Dazu meinte Ajahn Ranschuan nur: „Nein, man kann seine Liebsten auch ohne Anhaftungen lieben, denn Anhaftungen führen immer zu Sorgen, Kummer, Leid und Schmerz und besetzen den Geist. Ein sorgenvoller Geist ist immer in der Zukunft, also nie im Jetzt. Weiterhin besitzt ein anhaftender Geist nicht mehr die Fähigkeit, Veränderungen zu akzeptieren, weil er schon eine Vorstellung davon hat, wie etwas zu sein habe, und so wird der natürliche Fluss der Dinge behindert …“ Das war eine sehr klare Ansage.
Dann sprach sie über Gefühle und erklärte, dass sie nichts Reales seien, sondern immer nur aufgrund von Bedingungen entstünden. Bevor ein Gefühl entstehen könne, müsse es immer zu einem Kontakt über die Sinne kommen, und dann entstehe entweder ein angenehmes, unangenehmes oder neutrales Gefühl.
Eijeijei, war das eine nüchterne Betrachtung der so hochgeschätzten Gefühle, dachte ich bei mir. Und sie ergänzte, dass man mal beobachten solle, wie schnell sich diese Gefühle immerzu verändern würden. Und meine Gefühle änderten sich – und zwar immerzu.
Am nächsten Tag war es aus unerklärlichen Gründen vorbei mit dem Frieden.
‚Scheiße‘, dachte ich, ‚was ist los?‘ Tausende von Gedanken während der Meditation, keinen ruhigen Geist mehr – und mein Ärger war wieder im Anmarsch.
Mein kritischer Blick war plötzlich wieder unterwegs, ich fand wieder jemanden, den ich geistig runtermachte und abwertete. ‚Wie die dasitzt, wie der da läuft …‘, und dann passierte es, dass jemand seinen Löffel während des Essens fallen ließ. In der Stille der im Schweigen eingenommenen Mahlzeit klang der auf den Steinfußboden aufschlagende Löffel wie ein Auto, das gegen eine Wand fuhr.
Voller Verachtung trafen den Verursacher meine bösen Gedanken: ‚Du Idiot, du sollst doch achtsam essen, aufpassen, was du machst, nicht deinen belanglosen Gedanken hinterherjagen und verdammt nochmal diesen Löffel festhalten.‘ Und immer weiter ging es in diesem ärgerlichen Gedankenstrom, bis ein Gong das Ende der Mahlzeit anzeigte und ich mir bewusst wurde, welche Gedanken ich gerade hatte, oder besser gesagt, welche Gedanken mich gerade hatten.
Hat das denn nie ein Ende? Nein, es hatte noch kein Ende, und wenn doch, dann nur ein vorläufiges. Aber so wie der Ärger kam, so ging er auch wieder, und es wurde wieder zur Meditation eingeladen, angekündigt durch einen Gong.
Und auch diese Tage vergingen in äußerlichem Schweigen, aber innerlich gab es immer wieder diesen Aufruhr, ein Wechselbad der Gefühle und vieler Erinnerungen und Gedanken, die einfach kamen, ohne eine Einladung abzuwarten. Und die meisten dieser Gedanken hätte ich bestimmt nicht eingeladen. Dann kam der letzte Tag und das Schweigen wurde wieder ‚gebrochen‘.
An diesem frühen Abend saß ich an meinem Lieblingsplatz, am Lotusteich, und zeichnete mit einem Stöckchen verschiedene Zeichen in den Sand, beobachtete die Ameisen, spürte den warmen Wind auf meiner Haut und fühlte eine unglaubliche Stille in mir.
Ich war dem Schweigen näher als dem Reden und dann stand Anna vor mir. „Na“, meinte sie zu mir, und ich wusste nichts darauf zu erwidern, zwang mich aber zu einem „Na“, und ein paar Worte fielen nur langsam aus meinem Mund.
Es gab gerade nicht wirklich etwas zu sagen und so schwiegen wir, und ich deutete an, dass es mir gerade lieber wäre, noch etwas allein hier zu sitzen. Anna musste sowieso noch etwas erledigen.
Dann gab es eine letzte Abendmeditation und einen letzten Vortrag mit praktischen Hinweisen für den Alltag und Ermutigungen, die Meditation weiter zu üben.
Von all den Worten, die Ajahn Ranschuan an diesem Abend sprach, sind mir bis heute zwei Sätze sehr deutlich in Erinnerung geblieben: „Mache das Beste aus jedem Moment!“ und „Werde dein bester Freund!“
Am nächsten Morgen herrschte die übliche Aufbruchsstimmung.
Matten, Sitzkissen und Petroleumlampen wurden weggeräumt, Rucksäcke gepackt, Erfahrungen ausgetauscht, Adressen auch, und wir verabschiedeten uns von Santikaro, Viriya, Ajahn Po und Ajahn Ranschuan.
Irgendwie hatte Anna etwas ‚Seltsames‘ an mir wahrgenommen – und ich selbst auch.
Beim Abschied fragte sie Ajahn Ranschuan, ob es denn möglich sei, den spirituellen Weg gemeinsam in einer Partnerschaft zu leben, oder müsse man dazu in ein Kloster gehen? Ajahn Ranschuan meinte auf diese Frage, dass es wundervoll für eine Partnerschaft sei, wenn man auch hier einen gemeinsamen Weg gehen würde. Anna schien mit dieser Antwort sichtlich zufrieden zu sein und mich beschlich das leise Gefühl, dass sie die Frage nur gestellt hatte, damit ich diese Antwort hörte.
Indien oder nicht?
Bevor wir nach Indien weiterreisen wollten, gingen wir zurück zu unserer Bungalowanlage am Chaweng Beach. Ich fühlte mich sehr mit mir verbunden, sehr auf mich selbst fokussiert, und meine Achtsamkeit war gut entwickelt.
Anna fand die Meditation und die Lehre Buddhas ganz interessant, war aber doch nicht so sehr beeindruckt davon wie ich und wollte weiter nach Indien. Aber wollte ich auch nach Indien? Hier auf Koh Samui erwartete uns das Übliche: Sonne, Strand und Meer, viel gutes Essen und Kokosnuss-Milchshakes. Es faszinierte mich nicht mehr.
Traum
In dieser Nacht hatte ich folgenden Traum: Ich wache morgens auf, gehe ins Restaurant und alle sehen sehr krank aus, sind weiß im Gesicht, haben dunkle Ringe unter den Augen und sie laufen sehr schleppend und müde umher, wie von einer Krankheit befallen, aber scheinen es selbst nicht zu bemerken. Ich spüre nichts von den Symptomen und will herausfinden, was los ist. Als ich in der Stadt ankomme, sehe ich eine Amerikanerin, und sofort weiß ich, dass sie weiß, was passiert ist, dass sie vielleicht etwas damit zu tun haben könnte. Ich stürme auf sie zu, sie rettet sich in einen Fahrstuhl, ich schaffe es gerade noch hinein und frage sie: „Was ist hier los?“ Sie will erst nichts sagen, druckst herum, aber ich bleibe dran, zwingend, beständig, fordernd, und lasse nicht locker, bis sie sagt: „Es ist hier eine Kokosnuss-Epidemie ausgebrochen.“
Der Traum hatte eine Bedeutung, die sich mir nur gefühlsmäßig erschloss.
Kurz gesagt: Auch das Schönste, Schmackhafteste, Beste, Tollste wird eines Tages, irgendwann einmal öde, spröde und ohne Geschmack und Faszination sein. Und wenn man das nicht bemerkt, kann einen auch das Schönste und Beste krank machen.
Dieses Gefühl hatte ich in etwas abgemilderter Form mittlerweile bei allem, was ich auf dieser Insel machte, sogar wenn ich mit Anna schlief, bekam das auch diesen Geschmack, und ich begann mir Sorgen zu machen. Aber worüber sorgte ich mich eigentlich? Dass mir Bekanntes genommen wird, dass ich das ‚Schöne‘ nicht mehr als solches sehen, fühlen und erleben konnte, dass sich eine tiefe Ernüchterung in mir breit machte? Was passierte hier eigentlich mit mir?
Ich sprach mit Anna. Ich wollte nicht nach Indien, ich wollte nach Suan Mokkh, sie könnte ja mitkommen. Denn zum Abschied hatte Santikaro noch in einem Nebensatz erwähnt, dass man auch außerhalb der Retreats in Suan Mokkh willkommen sei, und das hatte ich mir gemerkt, und mehr noch, es wurde für meine Ernüchterung zu einer Art Rettungsring und allein der Gedanke daran gab mir ein besseres Gefühl.
Anna wollte nach Indien und ich nicht – und – wir hatten ein Problem.
Wir überlegten und erwogen verschiedene Möglichkeiten und kamen zu der Lösung, dass jeder das tun solle, was er mag, und wir uns ja wieder in Nepal, in Katmandu, treffen könnten, in sechs Wochen oder so, den genauen Zeitpunkt wollten wir noch bestimmen.
Sie würde noch eine Woche auf Koh Samui bleiben, bevor sie nach Indien aufbrach.
Sie war enttäuscht darüber, dass ich nicht mitwollte, und ich war auch enttäuscht, aber vor allem war ich ernüchtert: in Bezug auf Sonne, Strand und Meer, von all den Kokosnuss-Milchshakes, dem Windsurfen, den Stranddiskos – von allem.
Und hier fasse ich dieses Wort ‚Enttäuschung‘ im wahrsten