Wie sich allerdings zeigt, gibt es einen großen Irrtum, den man als wohlmeinende Eltern begehen kann, und zwar ist es der Versuch, perfekte Eltern zu sein oder zumindest möglichst keine Fehler zu machen.
Die wichtigste Botschaft dieses Buches ist die, dass wir bereits alles haben, was wir brauchen, um gute Eltern zu sein. Als menschliche Wesen sind wir mit positiven Absichten für unsere Söhne und Töchter ausgestattet sowie mit dem Instinkt, eine enge und dauerhafte Bindung zu ihnen zu entwickeln. Wir können diese natürlichen Anlagen dazu nutzen, unseren Kindern beizubringen, was es heißt, Mensch zu sein – beizeiten verwirrende Bedürfnisse und unangenehme Gefühle zu haben, unglücklich und angeschlagen zu sein und in einem Zustand glorreicher Unvollkommenheit, in dem es stets etwas dazuzulernen gibt, durchs Leben zu stolpern. Mit einer sicheren Bindung können unsere Kinder sich auch in den schwierigen inneren Erfahrungen, die wir alle durchmachen, sicher und geborgen fühlen. Durch das Vertrauen, dass jemand ihnen helfen wird, den unvermeidlichen Schwierigkeiten im Leben die Spitze zu nehmen, entwickeln sie das Selbstvertrauen, das sie brauchen, um in die große weite Welt hinauszugehen und herauszufinden, wer sie sind – und wer sie werden können.
Im Verlauf der letzten dreißig Jahre sind wir immer mehr zu der Überzeugung gelangt, dass eine sichere Bindung die allerwichtigste Basis ist, die wir unseren Kindern geben können. Sie ist von ebenso großer Bedeutung wie Ernährung, Gesundheitsfürsorge und Bildung. Tatsächlich könnte diese Basis sogar weitreichendere Auswirkungen haben als alle anderen Notwendigkeiten, weil ein Kind, dessen früheste Erfahrungen sich um eine sichere Bindung drehen, herausfinden kann, was es nicht nur zum Überleben, sondern auch für eine gute Entwicklung braucht, und weil es sich traut, darum zu bitten, und darauf vertraut, dass es die passende Unterstützung bekommen wird.
Forschungsergebnisse zeigen, dass Kinder, die eine sichere Bindung zu zumindest einem Erwachsenen haben, in der Schule erfolgreicher sind, stabilere Freundschaften pflegen, sich einer besseren körperlichen Gesundheit erfreuen und in ihrem weiteren Leben mehr intime, erfüllende und dauerhafte Beziehungen eingehen. In unserer Arbeit als Therapeuten, in der wir Menschen mit allen möglichen Problemen begegnen, haben wir allmählich erkannt, dass die Wurzel vieler Schwierigkeiten das Fehlen einer sicheren Bindung in der Kindheit ist. Wenn in der Kindheit nicht oft genug jemand für sie da war, bleiben diesen Menschen als Erwachsenen befriedigende intime Beziehungen versagt. Sie kämpfen mit Selbstzweifeln und sind in ihrer Arbeit nicht erfolgreich, oder aber sie sind überambitioniert. Sie leiden unter stressbedingten Gesundheitsproblemen oder fühlen sich chronisch unzufrieden mit ihrem Leben und ihren nahen Beziehungen. Es ist schwer, den eigenen Durst nach Erfolg zu regulieren, zu wissen, was man will, und entspannt verschiedene Optionen zu erkunden, wenn in der Kindheit niemand da war, der einem geholfen hätte, mit den eigenen Bedürfnissen umzugehen und sie zu verstehen. Und wenn diese Klienten dann selbst Kinder bekommen? Sie ahnen es bestimmt: Sie wünschen sich sehnlichst, als Eltern ihr Bestes zu geben, und sie verspüren einen tiefen instinktiven Drang, eine starke Bindung zu ihrem Baby zu entwickeln. Aber sie wissen einfach nicht, wie sie das anstellen sollen. Oder sie denken, sie wüssten es (schließlich haben sie ja all diese Bücher gelesen), aber dann treten in der Beziehung zu ihrem geliebten Kind Probleme auf, die jene widerspiegeln, die sie in ihrer eigenen Kindheit erlebt haben.
Wir wollen mit diesem Buch eine Landkarte auf dem Weg zu einer sicheren Bindung anbieten. Vor dreißig Jahren sind wir zu dem Abenteuer aufgebrochen, Familien die positiven Auswirkungen einer gesunden Bindung zu vermitteln und jene wegweisende Theorie leicht verständlich und zugänglich zu machen, die der Psychiater John Bowlby und die Psychologin Mary Ainsworth in den fünfziger Jahren formulierten und im Laufe der nächsten Jahrzehnte weiter ausarbeiteten. Diese Theorie, die besagt, dass eine sichere, vertrauensvolle emotionale Bindung zwischen Eltern und Kind der Schlüssel zu einer gesunden Entwicklung ist, wird schon seit Langem als gültig und bedeutsam anerkannt, allerdings musste sie bisher noch auf eine praktische und elternfreundliche Anwendung warten. Einige Wissenschaftler jubelten zwar sogar, dass eine sichere Bindung den sich entwickelnden Kindern und späteren Erwachsenen „psychische Immunität“ verleihe, doch die bemerkenswerte Klarheit Tausender Studien, die die Notwendigkeit und die positiven Auswirkungen von Bindungssicherheit belegten, blieb in Fachzeitschriften verborgen und fand keinen Weg in die Welt der Eltern. Wir waren also fasziniert von dem Potenzial, diese Erkenntnisse jenen zu vermitteln, die sie am allermeisten gebrauchen können: Eltern und anderen Menschen, die sich um Kinder kümmern.
So begann die Geschichte der Intervention, die wir den Kreis der Sicherheit nennen. Sie nahm die Gestalt eines zwanzigwöchigen Gruppenkurses für Eltern an, die in den Beziehungen zu ihren Klein- und Vorschulkindern Schwierigkeiten hatten, und sie wurde seitdem für die Einzeltherapie und andere Zwecke adaptiert – in Schulen, sozialen Einrichtungen und Pflegeheimen auf der ganzen Welt. Sie wurde sorgfältig überarbeitet, und während wir die Tiefen dieser grundlegenden und ursprünglichen Beziehung ausloten, entwickelt sie sich Tag für Tag in raschem Tempo weiter.
In Forschungsarbeiten konnte gezeigt werden, dass der Kreis der Sicherheit selbst jenen Eltern hilft, die unter den denkbar schwierigsten Umständen leben – Armut, Inhaftierung, mangelnde Bildung, Missbrauch in der eigenen Vergangenheit und des Weiteren mehr –, eine sichere Bindung zu ihrem Kind aufzubauen. Viele dieser Eltern hatten keinerlei Vorbild dafür, wie gesunde Elternschaft aussehen kann. Als Therapeuten und Wissenschaftler sind wir natürlich hocherfreut über diese Ergebnisse. Aber sie werden sogar noch übertroffen von der Bereicherung, die wir in unseren eigenen Beziehungen erleben, von den persönlichen Erkenntnissen, von denen die Therapeuten berichteten, die wir im Kreis der Sicherheit ausbildeten, oder von dem, was wir nahezu jedes Mal erlebten, wenn jemand die Landkarte und die Geschichte des Kreises der Sicherheit kennenlernte. Die Landkarte des Kreises der Sicherheit scheint alle Menschen anzusprechen, egal, aus welcher Kultur sie stammen, und zwar auf der zutiefst instinktiven Ebene, auf der wir als Menschen miteinander in Beziehung treten und die uns als Spezies ausmacht. Wir alle drei können sagen, dass die Perspektive des Kreises der Sicherheit unser Verständnis für unsere Ehepartner, unsere Kinder und unsere Kollegen erweitert und vertieft hat. Sie hat uns geprägt, ob als Pflegeeltern oder in unseren Freundschaften, in der Beratungsarbeit oder in unseren ehrenamtlichen Tätigkeiten. Für uns und für viele andere Menschen hat sie den Glauben an und die Hoffnung auf eine wohlwollende und positivere Welt neu belebt.
Eltern zu erleben, die in der Lage waren, äußerst entmutigende Schwierigkeiten zu überwinden und eine Bindung zu ihren Kindern zu entwickeln, hat uns immer wieder aufs Neue in der Überzeugung bestärkt, dass wir alle das haben, was wir brauchen, um gute Eltern zu sein. Manchmal muss man uns einfach nur eine Landkarte geben, um dahin zurückzufinden. Vielleicht hat unsere eigene Geschichte Leerstellen in unserem emotionalen Fluss hinterlassen. Oder die Nichtanwesenheit von Bezugspersonen – oftmals nicht von ihnen selbst verschuldet –, die uns in unseren grundlegenden Bedürfnissen hätten unterstützen können, hat dazu geführt, dass es uns an Vertrauen mangelt. Oder aber die Wechselfälle unseres eigenen Erwachsenenlebens haben uns aus der Verbundenheit mit unseren Kindern herausgeführt, die wir uns jetzt aus tiefstem Herzen wünschen. Dieses Buch ist unser bescheidener Versuch, Sie in den Kreis der Sicherheit zurückzuführen – beziehungsweise, Sie darin zu unterstützen, ihn gar nicht erst zu verlassen. Wir vertrauen darauf, dass Sie das Übrige tun.
Und in den meisten Fällen werden Sie das auch. Untersuchungen haben gezeigt, dass etwa sechzig Prozent der Eltern eine sichere Bindung zu ihrem Kind entwickeln. Bindungssicherheit lässt sich nicht völlig präzise messen, daher bezeichnet man eine Bindung mit Einschränkungen oft als „überwiegend“ oder „einigermaßen“ sicher. Wie wir in unseren eigenen Forschungsarbeiten herausfanden, kann man Sicherheit auch erlernen. Und es ist wichtig zu wissen, dass selbst sichere Bindungen nicht immer nur schön sind. Auch wenn die Dinge gut laufen, machen Eltern, deren Kinder sicher gebunden sind, Fehler, und sie reagieren nur die meiste Zeit sensibel auf die Bedürfnisse ihrer Kinder, jedoch nicht die ganze Zeit.