Als ich verlor, was ich niemals war. Matthias Dhammavaro Jordan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Matthias Dhammavaro Jordan
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783866164956
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Schriften hatte er ein Wort entdeckt, das Atammayata heißt, und er meinte, dass darin die gesamte Bedeutung der buddhistischen Lehre enthalten sei. Es bedeute in freier Übersetzung, dass der Geist einen Zustand erreichen könne, wo er von den Dingen der Welt nicht mehr verführt, hineingezogen oder sonst wie beeinflusst werden könne, und doch würde man das tun, was zu tun ist.

      Alleine über dieses Wort hielt er damals insgesamt zehn Vorträge und machte durch viele Beispiele deutlich, wie wichtig es sei, an nichts anzuhaften, und dann sagte er etwas, was ich nie mehr vergessen sollte: „Es gibt nichts, das es wert wäre, zu sein, zu haben, zu werden oder festzuhalten.

      Als ich das hörte, fühlte es sich an, als ob plötzlich eine riesige Last von mir genommen wurde. Hörte ich hier nicht genau das Gegenteil von dem, was in der westlichen Welt mit ihrer materiellen Orientierung gelehrt und gelebt wurde?

      War ich nicht so erzogen worden, immer etwas zu haben oder zu werden, irgendetwas darstellen und vorzeigen zu müssen? Und hier hörte ich genau das Gegenteil!?

      Ich sah mein ganzes Bemühen, irgendetwas sein zu wollen, und sei es nur der dynamische Jungunternehmer in Berlin, der immer etwas haben oder später etwas werden und sein wollte. Ich erinnerte mich an all die Eitelkeiten und Selbstdarstellungen als mühevoller Versuch, gut dazustehen, etwas darzustellen, etwas sein zu wollen, andere zu beeindrucken.

      Und ja, die mir lieb gewordenen Dinge wollte ich schon festhalten, auf alle Fälle wollte ich sie nicht verlieren.

      Aber dann schaltete sich mein Verstand ein und zweifelte diese Behauptung an. „Was soll das heißen: Es gibt nichts, das es wert wäre, zu sein, zu haben und zu werden? Natürlich gibt es Werte, wie das Gute im Menschen, Großzügigkeit und die Liebe zum Beispiel. Und hat es keinen Wert, gute Freunde, Partner oder Kinder zu haben? Auch ein gewisser Wohlstand und Lebensstil haben einen Wert. Die Position in der Gesellschaft oder im Beruf hat auch einen Wert. Und auch die Erfüllung von Träumen oder Zielen und Hoffnungen hat einen Wert.“

      Das wurde auch nicht bestritten, und Ajahn Buddhadasa sagte mal, dass man sich an alledem erfreuen, aber nicht daran festhalten solle. Das war die eigentliche Kernaussage dieses Satzes.

      Er machte uns darauf aufmerksam, ja fast schon warnend und sehr eindringlich, dass alles die Natur des Vergehens in sich trage und dass das Festhalten an Vergänglichem der sichere Weg ins Unglück sei. Und auch das weltliche Glück, das immer wegen etwas entstehe, sei vergleichbar mit einer Schlange und ihrem attraktiven bunten Schwanz: Sobald du den schönen Schwanz ergreifst, dauert es nicht lange und die Schlange wird dich beißen.

      Ich spürte, dass er aus klarer innerer Überzeugung und direktem Einsichtsvermögen sprach, auch ohne die thailändische Sprache zu verstehen.

      Ich machte mir über alles, was er sagte, Gedanken, erwog es, betrachtete es, und ja, ich musste nach reiflicher Überlegung allem zustimmen.

      Im Buddhismus geht es nicht darum, Glaubenssätze zu übernehmen, sondern selbst zu eigenen Antworten und Erkenntnissen zu kommen. Und das, was man nicht versteht oder nachvollziehen kann, solle man seinem Rat zufolge nicht wegwerfen, sondern zur Seite legen und es ein anderes Mal wieder hervorholen, um es erneut zu bedenken und zu kontemplieren. Verwerfen kann man es später immer noch.

      Ich fühlte eine tiefe Verbundenheit zu diesem Mann. Er sprach mir aus dem Herzen, er sprach zu meinem Herzen, er berührte mein Herz und er strahlte Weisheit und Herzenswärme aus.

      Aber was für mich noch viel wichtiger war: Ich vertraute ihm!

      Dann hatte er dieses tiefe, satte Lachen, was so schnell beendet war, wie es begonnen hatte. Wie eine Welle, die aufsteigt, im Wind tanzt und dann wieder zum Ozean wird.

      Er strahlte eine innere Ruhe und Konzentration aus, die ich so noch nie bei einem Menschen erlebt hatte. Ich empfand eine tiefe Zuneigung und großen Respekt für diesen Mann.

      Ich erkor ihn zu meinem ‚spirituellen Vater‘, und ich sollte, auch noch nach seinem Tod, sehr oft von ihm träumen.

      Die Tage gingen dahin in ihrem eigenen Rhythmus. Sie waren erfüllt von Meditations- und Arbeitsperioden, und immer wieder schrieb ich meine kleinen Erkenntnisse auf, malte Bilder, meist abstrakte, die diese Erkenntnisse wortlos aufzeigen sollten. Ich liebte dieses Sein in dieser klaren, einfachen Natürlichkeit.

      Achtsamkeit und Nicht-Anhaften waren das Mantra, das mich immerzu begleitete und woran ich mich ständig erinnerte. Ich fühlte einen Frieden und eine innere Klarheit in mir, war aber auch konfrontiert mit diesen Kräften, die man Herzenstrübungen nennt.

      Ja, da war diese Gier in mir, und viele Erinnerungen kamen mir in den Sinn, wo mein Handeln von ihr bestimmt wurde, wo ich einfach nicht genug haben konnte von etwas, nicht, weil ich nicht satt war, nein, sondern weil ich es einfach haben konnte. Ja, in Berlin habe ich es oft wild getrieben. Habe mit Frauen geschlafen, obwohl ich wusste, dass es dabei nicht um Liebe ging, sondern einfach nur deshalb, weil es sich anbot.

      Und immer wieder spürte ich diesen Ärger und einen knallharten Kritiker in mir, und ich war froh, dass das Prinzip des Entstehens, Verweilens, Vergehens auch hier seine Gültigkeit hatte.

      Wie weit meine Achtsamkeit entwickelt war, merkte ich an kleinen Dingen.

      Eines Nachts wachte ich auf und musste pinkeln. Ich kroch unter dem Moskitonetz hervor, stand auf, bewegte mich in stockdunkler Hütte auf das Regal zu, griff hinein und fand zielsicher die Streichhölzer, ganz im Dunkeln und ohne etwas zu sehen. Alles in meiner Hütte war auf seinem Platz und mit Achtsamkeit genau da abgelegt, wo es hingehörte, und deshalb konnte es auch gar nicht woanders sein.

      Es geschah an einem Morgen im April.

      Als ich erwachte, fühlte ich eine starke innere Wachheit und Gegenwärtigkeit. Ich öffnete die Tür meiner Hütte und die Welt schien verändert. Die Farben der Bäume und Pflanzen, den leichten Wind auf meinem Gesicht nahm ich plötzlich in einer vorher noch nie erlebten Intensität wahr, und ich erinnerte mich an die Zeit in meiner Jugend, wo wir öfters LSD einnahmen, so ungefähr fühlte es sich an und doch total anders.

      Keiner der aufkommenden Gedanken war in der Lage, mich in seine Geschichte hineinzuziehen, keine Herzenstrübung hatte die Chance, anzuwachsen, alle geistigen Bewegungen wurden sofort als das entlarvt, was sie waren. Dann lief ich durch den Wald und staunte über alles, was ich da sah. Ich verstand alles, ohne dieses Verständnis rational in Worte fassen zu können. Ich fühlte mich mit mir tief verbunden und spürte keine Trennung zu den Dingen da draußen.

      Dann fand ich einen trockenen Ast, legte ihn irgendwo im Dschungel ab und fand ihn später mit einer sicheren Selbstverständlichkeit wieder. Meine Achtsamkeit war messerscharf.

      Da lag dieser Dunghaufen und ich wusste, dass er genau da liegen musste und keinen Zentimeter weiter. Ich verstand das Wehen des Windes, das Bellen der Hunde und das Strahlen der Sonne. Ich verstand, dass alles an seinem Platz war und nur genau da sein konnte, wo es war, und keinen Millimeter weiter. Ich fühlte eine übergeordnete Gesetzmäßigkeit, die alles regulierte, und ich war mittendrin, gehörte dazu, war Teil des Ganzen, nein, ich war das Ganze.

      Ich war beseelt und voller Energie. Das Wort ‚glücklich‘ fühlte sich zu beschränkt an, um damit mein Erleben zu beschreiben, alle Worte fühlten sich zu beschränkt an, um das wiederzugeben, was ich da erlebte. Ich fühlte mich leicht, gesammelt und sicher in diesem Sein, und vor allem gab es da keine Zeit, sondern nur diesen einen, unglaublich ewigen, zeitlosen Moment.

      Ich konnte nicht darüber nachdenken, denn dieses intensive Erleben erfüllte jeden Winkel meiner Wahrnehmung, und so hatten Gedanken kaum eine Chance, eine Lücke zu finden.

      Ich vermied es, anderen Menschen zu begegnen, wollte nicht gestört werden und verzichtete an diesem Tag auch aufs Essen – das wäre einfach zu profan gewesen.

      Ich erlebte diesen Zustand ein paar Tage lang mit wechselnder Intensität, aber einer sehr gesammelten,