Einige Firmen, die ihre Scouts an die Eliteuniversitäten schickten, waren schon während des Studiums an sie herangetreten und hatten ihr lukrative Angebote gemacht. Da sie alles Berufliche mit ihren Eltern besprach, konnte ihr Vater auch dazu raten, das Angebot von BOSST anzunehmen. Als Senator wusste er, dass BOSST schon viele Regierungsaufträge bekommen hatte. Manche Senatoren munkelten hinter vorgehaltener Hand, dass es sich bei BOSST sogar um ein regierungseigenes Unternehmen handelte.
»Da hast du einen sicheren Arbeitsplatz und eine Herausforderung dürfte es für dich auch sein«, meinte er. »Ein Unternehmen wie BOSST wird nicht untergehen und wenn du einmal Schwierigkeiten bekommen solltest, kannst du mir Bescheid geben.«
»Papa, du weißt genau, dass ich es selber schaffen will und mich nie auf deine Beziehungen verlassen würde. Außerdem, warum sollte es bei einem Unternehmen, das so im Licht der Öffentlichkeit steht, Schwierigkeiten geben? Zählt BOSST nicht zu den erfolgreichsten und sozialsten Unternehmen aller Zeiten?«
Eine Woche später hatte Professor Rhin sie überzeugt.
»Ich hätte sie gerne in meinem Team, Frau Ferrer«, hatte er ihr damals bei einer Tasse Kaffee im Restaurant der Firma gesagt.
Sie war einer Einladung von BOSST gefolgt. Man hatte zehn Erfolg versprechende Absolventen der Universität eingeladen, sich das Unternehmen anzuschauen. Jeder sollte die Gelegenheit haben, sich unverbindlich über die Arbeitsbedingungen vor Ort zu informieren. Die waren allerdings so bekannt, dass man sich alleine deswegen schon bemühen musste, für dieses Unternehmen zu arbeiten. Die jungen Leute wurden selbstverständlich ständig beobachtet.
Da man nur Leute einstellte, die vorher genauestens ausgesucht worden waren, gab es keine fest vorgeschriebenen Arbeitszeiten. Wer für BOSST arbeitete, war ohnehin mindestens zwölf Stunden anwesend. Man stellte nur Menschen ein, von denen man wusste, dass Arbeit die höchste Priorität in deren Leben hatte. Außerdem zahlte man überdurchschnittlich und Mitarbeiter der Firma konnten sich zahlreicher anderer Vergünstigungen erfreuen, zu denen auch manchmal eine Wohnung im Crusst-Tower gehörte. Auf dem Firmengelände gab es Sport- und andere Freizeitmöglichkeiten und in den exklusiven Ruheräumen mit ihren Hologrammen konnte man jede nur erdenkliche Illusion erzeugen. In den firmeneigenen Restaurants wurden auch die anspruchvollsten Gaumen verwöhnt. Eigentlich brauchte man als Mitarbeiter das Firmengebiet gar nicht zu verlassen und es gab sicherlich einige, die das auch nicht taten.
»Warum ausgerechnet mich, Herr Professor?« hatte Nikita gefragt.
»Weil Sie gut sind, Frau Ferrer. Sie sind gut. Ich habe Ihre Diplomarbeiten gelesen und mir hat gefallen, wie sie die Dinge anpacken. Sie haben den Mut, neue Wege zu gehen, und haben nicht, wie die meisten ihrer Kommilitonen, nur den anerkannten Kapazitäten nachgeplappert. Sie haben eigene Ideen, Nikita, das gefällt mir. Sie haben eben nicht nachgedacht, im Sinne von jemandem hinterherdenken, sondern Sie können selbst kreativ und innovativ sein.« Professor Rhin schenkte Kaffee nach.
»Und Sie fanden es nicht unqualifiziert oder überheblich? Professor Snyder hat einmal gesagt, ich solle auf dem Teppich bleiben. Ich hatte ihm damals zu spontan geantwortet, dass es wohl keine großen Entdeckungen gegeben hätte, wenn alle Menschen auf dem Teppich geblieben wären. Mich muss der Teufel geritten haben. In der nächsten Klausur verpasste er mir dann eine Drei minus.«
»Ja, ja der gute Snyder«, Professor Rhin schmunzelte, »ist es nicht erstaunlich, dass Menschen, die eigentlich als weise und maßgeblich gelten, sich gleichzeitig als hemmend für die Fortentwicklung ihrer Gesellschaft erweisen können? Einmal zu »Experten« ernannt, scheint es ihnen häufig unmöglich, ihr vermeintliches Wissen weiterhin in Frage zu stellen. Warum neigen Menschen zu festen Überzeugungen oder Vorurteilen und scheuen den Zweifel? Nein, Frau Ferrer, ich fand Ihre Ideen überhaupt nicht überheblich. Ich glaube nämlich auch, dass man im Ätherkörper oder der Aura des Menschen alle Informationen bezüglich seines Charakters, seiner Neigungen oder Handlungen lesen kann. Besonders gefallen hat mir, dass Sie der Meinung sind, dass auch alle zukünftigen Handlungen eines Menschen bereits festgelegt sind und dort sichtbar gemacht werden können. Das denke ich nämlich auch, obwohl dies sicher nicht sehr populär ist, wo wir doch so stolz auf unseren vermeintlich freien Willen sind. Ich möchte offen zu Ihnen sein, Frau Ferrer. Wir arbeiten an der Entwicklung eines Gerätes, einer Art Brille, mit der es möglich sein soll, diese Informationen auch ablesbar zu machen. Mit der Kirlianfotografie war man seinerzeit schon auf einem guten Weg, hat aber nicht alle Möglichkeiten erkannt. Die wären damals allerdings technisch auch noch nicht umsetzbar gewesen.«
»Wow, ein Gerät, das es dem Nutzer ermöglicht, seine Mitmenschen quasi seelisch zu durchleuchten? Ist das nicht gefährlich, Herr Professor, könnte damit nicht ungeheurer Missbrauch getrieben werden?«
»Nur, wenn es in die falschen Hände kommt, Nikita, oh Pardon, Frau Ferrer. Außerdem sollten wir das doch lieber der Politik überlassen, zu entscheiden, wer etwas nutzen darf und wer nicht, meinen Sie nicht auch? Ist Ihr Herr Vater nicht in der Politik? Senator sogar, wenn ich mich nicht irre?«
»Nennen Sie mich ruhig Nikita, Herr Professor, Frau Ferrer klingt so alt. Ja, mein Vater ist Senator. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte ich ebenfalls eine politische Laufbahn eingeschlagen. Ich bin aber kein Verwaltungsmensch und besonders diplomatisch bin ich auch nicht, wie Sie an der Geschichte mit Professor Snyder erkennen können.«
»Welch Verlust für die Wissenschaften! Mir gefällt Ihre Selbsteinschätzung, Nikita.« Professor Rhin trank den Rest seines Kaffees in einem Zug aus. In seiner Stimme schwang keine Ironie mit, sondern ehrliche Überzeugung. Das mochte Nikita und machte sie auch ein bisschen stolz.
»Meinen Sie nicht auch«, fuhr Professor Rhin fort, »dass wir uns selbst Handschellen anlegen würden, wenn wir vorher jedes Mal überlegen müssten, wer Nutznießer unserer Entwicklungen sein darf und wer nicht? Unsere Aufgabe ist die Forschung, nicht die Politik.«
»Ja, es ist ungefähr das Gleiche wie mit den Teppichen.« Beide mussten lachen und als Nikita an diesem Abend nach Hause fuhr, wusste sie, dass es etwas zu feiern gab.
Wenn sie, so wie an diesem Morgen, in ihrem Automobil saß, bewunderte sie immer wieder den reibungslosen und zügigen Verkehrsfluss. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es früher für die Menschen gewesen sein mochte, als man fast alles selber machen musste um vorwärts zu kommen, und dazu noch im Schneckentempo. Es war kein Wunder, dass damals so viele Menschen im Straßenverkehr ums Leben gekommen waren.
Der menschliche Wahrnehmungsapparat mit seinem begrenzten Reaktionsvermögen war eigentlich gar nicht geschaffen für all die komplizierten Vorgänge. Heute war man um ein Mehrfaches schneller unterwegs. Computer und intelligente Roboter konnten das viel besser und man hatte auch dadurch mehr Zeit für die wesentlichen Dinge des Lebens, zum Beispiel seine Arbeit oder Hobbys.
»In meinem Fall habe ich wohl eher Zeit für die Arbeit«, dachte sie bei sich. »Aber ich wusste ja, worauf ich mich einließ, als ich bei BOSST anfing. Die Firma ist schließlich nicht als Sanatorium bekannt. Wenn ich erst einmal richtig drin bin, werde ich auch wieder öfter zum Golfen kommen. Was soll’s, da muss ich wohl durch. Wie sagt Mama? Augen zu und durch. Besser ist es wohl mit offenen Augen«, verbesserte sie im Stillen ihre Mutter.
Schwer vorstellbar war für sie auch, wie es wohl früher gerochen haben musste, als die Automobile noch mit Hilfe von Verbrennungsmotoren liefen. Von den Auswirkungen auf die Umwelt einmal ganz abgesehen, die ja bekanntermaßen verheerend gewesen waren.
Dass der menschliche Körper selbst Energie produzierte, wusste man schon lange. Sehr viele Prozesse im menschlichen Organismus spielen sich auf der Basis elektrophysiologischer Vorgänge ab. So unter anderem die Leitung und Verarbeitung von Informationen in den Nerven oder die Kontraktion der Muskeln. Auch die Kontraktionen des Herzens und damit der Blutausstoß beruhen auf elektrophysiologischen Vorgängen.
Nikita erinnerte sich, gelesen zu haben, dass ein Forscher namens Galvani das Phänomen schon 1791 entdeckt und ihm den Begriff »Tierische Elektrizität« gegeben hatte.
In der Mitte