Wie wir unsere Welt fühlen und erleben, hängt sehr davon ab, was wir von ihr glauben – von den Geschichten, die wir uns über sie erzählen. Wissenschaftler erzählen uns die Geschichten, die aus unserer Welt »die moderne Welt« machen. Falsch verstandene und falsch angewendete Wissenschaft, über Generationen hin, hat bei uns eine Art Gehirnwäsche bewirkt, so daß die meisten von uns schon mit siebzehn nicht mehr ihr Eingebundensein in eine von Leben erfüllte Welt empfinden können. Wir wissen nicht einmal mehr, daß es solch eine Welt überhaupt gibt. Wir geben es vielleicht nicht gern zu, aber die meisten fühlen sich wie abgeschnitten und hoffnungslos in einem Universum, das, wie wir glauben, sich selbst völlig gleichgültig ist und gegenüber seinen Teilen erst recht.
Aber ich will hier gleich am Anfang betonen, daß diese Briefe keinesfalls eine wissenschaftsfeindliche Haltung vertreten wollen. Die Wissenschaft wurde gegen die magische Welt ausgespielt, aber sie könnte ebensogut für sie sprechen. Das Problem liegt nicht in der Wissenschaft selbst, sondern darin, daß die Tote-Welt-Geschichte, in die Sprache der Wissenschaft gekleidet, stets im Interesse religiöser, kommerzieller, politischer und anderer Glaubenssysteme erzählt wurde. Man könnte nun sagen: »Gut, aber ich habe auf der Schule nicht viel Wissenschaft mitbekommen« oder »Den Physikunterricht auf der Schule fand ich einfach nur doof, also gilt das für mich nicht.« Aber unsere Konditionierung reicht viel tiefer und rührt nicht nur von unseren direkten Begegnungen mit Wissenschaft her. Sie beginnt mit allem, was wir von Geburt an sehen und berühren; sie setzt sich fort in allem, was wir hören, sobald wir sprechen können, und schließlich dann in allem, was wir lesen. Die tote Welt ist in uns allen. Wir alle, ob wir es wissen oder nicht, sehen die Welt von Kindesbeinen an unter dem Gesichtspunkt dessen, was die Wissenschaft erzählt. Wenn wir das nicht erkennen und im Innersten spüren, werden wir die Erzählungen der Wissenschaft ohne zu fragen für bare Münze nehmen und danach leben. Und dann ist sie ganz besonders gefährlich.
Die Menschen anderer Gesellschaften erzählen sich ganz andere Geschichten von der Welt als wir. Sie nehmen die Welt offenbar auch anders wahr, nämlich so, wie es in ihren Geschichten steht.
Die unterschiedlichen Geschichten sind das, was die Gesellschaften so verschieden macht. Worin besteht der Unterschied zwischen in Japan geborenen und aufgewachsenen Japanern und Amerikanern japanischer Herkunft? Natürlich spielen hier viele Faktoren eine Rolle, aber die Geschichten, die sie als Kinder und Jugendliche unbewußt in sich aufgenommen haben, sind ein ganz entscheidender Faktor. Eine unter Navajos aufgewachsene Navajofrau unterscheidet sich ganz erheblich von einer Frau gleicher Herkunft, die in der Stadt aufgewachsen ist: Sie bekamen als Kinder nicht die gleichen Geschichten erzählt.
Die Geschichten, die uns als Kinder erzählt werden, sagen uns, was wir in der Welt als real zu erleben haben. Wir denken gern, unser Realitätsverständnis beruhe auf dem, was wir sehen und hören. Doch das stimmt nur teilweise. Das Gegenteil ist genauso wahr: Was wir sehen und hören ist bestimmt durch das, was wir für real halten.
Um zu zeigen, was ich meine, will ich Dir ein paar Beispiele geben. Charles Darwin, dem die Formulierung der Evolutionstheorie zugeschrieben wird, umsegelte auf einem großen Schiff, der Beagle, die ganze Welt. Während dieser Reise machte er sehr viele Beobachtungen; zum Beispiel legte er genaue Aufzeichnungen über die verschiedenen Finken-Arten auf den Galapagos-Inseln an. Er war ein sehr scharfer, sehr genauer Beobachter. Es gab etwas, was ihn ganz besonders erstaunte: Wenn die Beagle weit draußen vor Anker lag, konnten die Inselbewohner das Schiff nicht »sehen«, auch dann nicht, wenn man es ihnen direkt zeigte. Die kleinen Ruderboote, die zwischen der Beagle und der Insel pendelten, nahmen sie ohne weiteres wahr; diese Boote waren wohl ungefähr so groß wie die Kanus der Eingeborenen. Aber sie waren außerstande, weit draußen etwas zu sehen, was sie als Wasserfahrzeug hätten erkennen können. Sie glaubten nicht, daß ein Schiff so groß sein könne, also sahen sie es nicht.
Noch ein Beispiel, wie Menschen etwas nicht sehen können, woran sie nicht glauben. Vor Jahren hat Jerome Bruner, ein Psychologe der Harvard University, Experimente zur Psychologie der Wahrnehmung durchgeführt. Bei einem dieser Experimente sollten die Studenten durch eine Röhre schauen, an deren Ende Bilder von Spielkarten aufblitzten (mit Hilfe einer Apparatur, die Tachistoskop genannt wird). Es wurden zwei Serien gezeigt, eine mit normalen Spielkarten, eine mit vertauschten Farben; im letzteren Fall waren also Herz und Karo schwarz statt rot und Pik und Kreuz rot statt schwarz. Es fiel den Studenten viel schwerer, die farbverkehrten Karten zu erkennen, und manchmal setzten sie zu umständlichen Erklärungen an, um das, was sie sahen, umzudeuten und ins normale Schema einzupassen. Ein Student sagte von einer roten Pik Sechs, sie sei schwarz, aber das Licht im Tachistoskop sei irgendwie rötlich. Diese Grundtatsache ist auch in vielen anderen Experimenten gezeigt worden: Dinge, an die wir nicht glauben oder die wir nicht erwarten, sehen wir normalerweise nicht.
Und unsere Erwartung färbt auch die Art und Weise unseres Sehens (Hörens, Riechens und so weiter). Betrachte beispielsweise die beiden Bilder auf der nächsten Seite. Das untere ist eine Strichzeichnung nach dem Bild, das van Gogh von seinem Zimmer in Arles gemalt hat. Das obere Bild zeigt dasselbe Zimmer mit »korrekten« Fluchtlinien. Wenn ich Dich fragte, welches Bild dieses Zimmer genauer darstellt, wirst Du zuerst vermutlich sagen: »Das obere.« Aber das untere zeigt, wie van Gogh das Zimmer wirklich sah.
Wenn Du das Zimmer betrachtest, in dem Du eben jetzt sitzt, wirst Du es vermutlich so sehen, als gäbe es hier Fluchtlinien, also in korrekter Perspektive wie auf dem oberen Bild. Aber wenn Du Deinen Blick weicher machst und Deine augenblickliche Umgebung so zu sehen versuchst wie auf dem unteren Bild, wenn Du Dir vorstellst, daß es möglich ist – vielleicht geht es dann wirklich. Früher hat man gedacht, van Gogh sei wahnsinnig gewesen, aber heute wird uns klar, daß er die Welt vermutlich nur ohne die Filter gesehen hat, durch die wir sie betrachten – in diesem Fall durch den Filter der »korrekten Perspektive«. Vielleicht sind seine Bilder deshalb so lebendig und voller Bewegung. Die Farben sind so klar, die Linien so voll, und sie fließen in Bögen und Wirbeln, als hätte er eine Welt voller Leben und Energie gesehen. Er fühlte die Welt wahrhaft, und er sprach auch darüber: »Die Natur, die wir sehen, und die Natur, welche wir fühlen, die dort draußen und die hier drinnen, müssen einander durchdringen, um bestehen, um leben zu können.« Aber wenn wir die Welt nur entlang von Fluchtlinien sehen, fühlt sie sich flach und tot an.
Das erinnert mich an eine Anekdote, die von Picasso erzählt wird. Einmal wurde er von einem Mann gefragt: »Warum malen Sie die Menschen nicht so, wie sie wirklich sind?«
Picasso fragte: »Wie sind sie denn wirklich?«
Der Mann holte ein Foto von seiner Frau heraus und sagte: »Na, so.«
Picasso sagte: »Furchtbar klein und flach, oder?«
Die Menschen im Westen haben die Welt nicht immer wie durch ein Raster von Geraden gesehen. Diese Art des Sehens wurde erst im fünfzehnten Jahrhundert durch den italienischen Architekten Filippo Brunelleschi eingeführt. Ältere Bilder haben noch keine Perspektive, und auf ihnen wirken die Menschen manchmal wie an einer Wand flachgedrückt. Du hast vielleicht schon mittelalterliche Gemälde dieser Art gesehen. Brunelleschi stellte fest, daß er Szenen lebensnaher zeichnen konnte, wenn er Fluchtlinien zwischen sich selbst und der Szene dachte. Er zeichnete die Linien wirklich aufs Papier und konnte so den Eindruck von Tiefe erzielen, indem er Gegenstände und Personen in den von den Linien vorgegebenen Größenverhältnissen abbildete.
Abb. 1
Die Fluchtlinienbetrachtung der Welt wurde eine regelrechte Mode. Jeder wollte jetzt so malen, und auch die Gebäude wurden immer gerader. Wo man die Straßen früher in Kurven durchs Dorf geführt hatte, weil das einen besseren Windschutz ergab, entstanden jetzt Ortschaften mit schnurgeraden Verkehrsschneisen. Heute sind wir an diese Art des Sehens so sehr gewöhnt, daß wir sie für »natürlich« halten. Aber in der Natur gibt es kaum gerade Linien. Hast Du mal beobachtet, wie unsere Haustiere, Sernyi und Peter, über