Im Schmelztiegel einer engen Beziehung erleben wir nicht nur, dass wir anderen Menschen unsere tiefsten Bedürfnisse anvertrauen können, sondern auch, dass sogar den empathischsten Menschen Fehltritte und Versäumnisse unterlaufen – sogar ziemlich oft – und dass diese alltäglichen Brüche wiedergutgemacht werden können. Wenn wir eine fehlerlose, „perfekte“ Elternschaft anstreben, vermitteln wir unseren Kindern die Botschaft, dass es dabei mehr um unsere eigene Leistung als um die Erfüllung ihrer Bedürfnisse geht. Außerdem legen wir in ihnen den Grundstein für unrealistische Erwartungen. Niemand ist vollkommen, insofern ist eine Beziehung, in der Perfektion erwartet wird, zum Scheitern verurteilt. Eine Beziehung zwischen zwei Menschen, die verstehen, dass sie menschliche Bedürfnisse haben und dass Schwierigkeiten unvermeidlich sind, und die dies dazu nutzen, etwas über ihre Ähnlichkeiten und Unterschiede zu erfahren, birgt ein unbegrenztes Potenzial für Wachstum und Erfüllung. Wünschen wir uns solche Freundschaften, Arbeitsbeziehungen, Partnerschaften und Ehen nicht auch für unsere Kinder?
Alles fängt bei uns selbst an. Stellen Sie sich vor, ihr sechsjähriger Sohn kommt niedergeschlagen von der Schule nach Hause. Würden Sie ihm einfach eine Kleinigkeit zu essen geben und hoffen, dass er sich dadurch besser fühlt? (Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie die erhoffte Beförderung doch nicht bekommen haben oder wenn Sie von einem engen Freund abgewiesen wurden, und Ihr Partner Ihnen zu helfen versucht, indem er Ihnen einen Keks anbietet?) Man muss kein Psychologe und kein erfahrener Elter sein, um zu wissen, dass dieses Kind mehr braucht als eine Leckerei, die es wieder aufmuntern soll. Aber manchmal vergessen wir, dass ein kleines Kind unsere Bestätigung braucht, dass es sich durchaus sehr traurig und verwirrend anfühlen kann, wenn der Klassenkamerad, der gestern noch der „beste Freund“ war, sich heute jemand anderen zum Spielen gesucht hat. In einer solchen Situationen braucht ein Kind eine Umarmung oder eine Berührung und vielleicht ein wenig Zeit und Ruhe mit Ihnen, um sich innerlich zu sortieren. Es braucht Ihre Hilfe dabei, herauszufinden, wie es sich genau fühlt, und Ihre Bestätigung, dass seine schwierigen Gefühle ein Teil von ihm sind und in Ihrer Beziehung zueinander Platz haben.
Eine solche Reaktion mag für Sie als Elter etwas ganz Natürliches sein. Aber vielleicht ist Ihnen gar nicht klar, wie absolut wichtig diese Reaktion für Ihr Kind ist. Sie sorgen nicht nur dafür, dass es sich wieder besser fühlt und schon wenig später zum Spielen rausgehen oder sich auf die Hausaufgaben konzentrieren kann (obwohl Sie auch das tun). Sie bringen ihm zudem bei, was es gerade fühlt, wenn vielleicht alles, was es identifizieren kann, „Autsch“ ist. Sie sagen ihm, dass es in Ordnung ist, Gefühle wie Traurigkeit zu haben, auch wenn es schmerzt, und dass diese Gefühle wichtige Botschaften in sich tragen. Sie bringen ihm bei, dass man Schmerz mit Hilfe einer anderen Person verarbeiten kann. Sie helfen ihm, etwas mehr über sich selbst zu erfahren – zum Beispiel, dass es ein Mensch ist, dem Freundschaft wichtig ist und der Loyalität schätzt. Mit anderen Worten, Sie unterstützen es in seinem Wachstum. Sie fördern die Entwicklung eines gesunden Selbst, und Sie helfen ihm herauszufinden, wie man durch die bewegten Gewässer von Beziehungen navigiert.
Aber was passiert, wenn Sie nicht mit Verständnis, Zuneigung und Geduld auf Ihr Kind reagieren? Nehmen wir einmal an, Sie sind gerade mit den Finanzen der Familie beschäftigt, als Ihr Sohn schlecht gelaunt nach Hause kommt. Er kommt auf Sie zu und zieht Sie am Ärmel, um Ihre Aufmerksamkeit vom Computerbildschirm wegzulenken. Sie halten Ihren Blick auf den Bildschirm geheftet und sagen ungeduldig: „Jetzt nicht, Schatz. Ich muss das hier fertig machen.“ Ihr Sohn geht ins Wohnzimmer, und erst eine halbe Stunde später finden Sie ihn zusammengerollt auf dem Sofa, leise schluchzend.
Jetzt haben Sie die Chance, eine vielleicht sogar noch wichtigere Botschaft zu vermitteln: Sie schütteln Ihre Erschöpfung und Ihre Ungeduld ab (Rechnungen und Steuern machen schließlich den wenigsten Menschen Spaß), setzen sich zu Ihrem Sohn auf das Sofa, und während Sie ihm sanft den Rücken streicheln, fragen Sie, was los ist. Es ist nicht ganz leicht, es aus ihm herauszubringen, und er reagiert nicht sofort auf Ihre Entschuldigung und Ihr etwas verspätetes Trostangebot, aber schließlich lässt er sich doch darauf ein. Ein einfaches Happy End mit einer sehr ernsthaften Konsequenz: Sie haben Ihrem Kind beigebracht, dass man sogar als Erwachsener Fehler macht, dann aber einen neuen Anlauf nehmen kann. Sie haben ihm gezeigt, dass er immer noch darauf vertrauen kann, dass Sie für ihn da sind und er manchmal eben geduldig mit Ihnen sein muss. Sie haben für sein weiteres Leben die Grundlage für eine gesunde Beziehung geschaffen – eine, die Schwierigkeiten und Lösungen, Brüche und Wiedergutmachungen beinhaltet.
Wie Sie dieses Buch nutzen können
Dieses Buch wurde in der Absicht geschrieben, die Ihnen als Eltern innewohnenden Fähigkeiten und die tief in Ihnen angelegten positiven Intentionen zu würdigen. Es soll außerdem klare, einprägsame und wissenschaftlich fundierte Inhalte vermitteln, die Ihnen Tag für Tag zur Verfügung stehen und Ihnen Unterstützung bieten können, wenn Sie verwirrt sind oder Orientierung brauchen. Wir wollen das, was wir zu sagen haben, möglichst einfach halten, weil Elternschaft in der Hitze des Gefechts nach einer Art Einfachheit à la „Was soll ich jetzt bloß tun?“ verlangt, nicht nach einer Komplexität nach dem Motto: „Was stand da gleich noch auf Seite 217?“. Wir hoffen, dass unser Buch Ihnen ein unterstützender, sachlicher und leicht verständlicher Ratgeber ist, während Sie weiterhin die Eltern bleiben, die Sie zum Glück sind.
Das Buch ist in zwei Abschnitte unterteilt. Einigen Lesern wird Teil 1 schon vollkommen ausreichen, um eine neue Perspektive auf das Elternsein zu gewinnen. Wir erklären darin, warum Bindung so wichtig ist – beruhend auf den Erkenntnissen jahrzehntelanger Forschung – und weshalb Sicherheit zwar schwer definierbar, aber doch relativ leicht wiederherzustellen ist. Wir alle verlieren manchmal die Verbindung zu unseren Kindern (und anderen geliebten Menschen). Das Leben fordert uns heraus. Wir geraten in eine Krise. Andere Notwendigkeiten verlangen nach unserer Aufmerksamkeit. In solchen Zeiten kann es passieren, dass wir die Bedürfnisse unserer Kinder aus dem Blick verlieren und die Verbindung zu ihnen geschwächt wird. Doch wenn wir die Landkarte des Kreises der Sicherheit fest in uns verankert haben, ist es leicht, wieder zu der schlichten Schönheit unserer wichtigsten Beziehungen zurückzukehren.
Der Kreis der Sicherheit zeigt uns, dass ein kleines Kind zwei Arten von Bedürfnissen hat: Bedürfnisse nach Geborgenheit und Sicherheit auf der einen Seite und Bedürfnisse, etwas zu erkunden, auf der anderen. Kinder bewegen sich im Verlauf eines Tages viele, viele Male zwischen diesen Bedürfnissen hin und her, doch wir verstehen nicht immer, was sie gerade wollen. Was wir sehen, sind ihre Verhaltensweisen, und wenn wir es mit diesen Verhaltensweisen schwer haben, dann reagieren wir auf sie. Es gibt Etliches, was uns für diese Bedürfnisse blind machen kann, und mithilfe der Landkarte, die Ihnen der Kreis der Sicherheit zur Verfügung stellt, ist es möglich zu erkennen, was hinter den Verhaltensweisen der Kinder steht und was sie von uns brauchen. In Kapitel 3 finden Sie eine Illustration des Kreises und einprägsame Beschreibungen dieser grundlegenden Bedürfnisse, die bei Eltern auf der ganzen Welt auf Resonanz gestoßen sind.
In unserer leistungsorientierten Zeit ist es sehr viel schwieriger, mit einer emotionalen Erfahrung einfach bloß zu sein (sei es unsere eigene oder die eines anderen Menschen), als zu versuchen, eine Antwort und eine schnelle Lösung für das Problem zu finden, das uns Unbehagen bereitet. Für uns als Eltern trifft das allemal zu. (Eine Google-Suche nach „helicopter parents“ („Helikopter-Eltern“ – überfürsorgliche Eltern, deren Erziehungsstil geprägt ist von Überbehütung und Einmischung in die Angelegenheiten des Kindes, A. d. Ü.) ergab im Jahr 2015 fast sechs Millionen