Ruthi antwortete: „Ja, und etwas ist daneben gegangen.“ Sie sah mit fragendem Blick zu ihrem Vater auf.
„Das ist mir neulich passiert, als ich bei Opa war“, sagte er. „Ich hab Saft verschüttet. Ich kam mir ganz ungeschickt vor, aber Opa hat gelächelt und mir ein Tuch gegeben. Es ist ganz leicht aufzuwischen.“ Ruthi lief aus der Küche und holte ein Tuch, das sie ihrem Vater gab. Es war nicht die Art Tuch, die Adi benutzt hätte, um den Boden auf zu wischen, doch er nahm das Tuch lächelnd an und wischte die Milch auf.
Indem er Ruthis Leistung, sich selbst ein Glas Milch einzugießen, wahrnahm und würdigte, behandelte Adi sie genauso, wie er einen Gast behandelt hätte, der versehentlich Milch verschüttet hätte. Adi gab seine eigene Ungeschicklichkeit zu und bekundete Ruthi dadurch seine Wertschätzung, ohne sie mit Worten, die ihre Gefühle bloßlegen, in Verlegenheit zu bringen. Als sie erkannte, dass sogar ihr Vater manchmal ungeschickt war, fühlte sie sich wieder wohl. Als sie das „falsche“ Tuch brachte, kritisierte Adi sie nicht und nahm auch kein anderes Tuch. In diesem Beispiel entstand durch ein Missgeschick eine tiefere Bindung zwischen Vater und Tochter, und die Selbstachtung und Würde des Kindes blieben intakt.
Gefühle der Wut, Worte der Liebe
Manchmal empfinden wir trotz unserer Absicht, zu lieben und freundlich zu sein, gegenüber einem Kind Ärger oder sogar Zorn. Der Auslöser muss nichts Großes sein. Wir alle haben unsere Erinnerungen an Schmerz und Scham, die an die Oberfläche kommen, wenn wir mit auch nur vage ähnlichen Situationen konfrontiert werden.
Wir erinnern uns nicht unbedingt an irgendetwas, aber die mit diesen Erfahrungen assoziierten Gefühle überfluten unser Inneres. Die S.A.L.V.E.-Formel (stummes Selbstgespräch, Aufmerksamkeit auf das Kind richten, Lauschen, Verständnis und Wertschätzung, Ermutigen) mit besonderer Betonung auf dem ersten Schritt kann hier hilfreich sein.
Ärger und heftige Reaktionen verdecken oft andere schmerzliche Gefühle. Häufig sind das Gefühle, derer wir uns aufgrund von Angst und Unbehagen, die in unseren früheren Erfahrungen wurzeln, nicht bewusst sind. Wenn es für Sie als Kind nicht sicher war, zu weinen, Aufmerksamkeit zu verlangen und sich ganz auszudrücken, haben Sie diese Gefühle wahrscheinlich schon vor langer Zeit unterdrückt. Was in der Gegenwart passiert, läuft automatisch ab: Die schmerzlichen Gefühle werden sofort „weggeschoben“, und Ärger tritt in den Vordergrund, weil er als akzeptabler gilt und man sich weniger verletzlich fühlt, als wenn man seine Traurigkeit oder seine Tränen zeigt.
Doch Ärger gibt uns nicht die Befreiung, die wir brauchen, weil er mit einer Schuldzuweisung einhergeht. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit von uns weg nach außen lenken (Schuldzuweisung), verhindert das, dass wir unsere Gefühle der Verletzlichkeit wahrnehmen. Wenn wir den Gedanken, die unseren Ärger auslösen, nicht auf den Grund gehen, bleiben wir unvollständig und oft noch ärgerlicher und klammern uns mehr an der schmerzlichen Position des Opfers (Schuldzuweisung) fest.
Bevor Sie als Reaktion auf ein unerwartetes Verhalten Ihres Kindes handeln oder etwas sagen, denken Sie nach (Selbstgespräch). Sprechen Sie die ersten Worte, die Ihnen in den Sinn kommen, nicht aus. Dies sind die Worte, die Ihr Kind wahrscheinlich verletzen und das Problem verschärfen würden; zwar werden diese Worte nicht verschwinden, aber Sie können lernen, sie nur als Gedanken und nicht als Wahrheit anzusehen. Bei diesem Prozess können Sie sich sogar von Ihrem Kind helfen lassen. Bitten Sie es, Sie daran zu erinnern: „Nimm dir Zeit, Mama“ oder „Denk einen Moment nach, Papa.“ Ihrem Kleinkind können Sie eine „Flagge“ geben, die es zur Erinnerung schwenken kann. Solche vereinbarten Hinweise können Ihnen signalisieren, sich eine „Auszeit“ für sich selbst zu nehmen, um Ihr inneres Selbstgespräch vom Problem Ihres Kindes und von Ihrem authentischen Selbst zu trennen. Kümmern Sie sich zuerst um Ihre Gefühle, dann können Sie die Freiheit erlangen, sich auf das Kind zu konzentrieren.
Das Kind ist der Auslöser, nicht die Ursache Ihres Ärgers; es ist nicht verantwortlich für Ihre Gefühle. Es hat etwas getan, woraufhin sich ein altes Programm in Ihrem inneren Computer geöffnet hat und verlangt, dass Sie tun, was es sagt. Diese Reaktion läuft automatisch ab, ob Sie wollen oder nicht; aber Sie können entscheiden, ob Sie dem Programm Folge leisten wollen oder nicht. Sie können Ihr eigener innerer Zuhörer sein und innerlich Dampf ablassen, damit Sie sich frei von diesen alten Reaktionen um Ihr Kind kümmern können. Wenn Sie sich etwas Zeit genommen haben, um Ihr Selbstgespräch von der Situation zu trennen, und wenn Ihnen klar geworden ist, dass die Gedanken, die Ihren Ärger auslösen, nicht wirklich dem Menschen entsprechen, der Sie sind, und nichts mit der Gegenwart zu tun haben, gelingt es Ihnen vielleicht, sie einfach wahrzunehmen, so stehen zu lassen und Ihre ganze Aufmerksamkeit dem Kind zu schenken. Später können Sie, wenn Sie wollen, einen Zuhörer finden, einen Freund oder einen Therapeuten, um Ihre eigene Gefühlserforschung abzuschließen. Sie können es auch selbst tun. Schreiben Sie jeden Gedanken auf, der bei Ihnen Ärger erzeugt, und prüfen Sie seine Gültigkeit für Sie, welche Gefühle und welches Verhalten der Gedanke bei Ihnen auslöst und wie Sie ohne diesen Gedanken reagieren würden. Überlegen Sie dann, ob vieles von dem, was Sie von Ihrem Kind erwarten oder wie Sie es bewerten, nicht ebenso nützlich für Ihr eigenes inneres Wachstum sein könnte.
Seien Sie liebevoll zu sich selbst. Das Wichtigste ist, keine Urteile über Ihre Gedanken oder Fantasien zu treffen; sie sind kein authentischer Ausdruck des Menschen, der Sie sind, und der Mutter oder des Vaters, die oder der Sie sein wollen. Nehmen Sie sich etwa eine Minute Zeit, um sich in Ihrem Inneren ganz auszudrücken. Sie können sich vorstellen, wie Sie schreien, schlagen, schimpfen, drohen, strafen oder was auch immer tun würden, das Ihnen in den Sinn kommt. Lassen Sie Ihren inneren „Film“ laufen, bis er zu Ende ist und Sie zufrieden sind, und fragen Sie sich dann, ob er für die Gegenwart wirklich relevant ist und dem Menschen entspricht, der Sie sind. Sie werden froh sein, sich nicht nach diesem Film gerichtet zu haben.
Wenn Sie sich die Freiheit und Liebe gönnen, alles ungehindert durch Ihren Kopf strömen zu lassen, nimmt das nur wenig Zeit in Anspruch, gibt Ihnen aber Ihre Kraft und Ihre Liebe zurück. Sie beobachten Ihre Gedanken nur und betrachten den Inhalt Ihres Ärgers. Wenn Sie noch eine Minute Zeit haben, schreiben Sie diese Gedanken auf und prüfen ihre Gültigkeit für die momentane Situation. Nachdem Sie sich durch diesen „Wahrheitsprozess“ hindurch gearbeitet haben, werden Sie sich viel besser in der Lage fühlen, sich auf die Gegenwart und die unschuldige Absicht Ihres Kindes zu konzentrieren. Eine Mutter, die auf meinen Rat hörte, erzählte mir die folgende Geschichte:
Während Wendy ein Nickerchen hielt, beschloss der neunjährige Emory, sie zu überraschen, indem er die Lasagne zubereitete, die sie an dem Abend zu einer Party mitnehmen wollten. Als Wendy aufwachte und in die Küche kam, um die Lasagne zuzubereiten, fand sie Emory dort vor: Er war ganz mit Tomatensoße beschmiert, stand mitten in einer Tomatenpfütze, und Tofu und Käse waren auf der ganzen Arbeitsplatte verteilt. Eine Backform war mit Zutaten gefüllt, die wie Lasagne aussehen sollten, für Wendy jedoch eher wie Kartoffelpüree in Tomatensuppe aussahen. Wendy war kurz davor zu explodieren. Sie hatte keine Zeit, um vor der Party noch das ganze Chaos zu beseitigen und eine richtige Lasagne zu machen. Sie atmete tief durch und dachte an S.A.L.V.E. Im Geiste sah sie, wie sie schrie und fluchte, Emory aus der Küche zog und ihm verbot, zu der Party zu gehen. Nachdem die Worte und Fantasien der Wut unausgesprochen durch ihr Inneres geströmt waren, wandte sie ihre Aufmerksamkeit Emory zu. Bevor sie den Mund aufmachen konnte, sagte Emory: „Mama, ich hab die Lasagne gemacht. Wir müssen sie