Hand in Hand. Patty Wipfler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Patty Wipfler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783867812344
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um von ihrer Aufmerksamkeit zu profitieren. Zwischen den beiden wuchs das Gefühl der Verbundenheit im gleichen Maße wie die Kooperation des Kindes. Was für eine elegante Lösung bei extremem Zeitdruck! Regelmäßige Wunschzeit ist einerseits der Schlüssel zu Aufbau und Pflege einer engen Verbundenheit zu Ihrem Kind, andererseits kann sie immer auch strategisch zur Erleichterung bei besonderen Problemen eingesetzt werden. In Teil III, Lösungen für Herausforderungen im täglichen Leben, lesen Sie von Eltern und Kindern, denen bei folgenden und vielen ähnlichen Problemen Wunschzeit zum Segen wurde: zum Beispiel bei Trennung, Aggression, Angst, Zank unter Geschwistern und Kooperationsthemen. Diese Erfahrungsberichte werden Sie ermutigen und dennoch wird Ihre Erfahrung einzigartig sein. Ihr Kind hält Gutes für Sie bereit. Also legen Sie los. Schlagen Sie das Buch zu und geben Sie der Wunschzeit eine Chance!

      KAPITEL 4

      Bleib-Ganz-Ohr

      Wir Eltern wünschen uns wohl mit am meisten, es zum Besseren wenden zu können, wenn die Kinder harte Schläge einstecken müssen. Wir wollen wirklich helfen, wenn sie verletzt sind. Und versuchen es auch. Was wir dann aber tun, beendet nicht immer den Schmerz. Wir beschwichtigen unser Kind und bringen die Dinge in Ordnung, aber es bleibt oft trotzdem betrübt. Oder wir versichern ihm vielleicht, dass es keine Angst zu haben braucht, aber unser Kind kommt einfach nicht dagegen an.

      Bleib-Ganz-Ohr heißt ganz einfach, dem Gefühlsausbruch Ihres Kindes von Anfang bis Ende zuzuhören. Sie begegnen Ihrem Kind aufgeschlossen und halten mit ihm so lange durch, bis es sich wieder erholt. Indem Sie ganz Ohr bleiben, ermöglichen Sie Ihrem Kind, Resilienz aufzubauen. Ihr Zuhören wird ihm nach einem herben Schlag helfen, wieder die Fassung zu gewinnen: Wenn der Hund die neue Marienkäfer-Tasche zerfetzt hat; wenn die Freundin sagt, sie möchte heute mit einem anderen Kind spielen; wenn Ihr Kind vom Rad stürzt und nicht mehr aufsteigen will. Bleib-Ganz-Ohr wird allmählich auch jenen ermüdenden Alltagsknatsch reduzieren, der an Ihrem Seelenfrieden nagt. Wenn Sie ganz Ohr bleiben, nehmen Sie Abstand von schnellen Lösungsvorschlägen. Stattdessen trauen Sie Ihrem Kind zu, dass es sich wieder erholt und die Sache selbst in Ordnung bringt. Auch halten Sie sich mit Belehrungen zurück: Sie unterstützen Ihr Kind beim Auflösen seiner Erregung, sodass seine Psyche besser funktioniert als vorher. Sie werden zuhören, weil es Verbundenheit schafft und Ihr Kind Ihre Fürsorge spüren kann. Sie werden merken, dass Zuhören ein wirkungsvolles Heilmittel ist, wenn Ihr Kind weint, einen Wutanfall hat oder vor Angst außer sich ist.

      Wenn Sie ganz Ohr bleiben, dann segeln Sie mit Ihrem Kind durch seine von Gefühlsstürmen aufgewühlte See. Sein kleines Boot wird hin- und hergeworfen, Sie steigen zu und lassen Ihre Hand ruhig auf dem Steuerruder liegen. Ihr Kind fühlt sich verloren, Sie aber raunen ihm zu, dass bald der sichere Hafen auftaucht. Sie bleiben in der Nähe und sorgen dafür, dass ihm nichts geschieht, während in ihm der Aufruhr tobt. Wenn Ihr Kind sich ausgeweint oder seinen Wutanfall beendet hat, wird es merken, dass Sie schon die ganze Zeit bei ihm waren. Durchdrungen von einem tiefen Zugehörigkeitsgefühl, wird es sich entspannen. Die Heilung der Gefühle, die Ihr Kind aus der Fassung gebracht haben, wird zu einem Gemeinschaftswerk werden.

      Bleib-Ganz-Ohr wird Ihnen das Setzen vernünftiger Grenzen erleichtern. Es ist eine hochwirksame Strategie für jene Momente, in denen das Kind auf Ihr „Nein“ weiterhin mit hartnäckigem „Doch“ reagiert. Mit seiner Kraft werden die giftigen Gefühle aufgelöst, die Ihrem Kind einreden, Sie stünden nicht auf seiner Seite, taugten nichts als Eltern und wären die schrecklichsten Eltern überhaupt.

      Was zeichnet Bleib-Ganz-Ohr aus?

      Verständlicherweise reagieren Eltern auf Weinen oft ungehalten und versuchen, ihr Kind mit allem Erdenklichen zur Ruhe zu bringen. In meiner Familie hieß die Standarddrohung: „Wenn du nicht gleich mit dem Geheul aufhörst, gebe ich dir Grund dazu!“ Dies wurde durch Prügel bekräftigt. Andere Eltern überlegen vielleicht kurz, ob ihnen das Weinen begründet erscheint, und wenn nicht, darf geschimpft werden.

      Am eher nachsichtigen Ende des Elternspektrums werden die Kinder gewiegt, geschaukelt oder auf dem Arm gehalten, bis die Tränen versiegen. Dann gibt es noch den Dauerbrenner: Time-out. Oder dem Kind wird eingeredet, dass es gar keinen Grund zum Weinen hat. Ganz annehmbar finden es die Kinder, wenn sie mit einer attraktiven Beschäftigung oder Süßigkeiten abgelenkt werden. Und schließlich die kostspieligste Möglichkeit: Das Gewünschte, Verlorene oder Unbefriedigende wird einfach ersetzt.

      Leider funktioniert keine dieser Strategien sehr gut. Zwar schlagen wir uns irgendwie damit durch, aber oft erleben wir mit unseren Kindern dann Tag für Tag „immer dasselbe Theater“. Über die Jahre zermürbt uns das.

      Bleib-Ganz-Ohr ist insofern einzigartig, weil Sie mit der angeborenen Neigung Ihres Kindes, zu weinen, wütend zu werden und angsterfüllt zu schreien, zuhörend mitgehen. Weshalb? Weil genau das Ihnen beiden hilft, sich miteinander zu verbinden, und erst dann kann Ihr Kind die innere Balance zurückgewinnen!

      Ich stellte die Strategie Bleib-Ganz-Ohr in einem Einführungskurs für Eltern von Kleinkindern vor. Da meldete sich eine Mutter: „Ich habe mein Kind so satt, ich mag heute Abend nicht mal nach Hause gehen. Seit Monaten gibt es Zoff! Schon morgens nach dem Aufstehen mag sie ihr Frühstück nicht. Sie zieht sich nicht an. Täglich komme ich zu spät zur Arbeit, weil sie wegen jedem Dreck Theater macht. Bevor ich sie ins Auto setzen kann, muss ich ihr die Finger gewaltsam vom Gartentor lösen, an das sie sich festgekrallt hat. Beim Abholen ist es das Gleiche. Gejammer und Bocken bis zur Schlafenszeit. Da werde ich ihrem Geheul doch nicht zuhören! Davon habe ich schon genug.“ Sie wirkte unglücklich, als sie den Kurs verließ.

      In der Woche darauf kehrte sie jedoch zurück und erzählte: „Hätten Sie mir letzte Woche gesagt, meine Tochter würde sich in einen Engel verwandeln, hätte ich Sie ausgelacht. Aber am Freitag bekam ich die Grippe. Weil ich sowieso zu Hause war und nicht die Kraft hatte, mich das ganze Wochenende mit ihr herumzuärgern, dachte ich mir, ich könnte genauso gut diesen Bleib-Ganz-Ohr-Kram ausprobieren. Und das tat ich. Das ganze Wochenende saß ich im Schlafanzug herum. Jedes Mal, wenn sie aufgebracht war, setzte ich mich mit ihr auf den Boden und hörte ihr zu. Für irgendetwas anderes war ich zu krank. Samstag und Sonntag weinte sie sich ein paar Mal bei mir aus. Dann, am Montagmorgen, hüpfte sie zum Frühstück herein, aß es auf, zog sich an und konnte kaum die Abfahrt abwarten. Beim Abholen ging es ihr noch immer gut. Heute Morgen genauso! Küsse und Umarmungen! Ich fasse es nicht!“

      Bereits diese eine Veränderung – die heftigen, auffälligen Gefühle Ihres Kindes willkommen heißen und unterstützen - kann für Sie und Ihr Kind eine riesige Wirkung haben. Ihr Kind wird allmählich besser schlafen, essen, abwarten, bis es an die Reihe kommt, besser mit seinen Geschwistern spielen und große und kleine Widerstände überwinden. Die traditionellen Methoden brauchen Sie nicht mehr.

      Und langfristig wird sich Ihnen Ihr Kind vermutlich selbst in der Adoleszenz noch nah fühlen. Es wird seine Welt erweitern, aber Sie werden auch einen Platz darin bekommen. Ihr Kind wird viele Male getobt und dabei schlechte Gefühle aus seinem System gejagt haben und wird somit stabiler sein und weniger dazu neigen, risikoreich zu leben oder zu rebellieren.

      Wenn Sie ganz Ohr bleiben, definieren Sie schließlich auch Fehlverhalten neu. Jemanden schlagen, verletzen, etwas grapschen, bocken und Süßigkeiten aus dem Küchenschrank mopsen, rechtfertigt weiterhin das Setzen einer Grenze. Aber Weinen, Wutanfälle und hässliche Worte während des Abschüttelns negativer Gefühle landen nicht mehr im Topf schlechten Benehmens. Sie bekommen ihren eigenen strahlenden Behälter mit der Aufschrift: Heilungsprozess. Dem fügen Sie nur noch das Zuhören bei. Da kommen Sie dann ins Spiel.

      Viele Eltern erstaunt es, dass das Hören der leidenschaftlichen Gefühle Ihrer Kinder kein schlechtes Benehmen fördert. Vielmehr wird dadurch die Spannung aufgelöst, die schlechtes Benehmen erst entstehen lässt. Durch das Zuhören wird dem Kind sozusagen ermöglicht, seine Emotionen „auszuscheiden“, eine Chance, übriggebliebene Gefühle aus verletzenden Situationen hinauszubefördern. Dem Kind diese Systemreinigung zu gestatten, wird seine Resilienz fördern und das Gefühl der Verbundenheit zu Ihnen stärken.

      Zwar toleriert dieser