Triage. Eigentlich heißt das bloß Ausschuss, z. B. beim Kaffee. Aber es sind Menschenleben. Triage: Man hilft in Katastrophensituationen, bei akutem Ressourcenmangel der Helfer denen, die noch am ehesten eine Chance haben. Triage: Zuerst die, die nicht mehr schreien, dann die, die schreien, dann der Rest. Diese Regel gibt es auch. Aber die ist sehr schnell für Arsch und Friedrich. Der Sozialstaat ist dafür da, dass es in Notsituationen nicht dazu kommt, dass den einen geholfen wird und den anderen nicht. Der Sozialstaat ist also das Gegenteil von Triage und Selektion. Die Regel ›Leben gegen Leben‹ muss nicht angewendet werden. Der Sozialstaat ist auch dafür da, dass es zu bestimmten Notsituationen gar nicht erst kommt.
Menschen, egal wen, in Zwangs- und Notsituationen zu erleben, war dem von mir eingangs wegen seiner Aufforderung, akkurat über das zu reden, worüber üblicherweise nicht geredet wird, erwähnten Pierre Bourdieu laut eigenen Angaben unerträglich. Bourdieu (geboren 1930, gestorben 2002) hat den Sozialstaat als Erzeugnis der Evolution erachtet, sozusagen als das Beste, was es bisher unter Menschen gab. Entstanden durchaus aus Zufällen, Glücksfällen, die als solche erkannt, geschätzt, geschützt wurden und zugleich aber das Ergebnis unglaublicher, schrecklicher Kämpfe waren. Daher dürfe der Sozialstaat ja nicht von neuem dem Zufall preisgegeben werden. Ja nicht diesen furchtbaren Preis von neuem zahlen müssen, nämlich das Insgesamt der menschlichen Qual, seit es uns gibt. Kleine soziale Wunder, Kostbarkeiten – Bourdieu nannte die Menschengruppen, die für den Sozialstaat kämpfen, so, die Bewegungen, Hilfseinrichtungen, NGOs, und den Sozialstaat nannte er mitfühlenden Staat.
Bert Brecht hat einmal in etwa gedichtet, wer keinen Ausweg weiß, soll schweigen, auf dass er die allgemeine Verwirrung nicht noch mehr steigere. Vielleicht meinen Sie, sehr verehrte Damen und Herren, ich solle mich insofern augenblicklich an Brecht halten und den Mund halten. Das Blöde bei mir ist freilich, dass ich weiß, dass die Auswege auf Schritt und Tritt zutage treten, und zwar deshalb tun die das, weil wir hier in Österreich im Moment noch in einer sozial- und rechtsstaatlichen Demokratie leben, freilich nur insofern wir sie in Verwendung nehmen und halten.
Auf alle, die von der Macht ausgeschlossen sind und deshalb den Illusionen der Macht nicht erliegen, hoffte Pierre Bourdieu. Auf aufbegehrende autonomie- und verantwortungsbewusste WissenschaftlerInnen, KünstlerInnen und Jugendliche sowieso sowie zuvorderst auf diejenigen Berufshelferinnen und Berufshelfer, die in Ausübung ihrer Berufspflicht von Rechts wegen sich durch nichts und niemanden von ihren Schutzbefohlenen trennen lassen. In Bourdieus Augen ist freilich das Berufsgeheimnis das vielleicht größte Problem. Denn dadurch ändere sich nie etwas. Für die Ausübenden der helfenden Berufe zum Beispiel. – Zitat Bourdieu: Die Lähmung der Gesellschaft funktioniert über das Berufsgeheimnis. Dass man sich weder ein- noch aussperren lassen darf, sagte er auch, und dass das das Gegenteil von Mittäterschaft sei.
Die Teammenschen Werner Vogt, Fritz Orter, Markus Marterbauer haben sich stets und erfolgreich dagegen zur Wehr gesetzt, zu Mittätern oder Mitwissern zu werden. Gemeinsam mit anderen und mithilfe der Öffentlichkeit und in Ausübung ihrer Berufspflichten haben sie das jeweils zustande gebracht. Marterbauer beispielsweise gehörte zu denen, die Jahre vor der Katastrophe öffentlich vor dem sich abzeichnenden Platzen der Immobilienblase und einer daraus folgenden Weltwirtschaftskrise gewarnt haben. Marterbauer bleibt von Berufs wegen – auch jetzt in der Weltwirtschaftskrise – lieber bei der Wahrheitsfindung. Zu dem, was entbluffenderweise wahr ist, gehört, wenn ich richtig verstanden habe, unter anderem, dass der EU-weit angeblich vorbildliche Rückgang der Arbeitslosigkeit in der BRD statistisch in hohem Maße damit zusammenhängt, dass die Arbeitslosen der BRD sozusagen gerade eben in Pension gegangen sind oder gehen. Zur Wahrheit gehört entbluffenderweise des Weiteren beispielsweise auch, dass eine eventuelle Gefährdung des Industriestandortes Österreich, wenn überhaupt, dann am ehesten davon ihren Ausgang nehmen würde, dass österreichische Unternehmen ihre Exportgewinne nicht in die eigenen Unternehmen, nicht in die Fachkräftenachwuchsausbildung und nicht in die Löhne ihrer Arbeiter und Angestellten investieren, sondern für Dividendenausschüttungen und Börsengeschäfte verwenden. Zur Wahrheit gehört entbluffenderweise ebenfalls, dass in Österreich die Lohnnebenkosten keineswegs wie immer behauptet im Vergleich mit anderen Volkswirtschaften viel zu hoch sind, sondern dass die Lohnnebenkosten in Österreich anders berechnet werden als sonst wo, indem nämlich bei uns das Urlaubs- und Weihnachtsgeld den Lohnnebenkosten zugezählt wird und sich hingegen bei üblich richtiger Berechnung eine Zahl unter dem EU-Durchschnitt ergeben würde. Zur Wahrheit gehört vor allem auch, dass jetzt in der Weltwirtschaftskrise der Sozialstaat tatsächlich Millionen Arbeitsplätze gerettet hat und die Massenarmut verhindert und dass wir uns andererseits bei denen verschulden, die wir retten, nämlich bei den Banken und Finanzmärkten, währenddessen allein schon mit einem Zehntel des für die Banken- und Finanzmarktrettungen aufgewandten Betrages die Jugendarbeitslosigkeit europaweit zumindest halbiert werden könnte.
So kann man die Dinge also auch sehen, sobald man DOLUS und VIS (also List und Willkür, die Gewalt und den Betrug) nicht akzeptiert. Apropos: Werner Vogt hat einmal etwas ins Leben gerufen, das er Aktion unschuldiger Blick nannte. Was auch immer dieser unschuldige Blick sein mag, Fritz Orter, der den Fernsehzuschauern stets von den Opfern berichtet hat, damit den Opfern geholfen wird, und vom Krieg, damit der Krieg aufhört, redet einer öffentlichen korrekten, sorgfältig sorgsamen Berichterstattung das Wort, die es binnen kürzester Zeit nicht mehr geben werde, es sei denn, es gelänge ihr immer wieder, den Lauf der obrigkeitlichen Dinge zu durchbrechen, zum Beispiel mit Fragen. Nur zu also, sehr verehrte Damen und Herren, am heutigen Auswege-Abend, der (unverzichtbar durch Sie) so sein wird, wie er heißt.
Vom Helfen und vom Wohlergehen oder Wie die Politik neu und besser erfunden werden kann, Steirische Gesellschaft für Kulturpolitik, Kultur in Graz und Raisons d’agir Graz – Steiermark
Intervention 29. Mai 2015
Groß A) Machiavelli wurde sechsmal hingerichtet. Zum Schein zwar jedes Mal, aber das hat er nie gewusst. Man hat ihn sechsmal erhängt, stieß ihn mit dem Strick um den Hals hinunter, fing ihn dann im letzten Moment auf. Er schrieb sodann nur mehr über Sex and Crime. Über Crime in seinen politischen ratgebenden Schriften an die Eliten. Über Sex in seinen Stücken, für die er einem größeren Publikum, dem Volke eben, bekannt wurde. Manche meinen heutzutage, es sei Verantwortungsethik, was er betrieben habe, und Ideologiekritik; manche, es sei voller Ironie und Spott gegen die skrupellos Mächtigen, für die er arbeitete und die mit ihm machen konnten, was sie wollten. Über sie habe er erzählt, wie sie wirklich sind. Hat sie kennengelernt, die Fürsten, Führer, Kaiser, Könige, Päpste, Bischöfe, persönlich, die Residenzen, die Städte und das Volk. Ohne VIS und DOLUS, ohne Gewalt und Betrug, gehe gar nichts. Jederzeit muss man damit rechnen und dazu bereit sein. Laut Machiavelli. Sein eigener Stadtstaat war für ihn das Wichtigste. Und daher das eigene Militär das Um und Auf. Selbiges baute er auf. Das war sein Stolz. Machiavellis Söhne sollen schwer erziehbar gewesen sein. Des Weiteren pflegte er seine Frau zu betrügen, sie packte ihrem Herrn Gesandten weiterhin die Socken für die Reise ein oder schickte ihm seine Wäsche nach. Machiavelli ist wie gesagt offensichtlich zuvorderst durch mehrmals angedrohten Genickbruch Politologe geworden. Was man von Machiavelli lernen kann, z. B. in den Ausbildungen der Manager aller Art, ist mir ein Rätsel. Legte man Maßstäbe an wie die des Schweizer Psychoanalytikers Arno Gruen, dann wäre der Schlüssel zu Machiavelli und den Seinen der Mechanismus der Identifikation mit dem Aggressor. In Gruens Augen ist dieser Mechanismus heutzutage allgegenwärtig. Und das Problem sind laut Gruen nicht irgendwelche Bösen und irgendein Böses, sondern die Guten, die das, was geschieht, geschehen lassen.
Groß B) Durch das Reden ersparen wir uns das Sterben. Wir lassen da nämlich unsere falschen Sätze an unser statt untergehen. Sind wie Affen, die von Baum zu Baum springen; ist der Satz, den der Affe tut, falsch, dann ist der Affe auf der Stelle tot oder bald. Für Karl Popper ist das die Funktion der Sprache. Diese Ansicht teile ich. Reden erspart Leid. Könnte.
Groß C) Vor einigen Monaten nahm ich nebenbei Folgendes wahr: In einer Kinderecke in einem Lokal hat ein Kind, allein mit sich, gut eine Stunde lang Folgendes