Ihrem Kind zu erlauben, sich ganz und gar auszuweinen, lässt sich damit vergleichen, es ausschlafen zu lassen. Beim Weinen wie auch beim Schlafen ist die Psyche mit wichtiger innerer Arbeit beschäftigt, sozusagen mit Hausputz. Alles wird ordentlich aufgeräumt, die Batterie wird aufgeladen. Das Gehirn sortiert Informationen und speichert sie ab. Und dieser Prozess vollzieht sich in einem bestimmten Tempo, das weder Ihr Kind noch Sie bewusst steuern können. Wenn Sie Ihr Kind vorzeitig wecken, werden Sie einen aus dem Gleichgewicht geratenen kleinen Griesgram vor sich haben, der Sie den ganzen Tag immer wieder an Ihren Fehler erinnern wird. Dasselbe gilt fürs Weinen. Wenn Sie Ihrem Kind nicht bis zum Ende seines inneren Aufruhrs zuhören können, hat es zunächst keine weitere Möglichkeit, die schwierigen Gefühle aus der Tiefe seiner Psyche zu entsorgen. Diese beeinflussen jetzt das Verhalten des Kindes und signalisieren, dass in ihm nicht alles in Ordnung ist.
Falls nötig, können Sie Bleib-Ganz-Ohr dennoch kurzfristig abbrechen. Sobald Sie selbst aus der Fassung geraten, sollten Sie sogar unbedingt damit aufhören. Sagen Sie dann einfach Ihrem Kind, dass Sie zwar momentan nicht länger zuhören können, aber dafür ein anderes Mal. Danach versorgen Sie Ihr Kind mit einem Imbiss, einem Bad oder einer seiner Lieblingsbeschäftigungen. Zwar wird es dann nicht in Bestform sein, aber Sie brauchen eine Pause und die Möglichkeit, sich Ihrer eigenen Gefühle zu entledigen. Ihrem Kind wird bald etwas Neues einfallen, um die unterbrochene Heilung neu anzustoßen.
Wie können Sie sichergehen, dass Bleib-Ganz-Ohr keine Form seelischen Zwanges ist? Während Sie seinem inneren Aufruhr zuhören, spürt Ihr Kind das Schlimmste, was es an Gefühlen in sich trägt! Hat es sich schon einmal bedroht, in Panik, in der Falle, hilflos, verlassen, manipuliert oder entsetzt gefühlt, dann wird es genau diese Gefühle erneut erleben, während es die schwierigen Momente in der Geborgenheit Ihrer Anwesenheit verarbeitet. Wie vermeiden Sie, Ihr Kind dabei unabsichtlich zu verletzen?
Vier Empfehlungen werden Ihnen dabei helfen, damit Bleib-Ganz-Ohr wirklich zu einer heilsamen Partnerschaft zwischen Ihnen und Ihrem Kind führt.
• Lassen Sie Ihr Kind selbst Zeit und Ort wählen. Entweder wird es Ihnen signalisieren, dass es aus dem Lot ist, indem es eine Grenze herausfordert, die den Heilungsprozess auslöst, oder es bricht ohne äußeren Anlass in Tränen oder Wut aus. All dem begegnen Sie mit Zuhören, bis Ihr Kind wieder im Einklang mit sich selbst ist.
• Halten Sie zwischen sich und Ihrem Kind ein gesundes Kräftegleichgewicht aufrecht, indem sie Bleib-Ganz-Ohr mit etwa ebenso langen Phasen an Wunschzeit und Ganz-Ohr-Spiel ausgleichen. Diese Strategien, in denen das Kind führt, überlassen ihm wieder die Zügel der gemeinsamen Beziehung.
• Laden Sie eigene Gefühle regelmäßig bei einem einfühlsamen Zuhörer ab. Dies vertieft Ihre Erkenntnisse, Sie entwickeln sich selbst weiter und vermeiden, Bleib-Ganz-Ohr dann einzusetzen, wenn Sie sich nur halbherzig mit Ihrem Kind verbinden können. Gehen Sie vor allem jeder Versuchung aus dem Weg, Bleib-Ganz-Ohr als Strafe oder Drohung einzusetzen.
• Beenden Sie Bleib-Ganz-Ohr, sobald Sie ärgerlich werden. Wie Ihnen die Erfahrungsberichte in Teil III zeigen werden, erleben Eltern, die Bleib-Ganz-Ohr mit den anderen vier Strategien des Zuhörens ausgewogen kombinieren, bei Ihren Kindern beispiellose Verhaltensänderungen. Ein vierjähriger Junge, der nicht für sich selbst einstehen konnte, weist auf einmal ein viel älteres Kind zurecht; eine Siebenjährige entwickelt Großzügigkeit gegenüber der kleinen Schwester. Kleinkinder und Vorschulkinder gehen direkt auf Menschen oder Situationen zu, die Ihnen zuvor Angst eingejagt hatten; ein Kind fährt nach einem schmerzhaften Fahrradsturz weiter und versucht noch einmal, den herausfordernden Berg zu bezwingen, und eine Fünftklässlerin schneidet hervorragend in einem Lernprojekt ab, obwohl sie zunächst überzeugt war, es nicht zu schaffen. Solche Veränderungen stammen nicht von jungen Menschen, die sich von Erwachsenen beherrscht fühlen. Sie stammen von Kindern, die von Spannung befreit sind und reichlich gelassene Unterstützung genießen durften.
Bedeutsame Verletzungen werden über Aufruhr wegen Kleinigkeiten geheilt
Sobald Sie sich daran gewöhnt haben, dass unsere Kinder ihre tiefsten Gefühle an winzige Probleme heften, werden Sie mit Bleib-Ganz-Ohr entspannter umgehen. Bemerkenswerte Verhaltensänderungen können sichtbar werden, nachdem Ihr Kind lange und heftig über einen zerbrochenen Lippenstift geweint hat, oder darüber, dass der Bruder den begehrten blauen Kindersitz ergattert hat.
Ihr Kind wird von winzigen Unstimmigkeiten getriggert, weil es von seinen eigentlichen verletzten Gefühlen, leicht derart betäubt wird, dass es diese nur indirekt abladen kann. Eine Vierjährige reagiert vielleicht während der Dienstreise ihres Vaters gereizt. Ihr Verhalten entgleist, doch auf die Frage, „Vermisst du den Papa, Schätzchen?“, folgen ausdrucksloser Blick und die Antwort „Nein“. In Wahrheit fühlt sie sich jedoch todunglücklich und davon so überwältigt, dass sie seine Abwesenheit nicht beweinen kann. Sie fühlt sich betäubt. Ihr Schmerz ist zu groß, als dass sie ihn offen angehen kann.
Dann kommt aber eine Freundin zum Spielen und probiert ohne zu fragen ihr blaues Tutu an. Das Mädchen bricht in Tränen aus. Diese leise Andeutung eines Verlusts – was, wenn die Freundin das Tutu behält? – löst die eingefrorenen Gefühle aus. Sie brechen nun an das blaue Tutu geheftet hervor! Je stärker der Schmerz des Kindes ist, umso geringer kann der Anlass fürs Ausweinen sein. Das Mädchen kann wegen des möglichen Verlusts des Tutu ausflippen. Aber sie erträgt es nicht, sich auf Papas Abwesenheit zu konzentrieren.
Man hat uns allen beigebracht, dass gute Eltern einschreiten, indem sie beispielsweise aushandeln, dass jedes der Mädchen das Tutu abwechselnd fünf Minuten tragen darf. Stattdessen ermöglicht Ihnen Bleib-Ganz-Ohr eine interessante Alternative: Die Eltern können den Heilungsinstinkt des Kindes unterstützen. Beim Näherkommen kann die Mutter sanft sagen: „Ja, sie hat dein Tutu angezogen. Bestimmt gibt sie es dir zurück, wenn sie fertig ist.“ Daraufhin kann das Kind seine große Traurigkeit fließen lassen. Über den Papa muss dabei kein einziges Wort fallen. Wir können darauf vertrauen, dass unsere Kinder ihre Gefühle an etwas für sie Passendes knüpfen werden. Das heftige Weinen über das Tutu deutet darauf hin, dass es dem Mädchen hier als perfektes und dringend benötigtes emotionales Ventil zur Freisetzung und Heilung der Gefühle dient.
Unterstützen Sie Ihr Kind sanft
Den meisten von uns begegnete man als Kind bei einem Wutanfall nicht wohlwollend. Somit folgen hier noch einige Details zum Ausprobieren, falls Sie dem Mitgefühl für ihr aufgebrachtes Kind erst langsam auf die Beine helfen wollen.
• Gehen Sie schonend auf die schmerzhaften Einzelheiten ein. Dies ist das Gegenteil des Versuchs, schnell alles in Ordnung zu bringen, und wirkt sich auf Ihr Kind zutiefst heilsam aus. Wenn Sie sanft, ohne einen Anflug Besorgnis, auf das Schmerzliche hinweisen, wird Ihr Kind eine neue Welle heftiger Gefühle freilassen: „Du wolltest ja wirklich die Teetasse, die sie genommen hat. Hm, ich sehe, sie hat sie immer noch.“ „Bald muss ich gehen. Wenn ich weg bin, habe ich dich immer noch lieb.“ „Das ist wirklich schwer.“ „Komm, wir schauen uns jetzt dein Knie an.“ „Jetzt sagen wir Tschüss.“ „Bruno hat das blaue Fahrrad.“ „Der Orangensaft ist alle.“ Und wenn die Kinder älter sind: „Die Party bedeutet dir wirklich sehr viel. Ich wünschte, ich könnte dir erlauben hinzugehen.“ „Er hat dich noch nicht mal angerufen.“ „Du wolltest das so sehr. Dein Plan war gut.“ Oft übermittelt ein einfacher Satz wie „Ich weiß“ oder „Ich bin ganz nah bei dir“ Ihre Liebe am besten.
• Verweisen Sie darauf, dass Ihr Kind zum gegenwärtigen Zeitpunkt sicher ist. „Ja, sie hat das Buch genommen, das du wolltest. Du kannst mit ihr reden, sobald dir danach ist.“ „Dein Körper weiß schon, wie er sich heilt.“ „Du bekommst ein andermal einen Keks.“ „Ich kann nicht zulassen, dass Du einfach so zugreifst. Bleib erst mal auf meinem Schoß.“ „Sie wollte dir nicht weh tun.“ „Ja, du willst das wirklich. Sobald er fertig ist, bist du dran.“ Und in den Teenagerjahren oder darüber hinaus zeigen Sie Ihren Kindern einfach, dass Sie an sie glauben: „Du wirst das schon herausbekommen.“ „Du bist doch eine gute Freundin, egal, was Sie heute gesagt haben.“ „Ich glaube, du kannst mit