Aufwachsen in Geborgenheit. Bert Powell. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bert Powell
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783867813570
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erhöhtes Sterberisiko im Vergleich zu den am stärksten sozial eingebetteten. In den westlichen Gesellschaften scheint man die Bedeutung des „Und“ langsam zu verstehen, wie die wachsende Beliebtheit von Büchern und TED-Talks zu Themen wie dem Wert von Verletzlichkeit vermuten lässt. Langsam wird uns klar, dass unsere Beziehungen nicht einfach nur nette „Extras“ sind. Die Menschen, die sich mit ihren Kollegen am besten verstehen, bekommen oft als erste eine Beförderung – und zwar nicht nur, weil sie kluge Allianzen gebildet haben, sondern oft auch, weil sie am produktivsten sind. Uns ist klar, dass es nicht hilfreich ist, wenn wir ständig wie besessen über unsere Kinder wachen wie der besagte sprichwörtliche Helikopter, doch wissen wir inzwischen auch, dass es etwas anderes ist als diese Art der Überwachung, wenn wir das Baby immer wieder beruhigen, und dass es dadurch nicht lebensuntauglich wird. Die Beziehungen, die wir eingehen, geben uns Kraft und machen uns sogar aus, denn in jedem „Und“ werden wir zu etwas, das über uns allein hinaus geht.

      „Ich beruhigte mich damit, dass er schon immer einfallsreich, robust und selbstsicher war. Zwei Tage später… rief er mich an, überschwänglich und beglückt über seinen Triumph. Ich sagte zu ihm: ‚Viel Glück bei deinem Abenteuer‘, und wusste, dass es genau das war, was er von mir hören musste. Ich konnte ihn aus der Ferne in die Arme nehmen, in dem Wissen, dass er über all die Möglichkeiten, die Liebe, die Bindung und die Ressourcen verfügte, die aus seiner jahrelangen Erfahrung einer sicheren Bindung stammten. Seine sichere Bindung ermöglichte ihm, seine Erkundungen weiter und weiter auszudehnen.“

      HEIDI S. ROIBAL, Albuquerque, New Mexico, nachdem ihr dreiundzwanzigjähriger Sohn allein auf eine Reise quer durchs Land aufgebrochen war

      Auf die Bindung kommt es an

      Intuitiv kennen Sie die Bedeutung des „Und“ bereits. Wenn wir anderen Menschen vertrauen und uns mit ihnen sicher fühlen, können sich Beziehungen weiterentwickeln – Freundschaften können sich vertiefen, wenn man ein beschämendes Kindheitsgeheimnis preisgibt, intime Beziehungen können sich festigen, wenn man es wagt, dem anderen einen Heiratsantrag zu machen, Kollegialität und gegenseitiger Respekt können entstehen, wenn man um die Beförderung bittet, die man verdient hat. Sogar ganz große Errungenschaften – das beste Bild, das man je gemalt hat, der Einfall für eine ebenso großartige wie radikale Innovation, die fantastische Rede, die man geschrieben hat –, die auf den ersten Blick nichts mit anderen Menschen zu tun haben, werden oft nur durch die Erfahrung von Sicherheit möglich. Wenn wir im Allgemeinen in die Offenheit und die Akzeptanz anderer vertrauen, sind uns Kreativität, Kompetenz, umsichtige Risikobereitschaft und geistige Klarheit möglich, da wir davon ausgehen, dass unsere Ideen in einer sicheren Umgebung auf Verständnis treffen und willkommen geheißen werden. Wenn das der Fall ist und wir Erfolg haben, wird die Bedeutung von Bindung noch bestärkt durch die Erfüllung, die wir erleben, wenn wir unsere Freude mit anderen teilen.

      Eine sichere Bindung ist ein wenig wie der geliebte Teddybär aus Kindertagen. Hat man Zuversicht und Vertrauen in das Gute in mir, in dir und in uns, nimmt man dieses Vertrauen während wichtiger Übergänge und Veränderungen im Alltag mit. Wie es in unserem Leben läuft, bemessen wir Erwachsenen im Allgemeinen daran, wie es in unseren Beziehungen läuft. Wenn die Beziehungen gut laufen, läuft das Leben gut. Wenn wir lieben und geliebt werden, geht es uns gut.

      Falls Sie selbst die positiven Auswirkungen einer sicheren Bindung erlebt haben, wird es Sie nicht überraschen, wie verheerend das Fehlen von jeglicher Bindung sein kann. Im dreizehnten Jahrhundert ließ der römisch-deutsche Kaiser Friedrich II. ein Experiment durchführen, um herauszufinden, ob Neugeborene irgendwann die Sprache von Adam und Eva sprechen würden, wenn sie von den Erwachsenen um sie herum keinerlei Sprache zu hören bekämen. Er wies die Pflegekräfte an, mit den Babys weder zu sprechen noch zu gestikulieren, und letztlich verstarben sie alle. Siebenhundert Jahre später, in den 1930er-Jahren und 1940er-Jahren, zeigte sich derselbe Zusammenhang an Kindern in Waisenhäusern, bei denen die Sterberate bei alarmierenden 30 % lag. Obwohl mit den offensichtlichen Notwendigkeiten des Lebens versorgt – Essen, Obdach, Kleidung –, überlebten viele Kinder nicht ohne eine Bindung an eine primäre Bezugsperson.

      Wie konnte es, angesichts dieser Beweislage, dennoch so lange dauern, bis der Wert von Bindung verstanden wurde? Diese Dinge brauchen ihre Zeit, und damit eine neue Theorie akzeptiert werden kann, müssen oft andere, etablierte Theorien verworfen werden. Im frühen zwanzigsten Jahrhundert beruhten die zwei vorherrschenden Denkschulen in Bezug auf kindliche Entwicklung einerseits auf den psychoanalytischen Theorien von Sigmund Freud und seinen Kollegen und andererseits auf den behavioristischen Theorien von John B. Watson und später B.F. Skinner und anderen:

      • Freud kam zu dem Schluss, dass die psychischen Probleme, die er bei seinen Patienten sah, ihre Wurzeln in verschiedenen unbewussten, gedanklichen Prozessen hätten, die in der frühen Kindheit einsetzten und ihre Wirkungen während der Entwicklung des Kindes weiter entfalteten. Diese Prozesse bestimmten seiner Ansicht nach, wie ein Baby mit seinen Eltern interagiert und was ein Baby neben Essen und anderweitiger Fürsorge noch zu brauchen scheint. Freuds Theorien sorgten dafür, dass der Fokus mancher Entwicklungspsychologen (und der Psychoanalytiker, die Erwachsene behandelten) auf undurchsichtigen Konzepten über das Unbewusste blieb, die bei den Menschen in der echten Welt auf wenig Resonanz stießen.

      • Das andere Lager war das der Behavioristen, die glaubten, Babys verfolgten eine bestimmte Absicht, wenn sie für ihre Mama ein ganz besonderes Lächeln hervorzauberten, weinten, wenn diese aus ihrem Blickfeld verschwand, obwohl andere ihnen zugetane Bezugspersonen in der Nähe waren, oder sich in den Armen der Mutter wundersamerweise beruhigten. Ihre Absicht bestünde darin, belohnt zu werden: Wenn sie lächelten, wirkte die Mutter glücklich und kam näher. Wenn sie weinten, kam die Mutter meist zurück. Wenn sie sich in die Arme der Mutter kuschelten, durften sie dort bleiben. Watsons Ansicht nach diente der Bindungstrieb eines Babys dazu, dass die Mutter in der Nähe blieb, so dass sie ihm die Nahrung, die Wärme oder die trockene Windel geben konnte, die es brauchte. Heutzutage würde wohl kaum jemand noch leugnen, dass wir Menschen positiv auf Belohnungen reagieren. Das Besorgniserregende am strikten Festhalten an diesen frühen Formen des Behaviorismus bestand jedoch darin, dass Watson den Müttern riet, ihren Kindern nicht zu viel liebende Fürsorge zuzugestehen, denn sonst würden die Kinder später von der Welt erwarten, auf die gleiche Weise behandelt zu werden, was sie unweigerlich zu Invaliden machen würde.

      Hier betritt die Stimme der Vernunft die Bühne: der britische Psychologe John Bowlby. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Bowlby an Forschungsarbeiten für die Weltgesundheitsorganisation beteiligt, unter anderem in Einrichtungen für Kriegswaisen und hospitalisierte Kinder. Die Kinder waren alle optimal versorgt: Sie wurden gut ernährt und gekleidet, hatten warme Betten und wurden medizinisch betreut, genau wie die Waisen vor dem Krieg. Was sie hingegen nicht hatten, waren Mutter und Vater. Und genau wie die Waisen aus früheren Jahrzehnten litten sie schrecklich unter dem Fehlen der Geborgenheit, Liebe und Nähe einer primären Bezugsperson. In den 1950er-Jahren filmten Bowlby und sein Kollege John Robertson eine Zweijährige, die zehn Tage im Krankenhaus verbringen musste und ihre Eltern jeweils nur eine halbe Stunde am Tag sehen durfte. In dieser Zeit verwandelte sie sich von einem aufgeweckten kleinen Mädchen in ein vollkommen niedergeschlagenes Kind.

      Bowlbys Beobachtungen haben seitdem eine Veränderung der Besuchsregeln in Krankenhäusern bewirkt und auch auf die professionelle Kinderbetreuung Einfluss genommen. Und sie befruchteten seine Bemühungen, die Eine-Millionen-Dollar-Frage zu beantworten, die von Anbeginn der Menschheit an hätte gestellt werden sollen: Warum macht die Abwesenheit der Eltern oder anderer Bezugspersonen einen so gewaltigen Unterschied, wenn das Kind doch ansonsten alles hat, was es für seine Entwicklung braucht?

      Wie es bei wissenschaftlichen Fortschritten so oft der Fall ist, kamen die Antworten aus einem Zusammenfluss von Ergebnissen verschiedener Forschungsgebiete, die ab Seite 46 zusammengefasst sind.

      Bowlby