In späteren Briefen werde ich häufig noch darauf zurückkommen, wie vorgefaßte Anschauungen ständig die Welt hervorbringen, die wir wahrnehmen. Das ist ein allgegenwärtiges Prinzip, schwer zu durchschauen und schwer zu überwinden. Im nächsten Brief möchte ich Dir jedoch zunächst ein paar Beispiele für andere Geschichten geben, von anderen Welten, in denen Menschen auch leben können.
2. Brief
Geschichten mit Gefühl,
Geschichten mit Seele
Liebe Vanessa,
wie ich gestern versprochen habe, möchte ich im heutigen Brief etwas über die vielen Gesellschaften schreiben, in denen die Erfahrung der magischen Welt nicht verlorenging. Und ich möchte mit einer gar nicht so fernen Welt beginnen, mit dem mittelalterlichen Europa.
Das mittelalterliche Universum war von lebendigen und fühlenden Wesen aller Art bevölkert – von den Pflanzen und Tieren über Menschen, Geister und Engel bis hinauf zum Geist des einen Gottes der Christenheit oder bis hinunter zum Geist des Teufels. Jedes nur erdenkliche Wesen, so glaubten die Menschen, mußte aufgrund der unendlichen Großzügigkeit des Schöpfers existieren. Diese Große Kette des Seins oder der Wesen reichte vom Teufel und seinen Bediensteten über das Pflanzen- und Tierreich (zu dem auch die Frauen gehörten!) bis zum Menschen (also eigentlich zum Mann) und über ihn hinaus bis zu den Engeln und zu Gott.
Der eine Gott war in der Höhe, außerhalb seiner Schöpfung, aber sein Geist war in allen Wesen lebendig. Die christliche Kirche übernahm also das heidnische Empfinden, daß Gott sich der Welt der Phänomene aufprägt und sich in ihr bekundet. Engel waren damals noch nicht diese etwas dicklichen Kleinkinder mit Flügeln, wie man sie heute sieht, und auch nicht bloße Beschützer, die den Menschen nach Bedarf zur Seite stehen, sondern machtvolle, furchteinflößende Wesen, die dem »allmächtigen« Gott näher standen als die Menschen. Manche waren ursprünglich heidnische Gottheiten, die die Kirche sich aneignete, um den Menschen ein Gefühl von Kontinuität zu geben.
Was im Himmelreich war, spiegelte sich auf Erden wider. Daher der bekannte Satz »Wie oben, so auch unten«. Deshalb verstand man damals unter »Divination« oder Weissagung die Fähigkeit, das Göttliche hinter allen Erscheinungen zu erkennen. Es wurde noch nicht wie heute zwischen psychisch und physisch oder innen und außen oder wörtlich und symbolisch unterschieden. Es herrschte ein Gefühl der Zugehörigkeit, der Verbundenheit aller Phänomene.
Und neben dem katholischen Glauben und seinen Dogmen bestanden komplizierte Systeme der Astrologie, Alchimie und Magie. Alle diese Traditionen hatten kontemplative Anteile, die das Studium von Sympathiebeziehungen oder Resonanzen einschlossen. Die, die diese spirituellen Traditionen lebten, lernten die Resonanzen zwischen den verschiedenen Ebenen der Schöpfung zu fühlen, etwa zwischen dem Sonnensystem und Teilen des menschlichen Körpers oder auch zwischen den verschiedenen Metallen und Pflanzen. Sie glaubten, daß sie durch die Kontemplation der in der Natur erkennbaren Verbindungen intuitiv die Verbindungen auf anderen Ebenen erfassen konnten.
Für den heutigen Wissenschaftler sieht es so aus, als hätten die Alchimisten untersucht, wie sich die verschiedenen Metalle und andere Elemente, wie etwa Schwefel, verbinden. Das waren, so wird uns gesagt, ganz einfach die Anfänge der Chemie. Doch tatsächlich ging es den Alchimisten auch darum, wie die verschiedenen Elemente der Persönlichkeit, die Metallen und anderen chemischen Elementen entsprachen, sich verbinden. Bei der Arbeit mit den Elementen glaubten die Alchimisten auch, daß sie ihre eigene geistige Natur verwandelten.
Anscheinend waren den Menschen des Mittelalters Bewußtseinsbereiche zugänglich, von denen heutige Wissenschaftler und unsere Kultur im allgemeinen nichts mehr wissen. Manche Autoren sprechen hier vom partizipierenden oder teilnehmenden Bewußtsein, und damit ist echte Erkenntnis durch Einswerden des Subjekts (des Ich) mit seinem Gegenstand gemeint.
Heute glauben wir, daß wir über einen Gegenstand nur dadurch etwas in Erfahrung bringen können, indem wir ihn als etwas von uns Getrenntes untersuchen. Beim partizipierenden Bewußtsein geht es aber gerade darum, daß der Mensch an einem Gegenstand teilhat. Er weiß um die Übereinstimmungen und Entsprechungen zwischen allen Dingen, und er fühlt die Sympathie- und Antipathiebeziehungen zwischen ihnen. So sahen und praktizierten es die Alchimisten, die keinen Unterschied zwischen geistigen und materiellen Vorgängen anerkannten. Der Historiker Morris Berman schreibt: »Es ist nicht nur so, daß sich die Menschen jener Zeit die Materie als mit Geist begabt vorstellten, nein, die Materie besaß damals tatsächlich Geist.« Und er fragt: »Was ist hier der veränderte Bewußtseinszustand? Warum ist die heutige Anschauung leichter zu glauben?«
Die Menschen nahmen Dinge in ihrer Welt wahr, die wir heute schlichtweg nicht mehr kennen. Die mittelalterliche Welt war tatsächlich magisch, sie war verzaubert. Die Leute vermochten neben den gewöhnlichen Menschen noch alle möglichen anderen Wesen zu sehen – Engel, Gespenster, Feen, Naturgeister. Sie glaubten nicht nur an diese Wesen, sondern sahen sie tatsächlich oder meinten das zumindest. Es gibt viele Berichte von Begegnungen zwischen Menschen und Engeln oder Dämonen und Feen, und sie sind so nüchtern abgefaßt, daß wir keinen Grund haben, sie für bewußte Fälschungen zu halten.
Die Historikerin Carolly Erickson beispielsweise berichtet von einem Mönch des Klosters Byland in Yorkshire, der etliche in dieser Gegend vorgekommene Begegnungen zwischen Menschen und Bewohnern anderer Bereiche aufzeichnete. »In einer dieser Geschichten«, schreibt sie, »geht es um einen Schneider namens Snowball, der einem Geist begegnete und dadurch samt seinen Nachbarn und der örtlichen Geistlichkeit in eine längere Auseinandersetzung mit dem Körperlosen hineingezogen wurde.«
Sie erzählt weiter: »Eines Abends auf dem Heimritt umflatterte ein Rabe Snowballs Kopf und fiel dann wie sterbend zu Boden. Als dem Tier Funken aus den Seiten stoben, wußte Snowball, daß er es hier mit einem Geist zu tun hatte. Er bekreuzigte sich in Gottes Namen, damit ihm kein Schaden geschehe.« Er wurde noch zweimal von dem Geist angegriffen, bevor er sich entschloß, ihn zu fragen, was er wolle. Anscheinend war dieser Geist in irgendeinem sehr unerfreulichen Bereich gefangen, weil er in seinem Leben als Mensch etwas Böses getan hatte. Jetzt brauchte er einen Priester, der ihm die Absolution erteilte. Er traf eine Abmachung mit Snowball, der daraufhin für einige Tage krank wurde und dann den Priester holen ging. Der Geist konnte schließlich erlöst werden, und zum Dank sagte er Snowball die Zukunft voraus. Erickson zieht aus solchen Berichten folgenden Schluß:
Hinter der Wahrnehmung mittelalterlicher Menschen stand ein umfassendes Bewußtsein von simultanen Wirklichkeiten … Es bestand ein Wahrnehmungsklima, in dem unkörperliche Wesen für den Klerus wie fürs Volk eine nicht nur vertraute, sondern in gewissem Umfang auch handhabbare Erscheinung darstellten. Überall waren über das normale Sehen hinaus ungewöhnliche Erscheinungen wahrzunehmen – ungewöhnliche Naturereignisse, Omen, Traumbotschaften der Verstorbenen, göttliche und höllische Warnungen, Erleuchtungen, Zukunftsvisionen … Das Mittelalter verstehen heißt sich einer Bewußtseinsqualität anzunähern, die unsere moderne Bildung gerade diskreditieren möchte. Das Visionäre, für den rationalistischen Historiker peinlich und beunruhigend, war im Mittelalter keine Verirrung, sondern Gemeingut, nicht außerweltlich, sondern natürlich, eine Selbstverständlichkeit.
• Und die Begegnung mit unkörperlichen Wesen ist nicht einfach eine Sache der grauen Vergangenheit. W. Y. Evans-Wentz war Anthropologe und Religionswissenschaftler und einer der ersten, die Texte des tibetischen Buddhismus übersetzten. Zu Anfang unseres Jahrhunderts verbrachte er zwei Jahre in Irland, Schottland und Wales und sprach mit alten Leuten, die noch Feen sehen und hören konnten. Diese Feen hatten wenig mit den niedlichen kleinen Wesen gemein, die man in heutigen Kinderbüchern sieht. Sie hatten die Größe von Menschen und sahen auch Menschen ähnlich, nur waren sie durchscheinend und leuchteten und trugen Kleider einer vergangenen Zeit. Man beobachtete sie bei allen möglichen Gelegenheiten – bei Prozessionen und Riten, bei der Jagd oder auch wenn sie Menschen halfen. Und sie wurden nicht nur von einigen wenigen gesehen, sondern von vielen.
Als Evans-Wentz einen älteren Mann auf der Isle of Man fragte, weshalb die jüngeren Leute diese Wesen