Sehen wir uns die Geschichte an, die wir glauben sollen, die Geschichte, die uns immer wieder erzählt wurde, in der dritten Klasse, in der vierten Klasse und immer so weiter – die Geschichte, die wir tagein, tagaus in den Illustrierten lesen und im Fernsehen vorgesetzt bekommen.
Einer der wichtigsten Glaubenssätze besagt, daß der Mensch eine Maschine ist – nicht wie, sondern ist. Deine Mutter hat dieses Jahr den Physiologie-Kurs an der Universität belegt, und der allererste Absatz in ihrem sehr dicken Lehrbuch lautet: »Die mechanistische Sicht des Lebens besagt, daß alle Phänomene, wie komplex sie auch sein mögen, letztlich anhand der physikalischen und chemischen Gesetze zu beschreiben sind. Nach dieser Auffassung, die auch die Physiologen teilen, ist der Mensch eine Maschine – ungeheuer komplex zwar, aber doch eine Maschine … Das mechanistische Weltbild hat sich im zwanzigsten Jahrhundert durchgesetzt, weil praktisch alles, was aus Beobachtung und Experiment an Information gewonnen wurde, mit ihm übereinstimmt.« Wie man das, was man sucht, durch geeigneten Versuchsaufbau findet, davon soll später die Rede sein. Stellen wir erst einmal eine Liste der wichtigsten Grundanschauungen auf. Sie soll auch einen Titel haben, nämlich
Die Geschichte der toten Welt
• Materie ist der Stoff, aus dem die Welt gemacht ist. In ihr ist nichts von Leben oder Geist oder Bewußtsein oder Seele.
• Du bist nichts als ein komplizierter Materieklumpen.
• Außerhalb unseres Körpers sind weitere Materieklumpen, die wir als andere Menschen ansehen.
• Geist oder Bewußtsein sind nichts als Produkte elektrischer und chemischer Vorgänge im Gehirn.
• Dein Bewußtsein, Fühlen und Ichgefühl beginnen mit Deiner Geburt. Wenn Du stirbst, nehmen sie ein abruptes Ende – absolut und vollständig. Nichts geht weiter.
• Zwischen Geburt und Tod existierst Du in einer grundsätzlich leblosen, bewußtlosen, fühllosen Welt, einer Welt ohne Seele.
• Zeit ist etwas Absolutes, das außerhalb Deiner selbst und völlig unabhängig von Dir abläuft – eine aus anfangloser Vergangenheit kommende Linie, die sich bis in die unendliche Zukunft erstreckt.
• In der Natur herrscht ein Überlebenskampf jedes Lebewesens gegen jedes andere.
• Weil Kampf das Grundprinzip der Natur ist, gibt es in menschlichem und tierischem Verhalten nur eine einzige Triebkraft: Eigeninteresse. Altruismus – das Wohl anderer über das eigene zu stellen – ist pure Illusion.
• Dein Gefühl, daß Du einen freien Willen besitzt und wählen kannst, ob Du Dich eigennützig oder mitmenschlich verhältst, ist nichts als eine vom Gehirn erzeugte Selbsttäuschung.
• Jeder »Sinn«, den Du vielleicht fühlst, ist nichts als subjektive Projektion.
• Außergewöhnliche Erfahrungen, die Du machst oder die ein anderer zu machen behauptet – Präkognition, Psychokinese, Telepathie, außerkörperliche Erfahrungen und dergleichen – können nur Halluzination oder Schwindel sein.
• Ahnen, Götter, Engel, Kami, Drala und dergleichen Wesen gibt es nicht. Sie sind lediglich unzureichende Versuche, die Natur zu erklären und handhabbar zu machen – aus einer Zeit, in der die Naturwissenschaft noch nicht die richtigen Erklärungen gefunden hatte.
• Ein »inneres« oder »spirituelles« Leben ist reiner Selbstbetrug, allenfalls tauglich als psychologischer Trost für Schwächlinge.
• Das sind die Grundannahmen hinter fast allem, was die Medien uns über die neuesten Entdeckungen in der Kosmologie, Medizin oder Verhaltenswissenschaft erzählen. Es ist der moderne Katechismus: was Du als ein intelligenter, gebildeter Erwachsener in der modernen Welt zu glauben hast. Wenn Du sagst, nach Deinem Gefühl stimme da etwas nicht und Deine Intuition sage Dir, daß es im Universum noch mehr geben muß, wird man Dich auffordern, nicht so irrational zu sein, sondern Dich zusammenzureißen und den Tatsachen ins Auge zu blicken.
• Wir leben, als wären unsere Körper isolierte Materieklumpen. Deshalb verlieren wir die Gesundheit schenkende Verbindung zur Erde.
Wir leben, als existierten wir in totem, leerem Raum. Deshalb muß all unsere Energie und Einsicht von innen kommen, und wir leben ständig in der Angst, daß uns die Energie ausgeht.
Wir leben so, als zöge die Zeit sich tatsächlich wie eine Linie von der Vergangenheit in die Zukunft. Deshalb ruhen wir nie im Augenblick.
Wir leben so, als hätte unser Geist seinen Ort irgendwo in unserem Körper und ginge von da aus. Deshalb fürchten wir den Tod als vollständige Auslöschung.
Wir leben, als wären wir Beobachter in einer Welt der Objekte, die von einem Augenblick zum nächsten gleich bleiben und die wir wahrnehmen wie eine Kamera, die Aufnahmen macht. Deshalb schauen, hören, schmecken, riechen, berühren wir niemals wirklich.
Wir leben, als gehorchten unsere Körper, unsere Emotionen, unsere Umwelt ausschließlich mechanischen Gesetzen, denen wir uns nur fügen können, wenn wir nicht sinnlos gegen sie ankämpfen wollen – darüber hinaus gibt es nichts. Deshalb ist es nutzlos, sich für ein »darüber hinaus« zu üben; alles Üben kann allenfalls Überlebenstraining oder Unterhaltung sein.
Wir leben, als wären unsere anerzogenen Überzeugungen die einzige Wahrheit. Deshalb verengt sich unsere Wahrnehmung, und die Heiligkeit einer verzauberten Welt wird zur Bedrohung unseres »gesunden Menschenverstands«.
Das ist die tote Welt.
• Ist es da noch überraschend, daß so viele Menschen so verzweifelt sind? Ist es verwunderlich, daß die Selbstmordraten immer höher steigen und viele bei ihrer verzweifelten Suche nach etwas Lebendigem zu Drogen greifen? Die tiefste Sehnsucht aller Menschen – die lebendige Wirklichkeit der Welt, die Seele der Welt zu fühlen – wird durch diese Geschichten in uns erstickt, bevor wir sie auch nur richtig erleben konnten.
Aber was tun? Wir haben es bis obenhin satt, Dinge glauben zu müssen, die uns nicht einleuchten. So können wir jetzt auch nicht einfach beschließen, an die lebendige Welt zu glauben. Wir können uns nicht einfach einen netten neuen Glauben überstreifen, als würden wir uns einen schönen neuen Mantel über den schmutzigen alten ziehen.
Die Geschichte, mit der wir aufgewachsen sind, läßt uns die lebendige Welt nicht sehen – da liegt ja das Problem. Wir können wieder in einer lebendigen Welt leben, aber nur wenn wir sie sehen oder zumindest um uns her spüren. Und wir können sie nur spüren, wenn uns nichts hindert, an sie zu glauben.
Ich will Dir damit nicht sagen, daß die Tote-Welt-Geschichte gänzlich falsch ist. Beide Welten, die lebendige und die tote, existieren nebeneinander. Sie sind, wie Du später immer deutlicher sehen wirst, dieselbe Welt, nur aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Aber die tote Welt ist so schrecklich unvollständig, wenn wir sie mit der lebendigen vergleichen. Das ist wie ein Schwarzweiß- und ein Farbfoto derselben Szene: Das Schwarzweißbild gibt die Szene nicht etwa falsch wieder, es hat vielmehr seine ganz eigene Schönheit und etwas besonders Klares; aber es läßt die gesamte Dimension der Farbe weg.
Aber wir sind alle in der toten Welt aufgewachsen und zum Glauben an die tote Welt erzogen worden, und so leben wir vor allem in dieser Welt, was auch immer wir sonst noch glauben mögen. Um die lebendige Welt wieder fühlen zu können, müssen wir ein bißchen investieren, damit sich unser tiefsitzendes Empfinden der Welt ändern kann. Auf dieser tiefen Ebene unseres Empfindens wird nämlich Deine Wahrnehmung konditioniert, und deshalb erlebst Du die Welt als tot.
Zwei Dinge können hilfreich sein, wenn Du an diesem tiefen Gefühl etwas ändern