Von der Erziehung zur Einfühlung. Naomi Aldort. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Naomi Aldort
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783867813389
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Hören Sie sie verklingen und gewinnen Sie einen Augenblick in der Gegenwart. Prüfen Sie ihre Relevanz für den Moment, dann werden Sie klarer sehen. Stellen Sie sich vor, wie Sie ohne diese Stimme sein würden, dann richten Sie den Blick darauf, wie das, was Sie von Ihrem Kind erwarten, vielleicht auf Sie selbst zutrifft, und Sie werden Ihre Liebe zu sich selbst und zu Ihrem Kind spüren.

      Durch regelmäßige Übung werden Sie allmählich lernen, Ihre Gedanken mitten im Satz zu unterbrechen und deren Richtung zu ändern. Wenn das geschieht, können Sie Ihren Fehler vielleicht Ihrem Kind gegenüber einräumen, „zurückspulen“ und noch einmal von vorne anfangen.

      Wir können lernen, Nutzen daraus zu ziehen, dass wir unbefriedigend verlaufene Szenen noch einmal wiederholen, wie bei einer Theaterprobe. Sie können sogar zu Ihrem Kind sagen: „Spulen wir zurück. Ich spiele die letzte Szene noch mal.“ Mit etwas Übung werden Sie sich rechtzeitig bremsen können, so dass die negierenden Worte unausgesprochen bleiben und Sie sich mit offenem Herzen und wachem Geist Ihrem Kind zuwenden können. So spulte ein Vater, der an einem meiner Workshops teilgenommen hatte, seine Ankunft zu Hause noch einmal zurück.

       Als Norm das Haus betrat, waren überall auf dem Boden kaputte Kartons und zerbrochene Buntstifte verstreut. Er fing an, sich über das Durcheinander zu beschweren und zu verlangen, die Kinder sollten sofort alles aufräumen. Miranda, das jüngste Kind, fing zu weinen an, und ihr älterer Bruder Leon sagte: „Aber Papa, wir sind so schön am Spielen.“ „Das ist kein Spiel, all die Kartons und Buntstifte kaputtzumachen“, brüllte Norm… und dann hörte er unvermittelt mit dem Brüllen auf und sagte: „Spulen wir zurück! Lasst mich diese Szene noch mal machen.“ Theatralisch ging Norm rückwärts und verließ das Haus. Dann kam er lächelnd wieder herein. „Hallo, Kinder, wie geht’s euch?“ Er küsste jedes Kind und seine Frau und fuhr fort: „Oh, schau an, was entsteht denn hier?“ Die Kinder erklärten eifrig ihr Spiel, und seine Liebe und sein Interesse waren wiederhergestellt.

      Es erfordert Zeit und Übung, eine solche Achtsamkeit zustande zu bringen. Schließlich sind wir alle in einer Kultur aufgewachsen, in der Negieren automatisch geschieht, einer Kultur, die uns gelehrt hat, uns mit den automatischen Worten, die in unserem Inneren ablaufen, zu identifizieren. Wir negieren so gedankenlos, dass unsere Äußerungen nicht einmal dem entsprechen, was wir wirklich denken oder fühlen; wir sind nicht authentisch. Doch es wird Ihnen nicht helfen, wenn Sie sich selbst dafür verurteilen, dass Sie solch menschliche Gedanken haben. Auch Sie sollen noch wachsen; seien Sie liebevoll zu sich selbst. Fangen Sie an, indem Sie eine einfache Abmachung mit sich selbst treffen: Wenn Sie aus der Fassung geraten, sagen Sie nicht die ersten Worte, die Ihnen in den Sinn kommen; diese würden zwangsläufig jemanden negieren und verletzen. Sie können „zurückspulen“, sobald Sie sich ertappen, selbst wenn Sie schon mitten in der Szene oder sogar an deren Ende sind. Es ist nie zu spät, aus einem Albtraum aufzuwachen.

      Die negierenden Worte im eigenen Kopf zu hören und zu stoppen, ist die Grundlage dafür, wertschätzend und liebevoll zu kommunizieren. Vielleicht gelingt es Ihnen in den ersten Monaten nur ab und zu, Ihre negierenden Worte zu stoppen, doch mit der Zeit wird es die alte Gewohnheit des Kontrollverlusts und der alten Filme, die Ihr Leben beherrschen, ersetzen.

      Wenn Sie je eine neue Sprache, ein Musikinstrument oder eine andere schwierige Fertigkeit erlernt haben, wissen Sie, dass es Zeit und Wiederholung braucht, um irgendetwas zu meistern. Übung führt nicht zu Perfektion, Übung führt zu Beständigkeit. Ihre alten Gewohnheiten sind über viele Jahre eingeübt worden. Lassen Sie Ihr Kind wissen: „Das ist neu für mich. Ich lerne noch.“

      Es gibt täglich Gelegenheiten, einem schlecht gelaunten, aggressiven oder mürrischen Kind, das sich sträubt, seine Gefühle in Worten auszudrücken, seine Wertschätzung zu zeigen. In einem Beratungsgespräch erzählte mir Rebecca, eine Mutter, wie es ihr gelungen war, eine Verbindung zu ihrem Kind herzustellen.

      Weil Rebecca auffiel, dass ihr Sohn Josh nach der Schule schlecht gelaunt war, sagte sie: „Ich frag mich, wie es für dich ist. Ich weiß noch, wie es war, als ich im fünften Schuljahr war. Ich hab meinen Lehrer gehasst und hatte keine Freunde. Es war so ein unangenehmes Jahr für mich.“ Josh spitzte die Ohren, stellte ein paar Fragen und sagte dann: „Der Lehrer hat heute mit mir geschimpft, und dann haben Rob und Dan mir Grimassen geschnitten und in der Pause nicht mit mir gespielt.“ Rebecca achtete darauf, nicht nach dem Grund des Schimpfens zu fragen und keine Gefühle zu benennen. Stattdessen bemühte sie sich weiter darum, auf neutrale Weise seine Erfahrung zu spiegeln: „Oh, wie blöd.“ Josh merkte, dass seine Mutter ihn verstand, daher fuhr er fort: „Ich hasse diesen Lehrer. Egal, was ich mache, nichts ist ihm gut genug.“ „Du hast getan, was du konntest, und trotzdem hat er geschimpft und dich kritisiert?“, fragte Rebecca.

       „Ja“, antwortete Josh, „und wenn er das tut, lachen mich meine Freunde aus. Ich hasse die Schule.“

       Rebecca setzte sich neben Josh und legte ihm liebevoll die Hand auf die Schulter. Durch ihre Berührung nahm Josh seine Gefühle besser wahr. Tränen liefen ihm über das Gesicht, während er seiner Mutter weitere Einzelheiten seines Erlebnisses und noch mehr Geschichten davon erzählte, wie er in der Schule und in der Beziehung zu seiner Schwester litt. Hinterher fühlte er sich viel besser, und Mutter und Sohn fühlten sich enger miteinander verbunden und waren bereit, an produktiven Lösungen zu arbeiten.

       In den folgenden Monaten beschäftigte sich die Familie mit der Möglichkeit, ob Josh zu Hause unterrichtet werden könnte. Josh wollte in dem Jahr weiter zur Schule gehen, im nächsten Jahr entschied er jedoch, sein Lernen außerhalb der Schule selbst in die Hand zu nehmen.

      Für Kinder ist es eine Hilfe zu wissen, dass ihre Eltern auch Zurückweisung, Einsamkeit, Angst und Misserfolg erlebt haben. Als ein Vater anfing, seinem Sohn Erinnerungen aus seiner Kindheit zu erzählen, begann der Sohn ungefähr nach einer Woche aufzutauen.

      Kinder kommunizieren immer, selbst wenn sie keine Worte benutzen. Manche Kinder drücken ihre Ängste in Fantasiespielen aus. Diese Ängste können sich auch durch gesteigerte Geschwisterrivalität, Bettnässen, Konzentrationsschwierigkeiten oder die Tendenz, mürrisch oder aggressiv zu sein, äußern. Andere Kinder reagieren, indem sie ihre Gefühle verbergen, sich in ihr Zimmer zurückziehen und ihre Zeit mit schmerzlichem Grübeln verbringen. Man übersieht leicht, dass sie unter genauso heftigen Gefühlen leiden können wie ein reizbares Kind, das sich durch Quengeln, Schlagen oder Schreien ausdrückt.

      Sowohl das Kind, das seine Gefühle in Handlungen umsetzt, als auch das Kind, das sich verschließt, müssen ihre Gefühle ausdrücken, um nicht darin gefangen zu bleiben. Wenn man in unausgedrückten Emotionen gefangen bleibt, neigt das Innere dazu, die Geschichte zu einem Drama aufzublasen, was die emotionale Freiheit oft lebenslang behindert. (Werden Sie sich bewusst, dass dort, wo Sie sich ängstlich oder in Ihrer Liebesfähigkeit eingeschränkt fühlen, meist eine unverarbeitete, schmerzhafte Geschichte aus Ihrer Vergangenheit, die damit zusammenhängt, reaktiviert wird.) In späteren Kapiteln werden Sie lernen, wie Sie Ihrem Kind produktive Möglichkeiten bieten können, Gefühle der Hilflosigkeit und anderes Leid herauszulassen. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit Wegen, eine Verbindung herzustellen und leichter über schmerzliche Gefühle sprechen zu können.

      Wenn Dinge geschehen, die man nicht ändern kann (Tod, Scheidung oder Krankheit), ist eine offene Kommunikation die wichtigste Grundlage, um das Geschehene zu verarbeiten. Wenn ein Kind in seiner inneren Welt einsam ist, sind die Auswirkungen dauerhaft und schmerzlich, weil es sich mit dem Schmerz identifizieren und daraus die Geschichte seines Lebens machen wird. Das Kind muss wissen, dass es richtig ist zu empfinden, was es empfindet, und die Fantasien zu haben, die es hat; indem es diese Gefühle ausdrückt, wird es auch entdecken, dass sie nicht seine Identität sind. Es wird dann in der Lage sein, sein eigenes Ich von dem gedanklichen Prozess, der ihm Schmerz bereitet, zu unterscheiden.

      Es ist nicht nötig, ein Kind vor unvermeidlichem Schmerz zu schützen, es ist aber nötig, mit ihm über seine Erfahrungen zu kommunizieren.