Liebe, Wissenschaft und die Wiederverzauberung der Welt. Jeremy W. Hayward. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jeremy W. Hayward
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783867812443
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wohl gesagt haben, daß es Feen nicht gibt; und wenn Kindern das Sehen von Feen verboten wird, verlieren sie auch bald die Fähigkeit dazu.

      Trotzdem gibt es immer noch überraschend viele Begegnungen mit solchen »Märchenwesen«, manche erschreckend, manche wohlwollend. Katharine Briggs beispielsweise, eine bekannte britische Folkloristin, bekam von einer Freundin folgende Geschichte erzählt. Ihre Freundin hatte sich den Fuß verstaucht und saß im Londoner Regent’s Park auf einer Bank. Während sie überlegte, woher sie die Kraft nehmen sollte, nach Hause zu humpeln, sah sie plötzlich ein winziges, grün gekleidetes Männchen vor sich, das sie freundlich anblickte und dann sagte: »Geh nur heim. Wir versprechen dir, daß dein Fuß dich heute nacht nicht plagen wird.« Dann verschwand es. Und auch der heftige Schmerz in ihrem Fuß war weg. Sie konnte mühelos nach Hause gehen und schlief in der Nacht ohne Schmerzen.

      Vor ein paar Jahren habe ich in Frankreich in einem zum Zen-Zentrum umgebauten alten Château unterrichtet. Das war eine sehr intensive Zeit, denn dort wurde nicht nur geredet, sondern wir haben auch meditiert und die »Götter« eingeladen, sich zu uns zu gesellen. Eine junge deutsche Teilnehmerin fing nach der Hälfte des Kurses an, einen in grüne mittelalterliche Tracht gekleideten Mann vor dem Fenster zu sehen. Sie wußte, daß das kein Mensch sein konnte, und bekam Angst. Sie sagte, sie habe solche Wesen als Kind gesehen, diese Gabe dann aber unterdrückt und seit zwanzig Jahren nichts dergleichen mehr wahrgenommen. Ich redete ihr zu, keine Angst zu haben, sondern den Herrn zu fragen, was er wolle. Gegen Ende des Kurses erzählte sie, er habe ihr gesagt, er sei der Beschützer des Landes und des Châteaus. Er sehe nur immer wieder mal nach dem Rechten, um sich zu vergewissern, ob wir Zen-Leute das Land auch achtungsvoll behandelten.

      • Ähnlich wie die Welt des mittelalterlichen Europas ist auch die Navajo-Welt von einer subtilen Lebendigkeit und Kraft durchdrungen. Die Navajo sprechen von den Heiligen Leuten, diyin dine’e, die das lebendige Herz aller Menschen, Tiere, Pflanzen und unbelebten Dinge sind. Jedes sichtbare Ding hat seine unsichtbare Seite, sein diyin dine’e. Und so gibt es Berg-Leute, Sternen- Leute, Fluß-Leute, Regen-Leute, Maus-Leute und so weiter. Alle in der Natur vorkommenden Dinge wie Berge, Mesas, Caflons, Höhlen, Felsen, Flüsse, sogar die Witterungsbedingungen und das Licht sind Wohnstätten der Heiligen Leute.

      »Ich habe als Kind gelernt, daß sie die Seele der Dinge sind«, sagt der Navajo-Künstler Baje Whitethorne von den Heiligen Leuten, »die Seele aller Dinge, aller lebendigen Dinge. So wie Gott die Seele aller Dinge sein muß, weil er ja überall ist, so sind sie es in der Navajo-Tradition, in unserer Religion. Sie sind die Seele der Dinge … Sie waren in den Steinen oder in den Bäumen, eigentlich so gut wie überall.«

      »Wenn ich früh morgens nach draußen gehe«, sagt Kalley Musial, ein Navajo-Töpfer, »bete ich zum Wind, zum Neusein des Lebens; nicht zu irgendwem Bestimmten, sondern zu den Vögeln, den Pflanzen, einfach zum Leben überhaupt. Ich bete zum Morgengrauen, das ja das Erwachen des Lebens ist – für die Pflanzen, für die Vögel, für uns.

      Wenn ich mittags bete, bete ich zur Sonne, die uns Wärme und Leben und Wachstum schenkt. Wenn ich abends bete, bete ich wieder zum Wind, zu allem um mich her, zur Luft, zu dem, was der Abend bringt. Wir beten zu allen, zu allem. So als wäre Gott da draußen, die Essenz von Leben, Luft, Regen, allem.«

      In mancher Hinsicht sind die Heiligen Leute den Navajo sehr ähnlich. Sie sehen wie Menschen aus und leben auch ungefähr so wie die Navajo. Aber sie haben keinen Körper aus Materie. Ihr Körper ist mehr wie Wind oder Licht oder, wie die Navajo sagen, Heiliger Wind.

      Wind ist das Symbol der universalen Lebensenergie, die in allen Dingen ist und ihre Lebendigkeit ausmacht. Diese Energien sind normalerweise nicht zu sehen, sondern nur an ihren Wirkungen zu erkennen, wie ja auch der normale Wind nicht direkt, sondern nur an den Bewegungen der Äste oder der Wolken sichtbar wird. Am Menschen bezeichnet man den subtilen, normalerweise nicht sichtbaren Wind als Inneren Wind. Die Heiligen Winde aller Einzeldinge sind eigentlich nichts Getrenntes. Sie sind alle Teil des Einen Windes, und die lebendige Energie des Windes durchströmt jeden noch so fest erscheinenden Gegenstand.

      Peter Gold schreibt in seinem Buch über die heilige Weisheit der Navajo und der Tibeter: »Der Heilige Wind ist eine glitzernde, pulsierende, atmende Verschmelzung aller belebenden Energien eines lebendigen Kosmos. Er ist die Kraft hinter dem Universalen Geist, die alle Elemente und Phänomene des Kosmos durchdringt.« Zusammen erzeugen der Heilige Wind und der Universale Geist einen Seinszustand, der ho’zho genannt wird. Dieses Wort wird meist mit »Schönheit« übersetzt, bedeutet aber auch Harmonie, Glück, Gesundheit, Ausgewogenheit.

      Der Unterschied zwischen den Heiligen Leuten und uns besteht darin, daß die Heiligen Leute gänzlich in diesem Ho’zho-Zustand leben, sie sind völlig eins mit den Kräften und Rhythmen und der ganzen Ordnung des Kosmos. Auch wir können bei aller Unvollkommenheit den Ho’zho-Zustand erreichen, weil wir aus demselben Stoff sind wie die Heiligen Leute. Wir sind Emanationen der alles durchdringenden Einheit und Kraft des Ho’zho.

      Für einen traditionellen Navajo kommt es vor allem anderen darauf an, gemäß dem Ho’zho-Prinzip von Ausgewogenheit, Frieden und Schönheit zu leben. Das ist das Ziel des alltäglichen Handelns und der Gebete. So sagt der Navajo-Künstler Jimmy Toddy: »Jedes Gebet fängst du an mit ›Schönheit vor mir, Schönheit um mich her, Schönheit auf meinem Weg‹. Ho’zho – so geht das Gebet. Jedes Gebet sprichst du damit – Schönheit, Schönheit.«

      • Die Shinto-Religion Japans ist der Weg der kami, meist mit »Götter« übersetzt. Aber Shinto ist eigentlich eine Lebensweise, wie der japanische Shinto-Experte Sokyo Ono sagt, »ein Amalgam aus Einstellungen, Ideen und Vorgehensweisen, die im Laufe von mindestens zwei Jahrtausenden tiefe Wurzeln im japanischen Volk geschlagen haben«. Kami ist für ihn ein Ehrentitel für edle, heilige Geister. Es schwingt etwas von Achtung, Liebe und Ehrfurcht darin mit. »Alle Wesen haben solch einen Geist«, sagt er, »und das heißt, daß man in gewissem Sinne alle Wesen als Kami oder potentielle Kami ansehen kann.«

      In der Shinto-Welt gibt es wie bei den Navajo keinen allmächtigen Gott als Schöpfer von allem und als Herrscher über alles. Die Welt ist selbsterschaffen, und zu dieser Selbstschöpfung kommt es, weil die Kami – indem jeder seine besondere Aufgabe erfüllt – harmonisch zusammenwirken. Die Kami sind gegenwärtig in Wachstum, Fruchtbarkeit und Produktion, in Naturerscheinungen wie Wind und Donner, in der Sonne, in Bergen, Flüssen, Bäumen und Felsen und in manchen Tieren. Kami sind die Hüter des Landes und die Herz-Energien der Berufe und Fertigkeiten. Sie sind die Geister der Ahnen, der Nationalhelden, der Menschen, die Großes vollbracht haben oder von außergewöhnlicher Tugend sind, und all jener Menschen, die etwas für Zivilisation und Kultur und das Wohl der Menschen getan haben.

      Wie erfahren die Japaner ihre Kami? Sokyo Ono schreibt: »Die Japaner selbst haben keine klaren Vorstellungen, was die Kami angeht. Sie wissen auf einer tiefen Ebene ihres Bewußtseins intuitiv um die Kami und kommunizieren direkt mit ihnen, ohne sich eine begriffliche oder theologische Vorstellung von ihnen gemacht zu haben. Das ist seiner Natur nach und grundsätzlich vage und daher nicht explizit und klar darzulegen.«

      Dazu paßt eine Geschichte, die der Mythologe Joseph Campbell erzählt. Er nahm an einer Konferenz über Religion in Japan teil und hörte während dieser Konferenz, wie ein Sozialphilosoph aus New York zu einem Shinto-Priester sagte: »Wir haben jetzt eine ganze Menge Zeremonien erlebt und etliche Kami-Schreine besucht, aber Ihre Ideologie, Ihre Theologie, verstehe ich immer noch nicht.« Der Japaner hielt wie gedankenversunken inne, wiegte dann bedächtig den Kopf und sagte: »Ich glaube, wir haben keine Ideologie, wir haben keine Theologie – wir tanzen.«

      In Japan findet man auf dem Land allenthalben kleine Kami- Schreine, als deren Standorte stets Kraftpunkte ausgewählt werden. Jeder Garten, jedes Haus hat mindestens einen Schrein, der den Kraftpunkt markiert. Solch ein Schrein muß nicht aufwendig sein; ein Seil oder eine Gruppe von Steinen, die ein Stück Boden abgrenzen, können genügen. Es kann auch ein kleines hölzernes Häuschen sein mit einer Öffnung, in die man frische Blumen stellen kann.

      Die meisten alten Japaner achten die Kami noch, und zwar unabhängig davon, ob sie Buddhisten oder Christen oder Shintoisten sind oder gar keiner Religion angehören. Sie spüren die Gegenwart der Kami