Des Weiteren kann ich mich an eine große, dichtbesuchte Alternativveranstaltung in Graz erinnern, im Forum Stadtpark, vor einigen Jahren, ich weiß nicht mehr, ob bei Elevate- oder bei Crossroads-Tagen. Ich weiß nur mehr, dass draußen Regenwetter war. Ein junger Mann hat damals gesagt, an der Uni werde ihnen das Falsche beigebracht. Man bringe ihnen eigentlich nur ein Puzzle bei. Und bei dem Puzzle auch nur, wie man es falsch zusammenfügt. In Wirklichkeit könnte man das Puzzle aber ganz anders zusammensetzen, hat er gemeint.
Des Weiteren sagte vor ein paar Monaten jemand, der seit Jahrzehnten im, wie man so sagt, leitenden Management der helfenden Berufe tätig ist, neben vielem anderen als Supervisor respektive Ausbildner und mir persönlich weder vertraut noch näher bekannt, zu meiner verdutzten Überraschung zu mir, dass er eben im Helferwesen ein Chef sei und Man wird dadurch immer blöder und dass er seit Jahren nur mehr Akten und diverse fachliche Routinearbeiten lese. Die dafür alle. Die Akten, die 08/15-Literatur und Abschlussarbeiten. Und vor allem die diversen Kalkulationen. Und bei den dauernden Sitzungen verhandle er natürlich stets mit, gebe, egal, ob gefragt oder nicht, seine Expertise ab. Bald mehr, bald weniger, bald sehr, bald überhaupt nicht maßgebend. Eben je nach Gemengelage, regierender Politik und Public-private-Partnership-Konstellation.
Seit den 1970er Jahren experimentiert der Computer- und IT-freundliche Katastrophenpsychologe Dietrich Dörner intensiv und konsequent, um Menschen wie Dich und mich, aber vor allem um die jeweiligen politischen, technischen, ökonomischen Entscheidungseliten durch Computersimulationen zu schulen und vorstellungsfähiger und dadurch wirklichkeitstauglicher zu machen. Auf dass politische, technische, ökonomische Unfälle, Debakel und Desaster verhindert werden:
Das Dörnerexperiment 1 betrifft ein fiktives Entwicklungsland namens Tanaland, das Dörnerexperiment 2 die fiktive kleine deutsche Stadt Lohhausen, das Dörnerexperiment 3 ist das reale Tschernobyl. Den Versuchspersonen wird jedwedes Know-how und Machtinstrumentarium, sogar das der Diktatur, zur Verfügung gestellt. Aber fast alle Versuchspersonen sind den Situationen, Strukturen, Zwängen, Zusammenhängen, Geschwindigkeiten und Abläufen nicht gewachsen und zerstören unerbittlich das, was sie aufbauen oder retten sollen. In den 30, 40, bald 50 Jahren der Dörnerexperimente hat sich daran nicht viel geändert. Aus Tanaland wurde inzwischen in der Realität Griechenland, aus Lohhausen wurden die bankrotten Gemeinden, Städte und Regionen und aus Tschernobyl Fukushima: Dörners Experimente sind vielleicht sogar gruseliger als die Milgrams, denn die jeweilige Versuchsperson handelt frei und ungezwungen, keine beigestellte Autorität zwingt sie weiterzumachen, egal, wie es den überantworteten Menschen dabei ergeht. Die für die Entwicklungslandbewohner lebensbedrohlichen und quälenden Interventionsfolgen wurden vom fiktiven Entwicklungshelfer, vom Computertäter, als notwendige Durchgangsphase deklariert. Die Versuchspersonen agierten ziemlich brutal, egal, ob sie männlichen oder weiblichen Geschlechts waren: Die Hungernden beispielsweise müssen eben, hieß es seitens der Versuchspersonen, für ihre Enkel leiden. Es sterben, meinte man auch, ja wohl hauptsächlich die Alten und Schwachen, was gut sei für die Bevölkerungsstruktur. Je gefährlicher die Situation beispielsweise für die Entwicklungslandmenschen wurde und je mehr warnende Informationen, negative Rückmeldungen die es gut meinenden, immer nervöser werdenden Computertäter bekamen, umso gleichgültiger und rücksichtsloser agierten sie und fanden gute Gründe für ihr eklatant falsches, großen Schaden stiftendes Vorgehen. Wie auch immer, es könnte einem scheinen, kommt mir vor, die EU als ganze sei in der Realität zurzeit zu nicht viel sonst geraten als zu einem riesigen realen Dörnerxperiment Numero 4.
Oder lassen Sie mich für den ein, zwei, drei Nummern kleineren tagtäglichen Alltag, sehr verehrte Damen und Herren – Ihren wie in gewissem Sinne auch meinen – die Sache einmal ganz simpel so benennen: Immer wenn man als Entscheidungen Treffender, Verantwortung Tragender, Helfender Es geht nicht anders oder Es geht nicht anders: Es ist das kleinere Übel zu jemandem sagt oder selber gesagt bekommt und es gar auch noch selber glaubt, befindet man sich wahrscheinlich gerade als Versuchsperson in einem grausigen Milgram- oder Dörnerexperiment. Und zu glauben, man könne es sich für sich selber oder für die Seinen trotz allem schon irgendwie richten, gehört zum Verlauf des Experimentes.
Der heutige Abend ist für Menschen gedacht in Zwangssituationen verschiedenster Art. Versucht wird werden, über andere Dinge zu reden als üblich und auf andere Weise als üblich. Ein Vorschlag Pierre Bourdieus, wer auch immer das gewesen sein mag, war, gerade über die Dinge zu reden, über die sonst nicht geredet wird. Die heutige Auswege-Veranstaltung ist ein Versprechen. Ich habe es gegeben, die anderen, weiß ich, werden es einlösen: alle in diesem Raum mit Blick aufs Freie Anwesende, also die Gäste heute hier aus Wien und Sie, das Grazer Gastpublikum. Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen: Dass das heute so geschehen wird, darauf gehe ich mit Ihnen, sehr verehrte Damen und Herren, jede Wette ein.
Gut geht der heutige Abend in meinem Empfinden dann aus, wenn er weitergeht. Das – die Wette gilt – wird er tun. Das Auswege-Vorhaben in Form des heutigen Abends ist nur ein Anfang von vielen Anfängen. Doch ist es ab und zu besser, am Anfang zu stehen, als am Ende zu sein. Zeitnot wird es heute Abend und so weiter, soweit es nach mir geht, also nicht geben, sondern die nötige Zeit für die Sorgfalt im Umgang.
Sollte Ihnen hier auf dieser Seite des St.-Andrä-Saales trotz aller tatsächlichen Präsenz z. B. zu wenig Dritte-Welt-Erfahrenheit oder zu wenig Weiblichkeit versammelt erscheinen, darf ich Ihnen mitteilen, dass dies sowohl sicher nicht der Fall ist als auch bloß Zufall ist, jedenfalls nicht struktureller Dummheitsgewalt entspringt, sondern die Sache verhält sich grundlegend anders: Ulrich Brand nämlich, an der Uni Wien zuständig für Internationale Politik, ist noch in Lateinamerika und deshalb nicht hier. Und unter Ihnen im Publikum befindet sich mit gutem Grund zum heutigen Abend eingeladene, ein halbes Leben lang politikerfahrene linke Weiblichkeit, welche heute Abend aber lieber bei Ihnen, in der Zivilgesellschaft des Publikums und in der APO des Publikums, weilt als hier heroben auf dem zivilgesellschaftlichen Podiumspodest.
In Vorbereitung des heutigen Abends, an dem von mir verbuchte und, ich würde meinen, existenzielle Gespräche mit Adolf Holl, Markus Marterbauer, Werner Vogt und Friedrich Orter Ihnen, geschätzte Damen und Herren, wertes Publikum, öffentlich der Verwendung in der Realität anheimgestellt werden, habe ich ein paar Wochen lang quer und kreuz herumgefragt, bei hilfsbereiten Leuten und bei jungen Leuten z. B., wozu der heutige Abend gebraucht wird und gut sein soll. Unter anderem erhofft und will man Antwort auf folgende, wie es zwischendurch tatsächlich hieß, quälende Fragen: Wie kann verhindert werden, dass die Menschen durchdrehen? Und woher diese gegenwärtige furchtbare Gleichzeitigkeit überall, nämlich die von Vernunft und Dummheit in einem und von Humanität und von Gemeinheit in einem kommt, wollte man wissen. Und so viele Leute wissen, hieß es, was schiefläuft, und haben Potential, aber warum dringt das und warum dringen die nicht durch, während hingegen die falsche Gegenwart in einem fort überall eindringe. Und wie kann man