Eine Stunde später packten sie das Angelzeug zusammen, verabschiedeten sich von ihrem neuen Anglerfreund und stiegen ins Auto. Unterwegs bat der Sohn um Erlaubnis, zu einem einige Meilen entfernten Park zu radeln, wo sich ein paar seiner Freunde trafen. Um seine Sicherheit besorgt, hatte sie ihm das bisher verboten. Heute jedoch hörte sie ihm aus einem neuen Blickwinkel zu. Am Pier erlebt zu haben, wie er eine für sie fremde Sprache meisterte und damit so leicht einen neuen Freund gewann, ließ sie erkennen, dass sie vielleicht ihr eigenes Urteil überdenken sollte. Also teilte sie ihm während des Gesprächs ihre Sorgen mit. Sie bat ihn, einige Sicherheitsregeln zu beachten, und er war damit einverstanden. Daraufhin erlaubte sie ihm, in diesen Park zu radeln, wann er wollte. Zu Hause angekommen, war ihr Sohn guter Laune und ja, auch er änderte sein Verhalten. Er räumte aus freien Stücken die Küche auf, etwas zuvor nie Dagewesenes. Die Mutter wollte ihn von nun an nie mehr als „ihren kleinen Jungen“ betrachten und versprach bald eine Wiederholung der Wunschzeit.
Wenn Sie regelmässig Wunschzeit anbieten
Sobald Sie Ihrem Kind regelmäßig Wunschzeit ermöglichen, werden Sie es besser kennenlernen. Es zeigt Ihnen seine Sicht der Welt und wie es sich fühlt. An folgenden Zeichen werden Sie vermutlich erkennen, dass sich Ihr Kind in Ihrer Gegenwart sicherer fühlt:
• Vielleicht werden Sie auf die Probe gestellt. Ihr Kind sucht sich vielleicht Spiele aus, die Sie langweilig oder lästig finden. Dabei ist ihm schon irgendwie bewusst, dass es Sie damit aus Ihrer Komfortzone holt. Aber wenn Sie mitspielen, wird Ihr Kind sehr ermutigt. Sie können mit Ihrem Widerwillen konstruktiv umgehen, indem Sie zum Beispiel auf humorvolle Weise protestieren. Angenommen, Ihr Kind verspritzt Wasser auf dem Küchenboden, dann können Sie die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und rufen: „Huch! Hier regnet’s ja! Was ist denn da los?“ Ihr Kind wird lachen, weil Ihre Reaktion seine Anspannung reduziert, und das Spiel geht nun erst richtig los! Das Vergnügen Ihres Kindes angesichts Ihres heraussprudelnden Gezeters wird die zwei Minuten Trockenwischen nach dem Timer-Signal voll aufwiegen. Vielleicht wird es dann sogar mithelfen. In Kapitel 6, Ganz-Ohr-Spiel, erfahren Sie mehr darüber, wie Sie Ihr Kind mit spielerischem Protest zum Lachen bringen können.
• Ihr Kind erkundet vielleicht neue Beschäftigungen oder ein neues Gebiet. Geborgen in der Anwesenheit eines aufmerksamen Erwachsenen, testen Kinder beispielsweise gerne ihre körperlichen Fähigkeiten. Es probiert vielleicht, wie man auf verschiedene Arten aufs Bett springen kann, quetscht sich ins winzigste, noch auffindbare Versteck, läuft so weit wie noch nie oder watet bis zu den Knien in ein nahe gelegenes Schlammloch. Ihr Einverständnis ermutigt es zu intensiven Ganzkörper-Lernerfahrungen.
• Ihr Kind wirft vielleicht wichtige Themen auf. Ihre herzlich entspannte Haltung ermöglicht es dem Kind, sich in geborgener Atmosphäre unangenehmen Erlebnissen zu stellen. Wenn es zum Beispiel kürzlich eine schmerzhafte Spritze bekommen hat, gräbt es in der Küche vielleicht die Bratenspritze aus und verpasst Ihnen im Spiel eifrig eine Spritze nach der anderen. Wurde Ihr Kind in der Schule ausgeschimpft, spielt es vielleicht „Lehrer“, bestimmt über Sie und schickt Sie ins Time-out. Sie können spielerisch um Gnade flehen, wenn Ihr Kind die mächtigere Rolle einnimmt. Seien Sie nicht zu ernst – schließlich ist es ein Spiel! Und sobald Ihr Kind herzhaft lacht, baut es eifrig Spannung ab.
• Ihr Kind erweist Ihnen vielleicht größere Zuneigung. Ihnen fallen vielleicht einige positive Veränderungen auf wie wachsende Zuneigung, Zuversicht und Lebensfreude, auch erzählt Ihr Kind vielleicht öfter, was es denkt, und zeigt, was es kann. Vielleicht wünscht sich Ihr Kind sogar noch mehr von Ihrer heilsamen Aufmerksamkeit. Daher muss ich Ihnen leider auch sagen, dass Abhängigkeitsgefühle oder scheinbar überwundene Ängste Ihres Kindes erneut auftauchen können. Vielleicht ärgern Sie sich im Glauben, das wäre ein Rückschritt. Aber tatsächlich ist das Gegenteil der Fall! Inzwischen fühlt sich Ihr Kind bei Ihnen so geborgen, dass es Sie bittet, ihm bei noch Unerledigtem zu helfen.
• Ihr Kind reagiert vielleicht am Ende der Wunschzeit aufgebracht oder kurz danach. Sich bei Ihnen geborgener zu fühlen heißt auch, dass verdrängte Gefühle leichter an die Oberfläche steigen. Rechnen Sie damit. Wenn Sie theoretisch eine halbe Stunde für Ihr Kind freihalten können, bieten Sie ihm erst einmal zehn Minuten Wunschzeit an. Falls es am Ende völlig am Boden zerstört ist, weil die Zeit abgelaufen ist, zeigen Sie ihm Ihre Liebe über Ihr Zuhören. Versuchen Sie nicht, das Problem zu lösen. Tatsächlich braucht Ihr Kind diese kleine Enttäuschung, um lang angestaute Gefühle loszuwerden. Wenn Sie Ihrem Kind mehrmals zugehört haben, wird sein seelischer Nachholbedarf geringer und es wird fähig, das Ende der Wunschzeit ohne Protest zu akzeptieren.
Allmählich werden Sie mit Hilfe der Wunschzeit die Körpersprache und Signale Ihres Kindes genauer deuten lernen. Hier schildert eine Mutter, welche Veränderungen ihr auffielen, als Sie die Wunschzeit in ihr Familienleben integriert hatte:
Als ich gerade damit angefangen hatte, mochte ich die Wunschzeit überhaupt nicht – ich empfand es als eine lästige Pflicht. Doch mit der Zeit gefiel mir die Wunschzeit mit meinen Mädchen immer besser.
Ich erkannte häufiger bestimmte Muster in ihrem entgleisten Verhalten. Fast konnte ich vorhersagen, wann und weswegen es Zoff geben würde. Ich fühlte mich auf völlig neue Weise in meine Kinder ein. Es war einfach schön.
Besuchten wir beispielsweise Veranstaltungen, bei denen die Mädchen mit anderen Kindern spielten und wir Erwachsenen uns unterhielten, bemerkte ich, dass die Kinder austickten, sobald alles vorbei war. Aber während dieser Treffen spielten sie fröhlich und ausgelassen. Bevor wir die Wunschzeit kennen lernten, hatte ich ihre anschließenden Wut- und Heulanfälle nie einordnen können. Aber bald erkannte ich, dass die Mädchen während dieser Veranstaltungen zu uns Eltern die Verbindung verloren. Es leuchtete ein, dass sie sich von uns abgetrennt fühlten, da wir uns mehrere Stunden meist ohne sie unterhielten. Zwar hielten wir uns augenscheinlich „gemeinsam“ am selben Ort auf, taten aber eben nichts Gemeinsames.
Also schob ich vor und nach solchen Festen oder Unternehmungen mit vielen Menschen wenige Minuten Wunschzeit ein. Das hatte auf unsere gemeinsame Zeit nach den Veranstaltungen große Auswirkungen! Eigentlich ganz einfach - und doch war mir diese Lösung lange nicht eingefallen.
Zeit für die Wunschzeit erübrigen
Die Zeitfrage trifft bei Eltern eine empfindliche Stelle! Fast jeder von uns erlebt sich unter Druck. Aber es gibt keine Regel, die vorschreibt, wie lange die Wunschzeit dauern soll, oder wie man sie in einer Familie mit mehreren Kindern durchführt. Wenn Sie sich verzweifelt fragen, wie Sie diese Zeit erübrigen sollen, dann suchen Sie sich einen guten Zuhörer. Das wird Ihnen helfen. Sprechen Sie mit ihm darüber, was in Ihrem Leben gut läuft und was schwierig ist. Lassen Sie Gefühle zu, und wenn Ihnen danach ist, dann fluchen und schimpfen Sie über Ihren Stress. Wenn Sie das Gefühl haben, dass niemand Ihre schwierige Situation versteht, fällt das Probleme-Lösen nicht leicht. Ihren Gedanken und Gefühlen in Anwesenheit eines herzlichen und aufmerksamen Zuhörers freien Lauf zu lassen, wird dagegen einiges bei Ihnen in Gang bringen und die daraus folgenden Erkenntnisse sind Ihre eigenen – kein noch so kluges Buch kann einen aufmerksamen Zuhörer ersetzen! Und Sie bekommen die Sauerstoffmaske zuerst aufgesetzt. Dann und nur dann können Sie Ihrem Kind beistehen.
Abgesehen davon, bieten manche Eltern jeden Morgen fünf Minuten Wunschzeit an und wecken dafür ein Kind früher als die anderen auf. Manche planen Wunschzeit samstags oder sonntags ein, wenn sich ihre Lebensgefährten um die übrigen Kinder kümmern können. Ich als Alleinerziehende lud ein- oder zweimal pro Woche nach der Schule einen gemeinsamen Freund meiner Söhne ein. Der spielte abwechselnd mit einem meiner Jungs, während der jeweils andere seine Wunschzeit bekam. Nachdem meine beiden Söhne mit Wunschzeit versorgt waren, konnten sie gut miteinander spielen, während nun der Freund ebenfalls in den Genuss derselben Wunschzeitdauer kam. Das machte ihn fast zu einem Familienmitglied.
Eine Mutter mit zwei Arbeitsstellen sagte