert sei und dumm mache.
Was vom bereits erwähnten Staatsroman Kohrs im Nachlass vorhanden ist, darüber schweigen wie gesagt offensichtlich die Nachlassverwalter. Und so inspirierend wie gesagt die Übersetzungen und Biographien zu Kohr auch sein mögen, mitunter stimmt was nicht. Zum Beispiel wenn Kohr Gutmensch gesagt haben soll. Hat er sicher nicht. Darauf wette ich. Als das Wort aufkam, war er selber nämlich schon ein paar Jahre tot und war sein aus dem Englischen jetzt seit wenigen Jahren neu übersetztes Schriftstück, in dem er das Wort Gutmenschen verwendet haben soll, im Original schon Jahrzehnte alt. Und auch dass Kohr die ideale Größe von Staaten mit maximal 8 Millionen Einwohnern beziffert haben soll, wie sein Biograph einmal schreibt, stimmt so nicht: die maximale Kohrzahl lautet in Wahrheit vielmehr 15 Millionen. Österreich ist daher wie gesagt ein Kohrscher Ideal- und Optimalstaat. Den Möglichkeiten nach. Nach wie vor. Obwohl die von Kohr dazumal als vorbildlich genannten, Österreich ähnlichen, Kleinstaaten wie die Schweiz, Liechtenstein oder Luxemburg inzwischen vor Wirtschaftskriminalität strotzen und gleichsam als zentraleuropäische Karibikinseln des Finanzverbrechertums gelten.
Ausgerechnet beim die von Kohr bewunderte Schweiz nicht ertragenden Schweizer Managerkritiker und Whistleblower Hans Pestalozzi übrigens kann man viel von dem realisiert finden, was Kohr und Fritz Schumacher gesagt, gemeint, gewollt und probiert haben. Und zwar gründlicher als Kohr und Schumacher ist Hans Pestalozzi die Sache angegangen. Und hat auch ins Gras gebissen dabei. Das österreichische Sozialstaatsvolksbegehren des Jahres 2002 tat das auch. Trotz 717.000 Unterschriften. Und zwar musste es deshalb ins Gras beißen, weil es im Parlament nicht behandelt wurde. Und zwar deshalb wurde es nicht parlamentarisch behandelt, weil infolge von Haiders Knittelfelder Putsch die österreichische Regierung und das Parlament aufgelöst und Neuwahlen ausgeschrieben wurden. Und vor allem auch deshalb nicht, weil der rote damalige Nationalratspräsident, das jetzige Staatsoberhaupt, ein Verfassungsjurist, darauf vergaß oder es unterließ, einen Beharrungsbeschluss zu fassen. Daher nützte das sehr wohl erfolgreiche Sozialstaatsvolksbegehren – ganz genau so, wie der schwarze Lopatka in Graz-Mariatrost vorausgesagt hatte – nicht viel.
Da das erfolgreich erfolgte außerparlamentarische Sozialstaatsvolksbegehren unter anderem durch vorzeitige Parlamentsauflösung und per Formalfehler des Parlamentspräsidenten sozusagen torpediert und sabotiert wurde, sollte man es mithilfe einer neuerlichen Sozialstaatsvolksbegehrensbewegung samt amtlicher Unterschriftsleistung wiederholen. Das wäre garantiert im Sinne Leopold Kohrs.
Leopold Kohr – Small is beautiful, Aktionsradius Wien
Intervention 14. September 2015
Hans Pestalozzi war Spitzenmanager des Schweizer Migros-Konzerns, welcher später dann, nach Pestalozzis Hinauswurf, den pleitegegangenen roten Konsum Österreich hätte retten sollen, aber nicht wollte. Der gelernte Wirtschaftswissenschaftler Pestalozzi war die rechte Hand seines Ziehvaters Duttweiler, dessen Genossenschaftskonzern Migros eigentlich den Dritten Weg zwischen Kapitalismus und Staatssozialismus hätte gehen sollen und dies bis zum Tod Duttweilers auch tat. Für Duttweiler war das Ziel nicht Wirtschaftswachstum gewesen, sondern die Demokratisierung der Schweizer Wirtschaft und das Lösen elementarer gesellschaftlicher Probleme, nämlich die gesicherte, faire und ausreichende Grundversorgung. Pestalozzi (geboren 1929, verstorben 2004) veranstaltete in diesem Duttweilerschen Sinne und in Analogie zum Prager Frühling einen Migros-Frühling. Und unterlag damit endgültig seinen konzerninternen Konkurrenten. Ein Schweizer Spitzenmanager einer Bank sagte einmal zu ihm, würde diese seine Bank bei ihren Geschäften ethische Verantwortung übernehmen, hätte das für die Schweiz Massenarbeitslosigkeit zur Folge. Und der in der BRD dazumal wichtigste Headhunter sagte zu Pestalozzi, damit die Wirtschaft weiter florieren könne, brauche es endlich wieder einen Krieg; besagter sich neuen Krieg wünschender Headhunter bezeichnete sich selbst als Psychotherapeuten, da ohne ihn so viele Spitzenmanager den modernen wirtschaftlichen Realitäten nie und nimmer gewachsen wären.
Bleierne Zeit. Zerstörung der Vernunft. Angriff auf das Herz des Staates. [...] es fallen / Die leidenden Menschen / Blindlings von einer / Stunde zur andern, / Wie Wasser von Klippe /Zu Klippe geworfen, / Jahr lang ins Ungewisse hinab. Diese Schicksalsverse stammen ebenso wie der Begriff bleierne Zeit, wie vielen von Ihnen, sehr verehrte Damen und Herren, vielleicht ohnehin bekannt, von Hölderlin. Sein Versreflex auf die bleierne Zeit, in der er existierte und in der von rabiater Machthaberseite das legendäre Machtwort geprägt wurde, dass Politik Schicksal sei, lautet bekanntlich: Komm! ins Offene, Freund!
Ich erfinde nichts, ich erzähle nur weiter: Ein Lehrer, somit ein Ausübender eines helfenden Berufes, sagte zu mir vor kurzem, das größte Problem in der Schule, in der Mittelschule, im Gymnasium, an dem er unterrichte, aber überhaupt das schulische Grundproblem, seien seiner Meinung nach die Entwertungen. Die Stoffe und Inhalte seien sowieso schon lange keine Wertgegenstände mehr. Die Kinder selber und die Lehrenden selber werden aber genauso immer weniger wertgeschätzt. Auf die Weise gehe zwangsläufig alles kaputt. Und das Lernen selber habe erst recht keinen Wert mehr. Vor allem werden die Probleme, welche die Kinder und Jugendlichen haben, sagte er, ganz gewiss nicht gelöst, sondern das werde von Jahr zu Jahr und von Klasse zu Klasse aufgeschoben. Und die Konzentrationsfähigkeit sei nun einmal sowieso futsch, sowohl bei den Kindern als auch bei den Lehrern. Der Horizont ebenfalls. Statt Substanz gebe es zusehends nur mehr Virtualität. Alles müsse schnell gehen, damit es ja niemandem langweilig oder bange wird. Er könne das alles nicht mehr ernst nehmen. Man setze sich mit nichts und niemandem mehr wirklich auseinander, da nichts und niemand, meinte er, mehr wichtig genug oder gar als kostbar erscheint. Das seien eigentlich alles gegenseitige Grundrechtsverletzungen,