Ein weiteres Hindernis ist unsere Tendenz zu denken, wir wüssten, was für das Kind gut ist. Wir sollten den Kindern völlig vertrauen und davon ausgehen, dass sie, wenn sie sich als wertvolle, geliebte, starke Menschen sehen und frei sind, ihre Gefühle und Gedanken auszudrücken, für sich selbst sorgen und ihre Bedürfnisse am besten kommunizieren. Wenn wir Kinder so behandeln, wie wir es bei Erwachsenen tun würden, glauben wir nicht so leicht, dass wir wissen, was sie brauchen. Einen Freund behandeln wir liebevoll, ohne von ihm zu erwarten, dass er sich uns zuliebe ändert, und wenn wir mit einem Freund sprechen, besteht unser Ziel nicht darin, ihn zu lenken.
Wir täten gut daran, Kinder würdevoll zu behandeln, ihre Beschränkungen zu achten und uns ihren authentischen, selbst gewählten Zielen anzuschließen. Wir können zuhören, wenn sie ihre Gefühle schildern, und sie ermutigen, frei von ihren Beschränkungen zu handeln. Wenn Ihr Kind beispielsweise Angst davor hat, etwas vorzuführen, muss es seine Gefühle herauslassen, damit es danach die Freiheit hat, die Vorführung zu schaffen. Lassen Sie sich nicht von seiner Angst anstecken, wenn Sie zuhören, wie Ihr Kind Ihnen seine Ängste und Zweifel schildert; sehen Sie vielmehr im Geiste vor sich, wie die Vorführung ablaufen könnte. Sie helfen ihm dabei, seine Gefühle zu klären, so dass es trotz seiner Bedenken kraftvoll nach vorne blicken oder sich frei und nicht aus Angst gegen die Vorführung entscheiden kann.
Vermeiden Sie es, über die Kommunikationsfähigkeiten anderer zu urteilen, während Sie Ihre eigenen verbessern. Sie könnten versucht sein, Ihren Partner, Ihre Freundin oder Ihr Kind dafür zu kritisieren, dass sie nicht „richtig“ kommunizieren. Vor allem Eltern neigen dazu, einander und ihre Kinder zu bewerten, indem sie sich Lieblosigkeit vorwerfen und sagen: „Du zeigst nicht deine Wertschätzung“, „du drückst kein Gefühl aus“, „du urteilst“ oder „du negierst“.
Urteilende Worte entfernen uns von denen, die wir lieben. Belehren Sie niemanden als sich selbst. Wenn Ihr Partner, Verwandter oder Ihr Kind urteilend oder herabwürdigend spricht, drücken Sie sich authentisch aus, indem Sie ihm sagen, wie Sie sich fühlen, oder versuchen, seine unausgedrückten Gefühle zu erraten. Wenn ein Kind beispielsweise über seine Schwester sagt: „Sie ist so eine Lügnerin“, können Sie ihm eine wertschätzende Frage stellen, etwa: „Möchtest du mir sagen, was passiert ist?“
Wenn Sie ein nicht akzeptables Verhalten missbilligen müssen, ist ebenfalls kein Urteil vonnöten. Sprechen Sie persönlich über sich selbst, nicht in Belehrungen über „richtig“ und „falsch“. Wenn man zum Beispiel sagt: „Es ist falsch zu stehlen“, wird das Kind wahrscheinlich keine Reue empfinden, sondern Scham und Entfremdung. Wenn Sie dagegen sagen: „Als du Süßigkeiten aus dem Geschäft genommen hast, ohne zu bezahlen, war ich traurig und hab mir Sorgen gemacht“, werden diese Worte, die von Ihrer Verletzlichkeit zeugen, Ihren Teenager eher berühren und dazu bewegen, darüber zu sprechen, was ihn zu seinen verzweifelten Taten treibt.
Viele Leute haben Bedenken, diese Methode würde ihnen das Recht nehmen, Moralvorstellungen zu verteidigen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Sie können Ihre Werte überzeugender vertreten, wenn Sie es mit persönlichen Worten tun. Wenn Sie mit dem Finger auf den Beschuldigten zeigen und nur von Falsch und Richtig sprechen, verlieren Sie ihn; er kann Sie dann nicht hören. Wenn Sie dagegen mit persönlichen Worten Ihre Verletzlichkeit zum Ausdruck bringen, wird sich Ihr Kind, Ihr Partner oder Ihre Freundin nicht eingeschüchtert oder entfremdet fühlen, sondern mit Ihnen verbunden und von Ihrer Aussage berührt.
Eine Einführung in die fünf Grundbedürfnisse von Kindern
Das Verhalten Ihres Kindes verstehen
„Es gibt kein richtiges oder falsches Verhalten. Die einzige Entscheidung von Bedeutung ist die zwischen Angst und Liebe.“
Gerald Jampolsky, Ph.D.
Oft rufen mich Eltern an, weil das Verhalten ihrer Kinder sie verwirrt. Sie wollen liebevoll darauf eingehen, stellen aber fest, dass ihnen das nicht gelingt. Viele Eltern wissen bereits, wie man liebevoll kommuniziert, doch sie sagen, sie bringen es nicht fertig, ihr Wissen umzusetzen.
Unsere eigenen Gedanken sind es, die uns daran hindern, das Kind zu verstehen und zu wissen, wie wir darauf eingehen sollen. Was ein Kind tut, ist nicht gut oder schlecht; es ist einfach der Ausdruck seelischer und körperlicher Bedürfnisse oder unschuldiges Spiel. Dennoch bewerten wir im Kopf schnell das Verhalten eines Kindes, und wir reagieren nicht auf das Kind, sondern auf unsere eigenen Interpretationen seines Verhaltens.
Auf einen klaren Wunsch nach der Erfüllung körperlicher Bedürfnisse wie Schlaf, Nahrung oder Wärme einzugehen, erscheint uns leicht. Doch wenn die Bedürfnisse des Kindes seelischer Natur sind oder wenn es sich auf eine Art ausdrückt, die im Widerspruch zu unseren Wünschen steht, erleben wir bei uns selbst vielleicht Reaktionen, die von Verwirrung über Wut bis hin zu Hilflosigkeit und Verzweiflung reichen können. Diese Reaktionen sind nicht authentisch in dem Sinne, dass es sich bei ihnen nicht um ein direktes Eingehen auf das Kind handelt, sondern um alte Gedanken; sie hindern uns daran, das Kind klar zu sehen, wie es in der Gegenwart ist. Diese Gedanken wurzeln in unserer Vergangenheit und werden in die Zukunft projiziert, häufig äußern sie sich in Form von Ängsten hinsichtlich der Entwicklung des Kindes oder unseres Bilds als Eltern.
Anders ausgedrückt, missverstehen wir ein Kind oft, weil wir zu sehr damit beschäftigt sind, auf die automatische Reaktion in unserem Kopf zu hören. Unser Inneres spielt alte Aufzeichnungen ab, und wir als Menschen sind so angelegt, dass wir uns mit dieser inneren Stimme identifizieren. Wir gehorchen der Stimme, die automatisch in unserem Kopf abgespult wird, obwohl sie nicht mit dem, wie wir sein wollen und wie wir wirklich sind, im Einklang steht.
Mit Weisheit und Liebe auf Kinder einzugehen, ist möglich, wenn wir ganz präsent und frei von altem inneren Geschwätz sind. Liebe kann nur in der Gegenwart erfahren werden. Wenn Sie ganz bei Ihrem Kind präsent sein könnten, würden Sie dieses Buch nicht brauchen und auch kein anderes zu dem Thema. Es ist nur unser Inneres, das komplizierte Botschaften sendet. Stellen wir uns vor, ein Kleinkind zieht seinem Babygeschwisterchen ein Spielzeug aus der Hand. Die Mutter hört in ihrem Inneren den Gedanken, das sei gemein oder grob, während das Kleinkind selbst völlig unschuldig handelt. Vielleicht will es spielen, es braucht ein Spielzeug und erkennt noch nicht, dass das Baby auch ein Mensch ist, oder ihm gefällt die Reaktion des Babys, oder es möchte Ihre Aufmerksamkeit. Wenn Sie Ihr Kind wahrnehmen, ohne es in eine Schublade zu stecken oder zu analysieren, können Sie effektiv und friedlich auf es eingehen, wie es in vielen Beispielen in den folgenden fünf Kapiteln gezeigt wird.
Wenn das, was ein Kind tut, bei Ihnen Ärger, Wut oder Schmerz auslöst, könnten Sie versucht sein, das Verhalten zu unterbinden. Doch das funktioniert nicht, und selbst wenn das Verhalten (durch Angst) abgestellt wird, tritt ein anderes an dessen Stelle, welches demselben unerfüllten Bedürfnis entspringt. Ihr Kind ist Ihr Lehrer; wenn Sie sich der Lektion entledigen, indem Sie Ihr Kind zum Aufhören bewegen, verlieren Sie beide. Wenn Sie dagegen den Gedanken, die dazu führen, dass Sie Ihr Kind negieren, auf den Grund gehen, wie Sie es in Kapitel Eins gelernt haben, werden Sie an emotionaler Freiheit gewinnen und in der Lage sein, auf Ihr Kind einzugehen, anstatt bloß auf es zu reagieren. Die Erkenntnis, dass das Kind ein Bedürfnis ausdrückt, kann uns helfen, unsere Zielsetzung zu ändern, so dass es uns nicht mehr darum geht, den Ausdruck des Kindes zu unterbinden, sondern darum, herauszufinden, was es braucht. Wenn wir den Ausdruck des Kindes unterbinden, bleiben wir in unseren alten Verletzungen gefangen und verstehen das Kind nicht. Doch wenn wir erkennen, dass unsere gedanklichen Reaktionen nur alte Aufzeichnungen sind, und deren Gültigkeit und Relevanz prüfen, können wir lernen, wie Prozesse in unserem Inneren ablaufen, und können das Kind dann in der Gegenwart klar sehen.
Mit anderen Worten, das größte Hindernis für unsere Fähigkeit, das Kind zu verstehen, besteht darin, dass wir unsere Gedanken und Ansichten, die automatisch als Reaktion abgespult werden, als Wahrheit oder als nützliche Richtschnur ansehen. Im Lauf der folgenden Kapitel werden Sie lernen, wie Sie Ihre liebevolle Hilfestellung (am Kind orientiert) von Ihren Reaktionen (an Ihnen selbst orientiert) unterscheiden können. Ein klarer Unterschied zeigt sich, wenn man die Folgen betrachtet: Liebevolle Hilfestellung führt zu friedlichen Lösungen und inniger Verbundenheit