Wenn Menschen sich der Meditation zuwenden, ohne zu erkennen, wie sehr sie den Glauben an die tote Welt verinnerlicht haben, werden ihre Praxis und ihre spirituellen Überzeugungen oft kaum mehr sein als eine Art neuer Anzug oder Mantel, ein Facelifting, das einem ein besseres Gefühl gibt, aber im Grunde nichts ändert. Eine Absicht dieses Buches ist daher, Ihnen, in welcher Tradition auch immer Sie meditieren, zu zeigen, wie man sich einen Weg zurück durch unsere Konditionierung auf die Tote-Welt-Geschichte bahnen kann, zurück zu einem tieferen Fühlen und Wahrnehmen.
Andererseits sind viele von tiefer spiritueller Sehnsucht nach der verzauberten Welt erfüllt, doch wenn sie hören, daß Meditation ihnen helfen kann, diese Welt zu sehen, halten sie das für Unsinn, weil die Wissenschaft es sagt. Das ist Unsinn, und sehr traurig. Ein weiterer Grund, dieses Buch zu schreiben, ist also, daß ich Ihnen, die Sie die Welt der Wissenschaft achten und trotzdem gern die verzauberte Welt sehen möchten, zeigen will, wie Sie in beiden Welten als einer einzigen leben können.
Am traurigsten ist aber, daß junge Menschen der Generation meiner Tochter mit einem Gefühl tiefer Verletzung, Niedergeschlagenheit und Verlorenheit aufwachsen. Sie sehen die tote Welt, sie hören von Menschen, die es wissen müssen, nur von der toten Welt. Doch wenn sie sich treffen, reden sie von etwas ganz anderem. Sie wissen, daß die tote Welt nicht alles ist; aber wie das, was es noch geben muß, zu entdecken ist, wissen sie nicht. Und so enden viele auf der Suche nach etwas Realerem bei Drogenkonsum oder sogar bei Selbstmord. Deshalb adressiere ich diese Briefe an meine Tochter und ihre Generation: um einen Weg zu zeigen, wie man weitergehen und dabei das Lied der verzauberten Welt singen kann.
Denn die tote Welt ist nur ein winziger Bruchteil des Ganzen. Die Welt ist schon verzaubert – wirklich, hier, jetzt! Jeder Baum, jeder Stein, jeder Stern, ja der Raum selbst hat Bewußtsein und die Energie des Lebens. Es ist uns gegeben, das zu fühlen. Und es gibt Energiemuster, die deutlich zu fühlen, aber für gewöhnlich nicht zu sehen sind. Nennen Sie sie Götter, Dämonen, Feen, Engel, Dralas, ja sogar bedeutsame Koinzidenzen – nennen Sie sie, wie Sie wollen. Und diese Geschichte von allgegenwärtiger Bewußtheit hätte man uns neben der so kleinen und kleinmütigen Geschichte von der toten Welt auch erzählen können, als wir aufwuchsen. Und auch sie hätte man im Namen der Wissenschaft erzählen können. Das ist die Botschaft dieses Buches.
Ich wünsche Ihnen viel Spaß mit diesen Briefen an meine Tochter. Nehmen Sie sie nicht zu ernst. Möge es Ihnen Mut machen.
1. Brief
Die lebendige Welt unserer Kindheit
Liebe Vanessa,
wenn wir klein sind, erleben wir die Welt, unsere Welt, als magisch, lebendig, heilig. Aber wenn wir dann größer werden und Schule, Fernsehen, Erwachsenengespräche, Illustrierte und so weiter lange genug auf uns eingewirkt haben, lernen wir nach und nach, den Zauber der Welt zu ignorieren, zu vergessen und schließlich zu verleugnen. Beinahe unbewußt eignen wir uns die Vorstellung an, die magische Welt sei kindisch und unwirklich und Kindisches müsse man ablegen.
Wenn ich also dieses kleine Buch aus Briefen an Dich schreibe, möchte ich Dir zeigen, daß die Welt, in der wir leben, doch etwas Lebendiges und Magisches hat. Die magische Dimension unserer Welt ist real, so real wie das Jucken an Deinem Arm und die kratzende Hand. Es ist die Dimension, die Du und ich als Kinder empfanden, aber nicht beschreiben konnten. Wir konnten sie nicht beschreiben, weil keiner der Erwachsenen in unserer Umgebung je davon sprach, und folglich hatten wir keine Worte dafür. Ich möchte Dir zeigen, daß Du nicht zwischen der heiligen, magischen Welt des Kindes und der Welt des modernen Erwachsenen wählen mußt. Du kannst in beiden leben, denn sie sind eins.
Als Du in die dritte Klasse gingst, begann Dein Unterricht in der Geschichte der toten Welt. Du kamst von der Schule nach Hause und hast ganz aufgeregt, aber in sehr ernsthaftem Tonfall verkündet: »Papa, heute haben wir gelernt, was Materie ist.«
Nichts Gutes ahnend fragte ich: »Ah, und was ist Materie?«
Du sagtest: »Materie ist der Stoff, aus dem die Welt gemacht ist.«
Materie ist Stoff. Materie ist ohne Leben oder Fühlen. Es ist kein Geist in der Materie. Wir alle lernen das in der Schule. Ich war traurig und verärgert; ich wußte, daß auch Du nach und nach lernen würdest, den Geist und das Herz Deiner Welt nicht mehr zu fühlen. Wie verschieden diese aus Materie-Stoff gemachte tote Welt doch von der Welt ist, die Du als Dreijährige erlebtest! Du konntest die Dinge nicht logisch erklären, aber daß Du Deine Welt als lebendig und fühlend erlebtest, war Dir anzusehen. Du schienst Dich einer lebendigen und fühlenden Welt verbunden zu fühlen.
Einmal sind wir an einem mondhellen Abend in unserer alten Klapperkiste nach Hause gefahren, Du vorn zwischen Mama und mir in Deinen Kindersitz geschnallt. Als der Mond eine Stromleitung kreuzte, hast Du gesagt: »Kuck mal, der Mond geht runter.« Es sah wirklich so aus, als würde er sinken. Als wir zu Hause ankamen, sagtest Du: »Kuck mal, der Mond ist mitgekommen.« Du warst so froh, daß der Mond mit uns gekommen war.
Und Du hast die große Eiche auf dem Gehsteig vor unserem Haus geliebt. Ihre mächtigen Äste ragten weit über den Gehsteig und die Straße. Stundenlang hast Du mit Deinen Puppen unter diesem Baum gespielt. Du fühltest Dich wie von einem Freund beschützt. Eines Tages kamen, während Du im Kindergarten warst, die Straßenarbeiter und schnitten die Eiche so stark zurück, daß sie fast überhaupt keine großen Äste mehr hatte. Sie wirkte wie tot. Als Du nach Hause kamst, hast Du sie fassungslos angestarrt und dann geweint und geschrien und warst nicht zu trösten: »Sie haben meinem Freund weh getan!«
Natürlich erfinden Kinder Geschichten, um sich die Dinge auf eine für sie verständliche Weise zurechtzulegen. Der Mond sank nicht wie ein in die Luft geworfener Stein. Er kam auch nicht mit wie beispielsweise Freunde, die in ihrem Wagen hinter uns herfahren. Trotzdem trafen Deine Gefühle irgendwie zu. Der Mond war irgendwie »mitgekommen«, denn er hatte uns gar nicht verlassen. Was Du eigentlich bekunden wolltest, war ein Gefühl für die Verläßlichkeit und Freundschaft des Mondes und der ganzen Welt.
Auch ich habe als kleiner Junge in einer Welt voller Gefühl und Bedeutung gelebt. Die Welt war magisch, aber nicht weil ich an den Nikolaus geglaubt hätte oder an Zauberstäbe, mit denen man Gänse in Feen verwandeln kann. Meine Mutter, Deine Oma, war Protestantin, und mein Vater, Opa, war Bauingenieur, Experte für Betonbau. Sie hielten es nicht für angebracht, Kinder zum Glauben an irgendwelche unsichtbaren Wesen zu erziehen. Nein, ich empfand meine Welt als magisch, weil sie Gefühl und Güte und Leben ausstrahlte. Und ich spürte, daß dieses Leben und Fühlen in der Welt war, nicht bloß in mir.
Mein Zimmer lag nach Westen, und aus dem Fenster blickte ich über ein Weizenfeld. Ich erinnere mich, wie meine Mutter mich einmal an einem Sommerabend ins Bett brachte, als ich ungefähr sechs Jahre alt war. Draußen stand im letzten Sonnenlicht glühend der reife Weizen, und ich empfand eine stille Liebe zu diesem Weizenfeld. Dieses Gefühl breitete sich in meinem ganzen Körper aus und war so klar, daß ich mich noch jetzt, nach fünfzig Jahren, sehr genau daran erinnere.
Zwischen sechs und zehn hatte alles in meiner Welt etwas Lebendiges und Glühendes für mich. Ich trieb mich gern in dem großen Garten hinter unserem Haus in England herum. Das war an manchen Stellen ein wirklich schöner Garten mit Rosen und Staudenbeeten oder auch schattigen Ecken, in denen nichts angepflanzt war. In anderen Teilen, in denen Kartoffeln und Karotten wuchsen, wirkte er dagegen eher nüchtern und praktisch – wie Montagmorgen. Montagmorgen war nämlich Waschtag, und meine Mutter und Großmutter hatten den ganzen Vormittag mit der Wäsche zu tun, unterstützt von einer komischen alten Bottichwaschmaschine, die unter Rumpeln und Geächze ihren Dienst versah.
Wenn ich jetzt in meiner Vorstellung durch diesen