Als ich verlor, was ich niemals war. Matthias Dhammavaro Jordan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Matthias Dhammavaro Jordan
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783866164956
Скачать книгу
in neun Monaten würde ich also soundso viel erleben!?

      Anna war schließlich auch sieben Monate in Japan gewesen, sie könnte unmöglich etwas dagegen haben. Auch wenn Anna etwas schluckte, als sie von meinen Plänen hörte, meinte sie dann doch: „Na ja, neun Monate sind ja keine Ewigkeit.“

      Ihre Mutter lebte in Australien und würde nächstes Jahr fünfzig werden und Anna war eingeladen, sie zu besuchen. Sie wäre dann sowieso zwei Monate in Australien und wir könnten uns dann wieder im April des kommenden Jahres in Bangkok treffen und zusammen zurück nach Berlin fliegen. Das hörte sich alles sehr gut für mich an und deckte sich mit meinem Zeitfenster.

      Allerdings wollte ich nicht wegen irgendwelcher Verpflichtungen wieder nach Berlin zurück. Also beschloss ich, meinen Lkw und einen Teil der Werkzeuge zu verkaufen. Reinhold würde meine Wohnung übernehmen, und die schon vorliegenden Aufträge würde ich an befreundete Landschaftsgärtner abgeben. Gesagt, getan.

      Nach einem letzten Sommer in Berlin, mit den üblichen Freizeitbeschäftigungen, zog der September ins Land. Ich hatte alles verkauft, was ich zum Gartenbau nicht mehr brauchte, regelte noch ein paar Formalitäten, und zwei Tage vor meiner Abreise fuhr ich nochmal durch die Straßen Berlins.

      Es kamen mir viele Erinnerungen an vergangene Zeiten in dieser Stadt hoch. Immerhin hatte ich bislang elf Jahre hier gelebt, gelebte Zeit, gelebtes Leben, viel erlebt, und doch war ich nirgendwo angekommen, wo ich hätte sagen können: Hier bleibe ich!

      Es war ein Abschiednehmen ohne Trauer. Es fühlte sich so an, als wäre ich in einen Kokon eingehüllt, während die Häuser und Straßen und die vielen Erinnerungen an mir vorbeizogen. Und am vorletzten Abend traf ich mich zum letzten Mal mit meinen lieben alten Freunden im ‚Untergrund‘. Wir lachten und tranken Bier, witzelten und sprachen über dies und das, die alten Zeiten, die gemeinsamen Erlebnisse, und irgendwie war ich schon gar nicht mehr da.

      Den letzten Tag verbrachte ich mit Anna. Wir waren mittlerweile darin geübt, uns eine Weile nicht zu sehen, und so war es auch nicht weiter schlimm, denn wir hatten so etwas ja schon öfter durchgemacht. Wir führten eine sehr unübliche Beziehung und waren immer mal für längere Zeit räumlich getrennt. Ich glaube auch, dass wir beide das zu schätzen wussten, denn so konnte jeder die Dinge tun, die er tun wollte, und niemand musste sich für den anderen verbiegen.

      Dann hatten wir ein letztes gemeinsames Abendessen bei ihr und eine letzte gemeinsame Nacht, und das machte es mir nicht leichter, sie eine Weile nicht zu sehen.

      Kurz vor dem Schlafengehen schrieb ich noch etwas auf, was ich selbst nicht richtig verstand, aber es kam aus meinem Herzen, und Poesie ist ja bekanntlich dazu da, etwas in Worte zu fassen, wofür es eigentlich keine Worte gibt.

      Die Bande …

      … wie geschmiedete Ketten, aber Ösen gleich, eine geschlossene Öffnung.

      Und durch den Sumpf der Dinge zeichnet sich die Klarheit ab,

      wird von dem Nichts aufgefressen.

      Mein Land, so weit du sehen kannst, mein, und kein Fleck,

      dem ich gehöre, der mir gehört.

      Die Sonne ergießt, Orgasmus gleich,

      ihre hellen Fluten in schwarze Schluchten,

      und die Reiter machen sich auf den langen Weg durch die grüne Wüste.

      Eine Tasse Kaffee vertreibt die Spiralnebel.

      Elitär vertrocknete Äste schwingen leicht im Winde

      und schlagen ihre Vergänglichkeit ins innere Auge des Betrachters.

      Steine rollen und Fliegen fliegen, bis sie am Bande gefangen verstummen.

      Trost und Erlösung kommen erst in der Ewigkeit?!

      Abgebrannte Zigarettenstummel und zerdrückte Cola-Dosen,

      lieblich gelagert neben Einwegflaschen und Plastiktüten,

      machen den Weg zum Gipfel seltsam

      und zugleich befremdlich schön verführerisch.

      Eingebunden in Gewalten.

      Heißer Kaffee läuft die Kehle hinunter, und eine glimmende Zigarette

      zwischen Mittel- und Zeigefinger der linken Hand,

      in dieser Stellung der Meditation verharrend,

      werde ich warten und Zeiten an mir vorüberziehen lassen.

      Ein Kind schaukelt leicht im Wind,

      nur gehalten von einem Strick am Ast.

      Eine seltsame Verbundenheit bilden die Bande des Strickes

      um des Kindes Halse straff gezogen.

      „Lass dich nicht so hängen!“, schreie ich ihm entgegen.

      Und während es antwortet:

      „Die Zeiten haben sich geändert

      und für einen Cadillac gebe ich alles!“,

      erkenne ich in ihm mein Spiegelbild.

      Die Zustimmung des lachenden Publikums

      über sein Todesurteil verblüfft mich weniger

      als das Zurückkommen des Bumerangs.

      Barfuß springe ich durch Feuersglut,

      während die Stiefmütterchen nicht ihre Farbe verlieren.

      Einem Rollschuhfahrer gleich, Walkman am Gürtel hängend,

      fliege ich über schwarzen Asphalt und verliere mich in grünen Wiesen,

      wo schon lange nichts mehr wächst.

      Polizisten schießen auf Kinder,

      und Kinder werden schon lange nicht mehr geboren.

      Spanien liegt fern, Amerika liegt fern.

      Der Wind verstärkt sich im dichten Gestrüpp

      und Häuser zerren Flugzeuge auf die Felder.

      Schweißnasse Hand zwischen erigierten Beinen.

      Nackte Körper, durch Lügen gerodet, gestraft durch ihr Sein,

      belohnt von dem Nichts.

      Einsam zieht der Falke seine Kreise.

      Rückblick

      Genau genommen hatte ich alles gehabt, was ein normales Leben lebenswert macht. Eine tolle Freundin an meiner Seite, eine schöne Wohnung mit Balkon, gute Freunde und ein Beruf, der mir Spaß machte und der mich vielleicht nicht reich, aber doch wohlhabend gemacht hätte.

      Aber es fehlte etwas. Ich konnte gar nicht genau sagen, was da fehlte. Ich fühlte, dass das nicht alles gewesen sein konnte. Aber vielleicht war es genau das: alles zu haben und doch nicht erfüllt zu sein, trotzdem eine tiefsitzende Unzufriedenheit zu spüren und kein Silberstreif am Horizont zu sehen, dass sich an dieser Unzufriedenheit etwas ändern würde, wenn ich diesen Lebensstil so weitergeführt hätte.

      Es fühlte sich richtig an, mir diese Auszeit zu nehmen, alleine, nur mit mir, mein Leben zu leben, meine Lebensreise zu machen und keine Ahnung zu haben, wo und vor allem ob ich irgendwo ankommen würde.

      Reinhold übernahm, wie gesagt, meine Wohnung, und ich holte am nächsten Tag alle wichtigen Dinge, wie Pass, Geld, Reiseschecks, aus meinem Regal, packte meinen Rucksack, vergewisserte mich des Tickets nach Bangkok und fuhr am nächsten Abend mit der S-Bahn nach Berlin Schönefeld, von wo mein Flieger mich direkt nach Bangkok bringen würde.

      Die Maschine hob gemächlich ab, durchstieß irgendwann die Wolken, und als es langsam dunkel