Wir wohnten damals in der Mühle von Hannes Wader in Strukum und beschäftigten uns mit Windobjekten. Wir verbanden Holzstäbe miteinander und bespannten sie mit Papier, so dass sie aussahen wie Drachen, nur dass sie nicht in die Luft flogen, sondern auf dem Boden rollend vom Wind bewegt werden sollten. Sie wurden dann genauso vom Wind mitgenommen, wie ich es mir vorgestellt hatte.
Eine Woche Arbeit wurde in wenigen Minuten vom Wind verweht, von Wasser durchnässt und wieder in seine Bestandteile zerlegt. Dann sammelten wir die Einzelteile wieder ein, brachten sie zum Müll und mich beschlich damals schon ein leises Gefühl der Sinnlosigkeit in Bezug auf dieses ganze Projekt.
Vergänglichkeit! Unbeständigkeit! Ja, das fühlte ich sehr stark in diesem Moment.
Dann entdeckte ich das angeschwemmte Strandgut: viele Plastikflaschen, Holz- und Baumteile, alte Schuhe, die alle vom Wasser weich abgeschliffen waren und eine besondere Faszination auf mich ausübten. Ich verband dieses Strandgut mit ihrer jeweiligen Geschichte, sah den Baum, an dem einst Äste wuchsen, im Gesamtgefüge eines Waldes und sah den Baum, der hier tot vor mir lag. Da lagen Plastikflaschen und Schuhe und viele andere Gegenstände, die alle eine Geschichte erzählen könnten. Alle diese Dinge hatten eine Funktion und einen Nutzen gehabt. Jetzt lagen sie hier, vom Wasser angespült, vom Sand eingegraben und von der Sonne geblichen – nutzlos und verbraucht.
‚Sieh an‘, dachte ich, ‚da hatte ich ja schon damals solche ernüchternden Gedanken gehabt.‘
Auf alle Fälle verbrachten Anna und ich viel Zeit miteinander und trafen auch oft unsere Freunde. „Alles wie gehabt“, wie Burkhard manchmal so einfach und doch sehr zutreffend meinte.
Abends malte ich abstrakte Bilder und war dazu übergegangen, Kartoffelsäcke und Sackleinen als Leinwand zu verwenden. Dieses Material schien mir am geeignetsten, um durch die Wiederverwendung von bereits Benutztem eine Art Einklang mit der Natur sowie einen nachhaltigen Gebrauch natürlicher Ressourcen auszudrücken, einer Eingebung folgend, die mir in Suan Mokkh beim Duschen über den Pflanzen gekommen war.
Ich erledigte verschiedene Gartenbauarbeiten, hatte in diesem Sommer gut zu tun, aber diese Ernüchterung wollte nicht weichen.
Ein Nachmittag mit Anna
Eines schönen Nachmittags war ich mit Anna bei ihr verabredet. Wir kochten zusammen, tranken Rotwein, lachten und erinnerten uns an unsere gemeinsamen Reisen durch Asien und sprachen über verschiedene Erlebnisse.
„Hättest du dem Mann wirklich die Flasche auf den Kopf geschlagen?“, fragte sie mich plötzlich, und ich wusste gar nicht, was sie meinte. „Welcher Mann? Welche Flasche?“, fragte ich erstaunt. „Na, du weißt schon, als wir damals in Penang waren und …“ „Ach ja, stimmt ja, das hatte ich fast vergessen“, unterbrach ich sie und erinnerte mich sofort an diesen Abend.
Wir aßen abends immer an einem der zahlreichen Essensstände direkt an der Straße. Gleich nebenan befand sich eine Moschee. Das Freitagsgebet war gerade beendet und um uns herum waren fast nur weiß gekleidete Männer mit ihren traditionellen Mützen, dazwischen auch ein paar Rikscha-Fahrer. Einer von ihnen saß nur wenige Meter von uns entfernt, als er plötzlich unter den Tisch griff, eine Katze in der Hand hielt, aufsprang und sie gegen eine Wand schleuderte. Alle Restaurantbesucher verstummten auf der Stelle und starrten in seine Richtung. Wir auch.
Aber der war mit der Katze noch nicht fertig, ergriff einen großen Stein und schlug, über ihr kniend, mehrmals auf sie ein. Wir waren entsetzt, konnten nicht glauben, was wir gerade sahen. Als er mit der Katze fertig war, kehrte er an seinen Tisch zurück und aß weiter, so als ob nichts geschehen wäre. Es blieb mucksmäuschenstill.
Anna war besonders entsetzt und warf dem Mann böse, verachtende Blicke zu. Der bemerkte das, stand plötzlich auf und bewegte sich langsam auf uns zu. Oh, Mann. Neben mir stand eine Kiste mit leeren Cola-Flaschen, und ganz automatisch ergriff meine rechte Hand eine der dicken Glasflaschen, während ich in mir eine klare Entschlossenheit fühlte. Anna saß vor mir und der Mann kam immer näher. Irgendwie hatte ich geistig eine Schutzlinie zwischen ihm und Anna gezogen, und er blieb tatsächlich zirka einen halben Meter vor dieser Grenze stehen und meinte auf Englisch, dass die Katze ihn gebissen habe, und sagte noch irgendetwas anderes, was wir nicht verstanden. Dann ging er zurück auf seinen Platz und die Flasche zurück in den Kasten.
„Ja, mein Schatz, ich hätte sie ihm auf den Kopf geschlagen“, war meine sichere Antwort auf ihre Frage.
Dann erinnerten wir uns wieder daran, wie es überhaupt dazu kam, vor zirka zwei Jahren, nach Asien zu reisen. Eigentlich hatten wir ganz andere Pläne – und alles begann damals mit einer kleinen Meldung am 26. April 1986.
Ein russisches Atomkraftwerk in Tschernobyl hatte Probleme und irgendetwas trat aus. Dann wurden die Nachrichtensprecher immer ernster und die Meldungen darüber auch. Und irgendwann verstanden wir, nein, es war kein kleiner Unfall, sondern eine schwerwiegende Bedrohung. In Berlin hatten wir damals noch Glück im Unglück, weil der Wind in diesen Tagen aus Westen wehte und somit die radioaktive Wolke von Berlin fernhielt. Es kamen die ersten Warnungen: Kinder sollten nicht im Sand spielen und man sollte sich bei einsetzendem Regen davor hüten, nass zu werden.
Einige Tage später saßen Anna und ich auf meinem Balkon und spielten mit dem Gedanken, auszuwandern. Wir malten uns alle möglichen Horrorszenarien aus, die mit einer nuklearen Katastrophe einhergehen würden, und kamen zu dem Schluss, dass Südostasien sicherer war als Europa. Wir dachten darüber nach, in Thailand vielleicht ein Restaurant und einen Surfbrettverleih aufzumachen. Und so kam es, dass wir uns damals auf den Weg nach Asien machten, um die Möglichkeiten vor Ort etwas genauer abzuchecken.
„Wie die Zeit vergeht“, sagten Anna und ich gleichzeitig und wir mussten lachen.
Das Thai-Curry, das wir an diesem Nachmittag gemeinsam zubereitetet hatten, war schon zur Hälfte gegessen, als Anna mir plötzlich diese bedeutungsschwangere Frage stellte: „Könntest du mit dem Gartenbau eine Familie ernähren?“ Irgendetwas in mir erstarrte: „Äh, ja, glaube schon“, murmelte ich etwas erschrocken. Nein, sie war nicht schwanger, aber eben in dem Alter, wo diese Gedanken für eine junge Frau ganz normal sind.
Ist das die Richtung, in die unsere Beziehung gehen würde, der ‚normale‘ Weg?
War ich denn überhaupt schon bereit dafür? War ich dafür überhaupt geschaffen?
Nichts, aber auch gar nichts klang in mir an. Weder fühlte ich eine freudige Stimmung in mir aufkommen, noch sah ich erwartungsfrohe Bilder mit Eigenheim und zwei Kindern vor meinem inneren Auge. Ein Leben als Familienvater war für mich ganz und gar unvorstellbar. Anna musste mein Unbehagen bemerkt haben und beließ es bei dieser Frage. Sie meinte nur noch: „Nein, nicht heute oder morgen“‚ … aber irgendwann und dann für immer …‘, ergänzte ich im Stillen diesen Satz, ausgeliehen aus dem Film Casablanca.
Nein, sie wolle ja auch ihr Studium beenden, meinte sie dann, vielleicht noch ein bisschen von der Welt sehen, aber es schien so, als wollte sie schon mal vorchecken und meine generelle Haltung mit dieser Frage prüfen. Ich glaube, ich war haushoch durchgefallen.
Ein neuer Gedanke
Ich weiß nicht mehr genau, wann diese Entscheidung fiel, es war eher wie ein ‚Kippen‘ in eine Richtung. Irgendetwas in mir schloss mit Berlin ab und es formierten sich Gedanken und Ideen der besonderen Art: „Hey, wie wäre es eigentlich, wenn ich für ein paar Monate ins Kloster gehen und Mönch auf Zeit werden würde?“
Ich hatte eine interessante Rechnung aufgemacht. Ich überlegte,