Wie der Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott einst sagte: „Wenn man ein Baby beschreiben will, wird man feststellen, dass man ein Baby und zugleich eine andere Person beschreibt.“ Damit brachte er zum Ausdruck, wie unentbehrlich wir für unsere Kinder sind. Baby Gino oder Sasha oder Hiroto haben vielleicht eigene Arme, Beine und Gesichter, aber in Wirklichkeit existieren Sie noch nicht vollständig als Individuen. Wir neigen dazu, Babys als komplett ausgeformte kleine Kreaturen zu sehen, die tief im Inneren wissen, was sie fühlen und brauchen und wer sie sind, nur einfach noch nicht über die sprachlichen Fähigkeiten verfügen, um es auszudrücken. In Wirklichkeit aber haben neugeborene Babys keine Ahnung, was sie fühlen, außer dass ganz oft irgendetwas Unbekanntes und Schwieriges mit ihnen geschieht (sie brauchen irgendetwas) – ein ungeformtes Verlangen beginnt, sich zu entwickeln. Wenn Mama oder Papa dem gestressten Baby dann in die Augen schauen, „ja, ja“ gurren und magischerweise verstehen, was das Baby braucht – und es ihm sogar geben! –, sagen die Eltern dem Baby damit: „Ich bin bei dir. Wir fühlen ähnlich und wir kriegen das zusammen hin.“ Wenn dieser Austausch wieder und wieder stattfindet, lernt das Baby, dass menschliche Gefühle normal, akzeptabel und mitteilbar sind. Es lernt, dass dieser besondere Erwachsene seine Gefühle für es ordnen und ihm nach und nach beibringen kann, sie selbst zu regulieren – ein Vorgang, den man „Co-Regulation von Gefühlen“ nennt. Es lernt, dass es mit Mutter oder Vater viele wichtige Dinge gemeinsam hat, jeder für sich aber auch ganz einzigartig ist. Es erfährt, dass die Beziehung – das „und“ – wesentlich für die Formung des Selbst ist.
Bis zur Mitte des 20 Jahrhunderts stand das Selbst als ein von den anderen Menschen getrenntes Wesen im Fokus der Entwicklungspsychologie. In der westlichen Gesellschaft hat diese Annahme viele Ansichten und Erwartungen darüber geprägt, wie wir unser Leben führen sollten. Sobald wir dazu in der Lage waren, wurde von uns erwartetet, dass wir für uns selbst sorgen, und die Sozialpolitik begünstigte, zumindest in den Vereinigten Staaten, individuelle Bedürfnisse vor kollektiven. In unserer Arbeit mit dem Kreis der Sicherheit sind wir zu der gegensätzlichen Ansicht gelangt: Es ist das „Und“, das wichtig ist. Wir würden sogar so weit gehen zu behaupten, dass Unabhängigkeit ein Mythos ist. Von der Geburt an bis ins hohe Alter steht unsere Fähigkeit, einigermaßen autonom zu handeln, in direktem Zusammenhang mit unserer Fähigkeit zur Verbundenheit. Was bedeutet das für Eltern mit kleinen Kindern? Wenn wir möchten, dass unsere Kinder selbstständig werden, hinausgehen und es mit der Welt aufnehmen, müssen wir ihnen das volle Vertrauen ermöglichen, dass sie zu uns zurückkommen können, wenn sie das brauchen. Autonomie und Verbundenheit: Das ist sichere Bindung.
Und das kann zum Beispiel so aussehen:
Lei ist drei Jahre alt. Sie ist lebendig, verspielt und voller Neugier. Sie und ihr Vater sind gerade in den Park spaziert, der zwei Blocks von ihrem Zuhause entfernt liegt, und während sie auf das Klettergerüst zusteuern, wirft Lei, wie es typisch für sie ist, ihrem Vater lediglich einen flüchtigen Blick zu (kaum länger als eine Millisekunde) und rast davon, um ihre Version des Mount Everest zu besteigen. Was einem beiläufigen Beobachter vielleicht nicht auffällt, ist, dass Lei in dieser Millisekunde, in der sie mit ihrem Vater Kontakt aufnimmt, genau die Erlaubnis und die Unterstützung bekommt, die sie braucht – ist es ein kurzer Blick, ist es etwas in seinen Augen? –, um zu wissen, dass es absolut in Ordnung ist, dieses neue Abenteuer zu wagen.
Vierzehn Sekunden später ist sie bereits auf der Spitze des Gerüsts, schaut zu ihrem Vater zurück, mit jeder Faser ihres Körpers Stolz verströmend, und verkündet ihren Triumph: „Ich bin ein großes Mädchen.“
„Ja, das bist du, Lei“, antwortet ihr Vater, „ja, das bist du!“ (Was Lei nicht weiß, ist, dass ihr Vater sehr an sich halten muss, um nicht einzugreifen und da zu bleiben, wo er ist, weil ein Teil von ihm Angst hat, dass sie herunterfallen könnte. Doch aufgrund ihrer früheren Erfahrungen mit diesem Gerüst, bei denen er das Bedürfnis hatte, nahe bei seiner Tochter zu bleiben und auf sie aufzupassen, weiß er nun, dass sie über die Kraft, den Gleichgewichtssinn und die Begeisterung verfügt, um diesen Teil des Spielplatzes auf eigene Faust zu erkunden.)
Nach weiteren zwanzig Sekunden klettert Lei wieder herunter. Sie hat noch immer Spaß, freut sich noch immer an ihrem wachsenden Kompetenzgefühl, doch sie rennt zurück zu ihrem Vater, strahlend und sichtbar stolz auf ihre Leistung. Sie ist entzückt. Er ist entzückt. Sie schaut ihm in die Augen, sie berühren sich kurz, und dann – zack! – rennt sie wieder los, dieses Mal auf die Rutsche zu, bereit für eine weitere aufregende Runde.
Das ist also sichere Bindung. In diesem einfachen Augenblick ist Leis Vater einfach bei ihr und reagiert auf die sich verändernden Bedürfnisse seiner Tochter, während sie die mitunter angsteinflößende Aufgabe in Angriff nimmt, ihre Welt zu erkunden. Wichtig ist dabei auch, dass Lei deswegen weiß, dass ihr Vater auf sie reagieren wird, weil er das in der Vergangenheit bereits viele Male getan hat. Das ist einer der Gründe, aus denen die ganze Abfolge so glatt abzulaufen scheint, so ungeplant. Leis Ausdruck ihrer grundlegenden psychischen Bedürfnisse und die Reaktionen ihres Vaters haben sich zu dem Gewebe ihrer Beziehung verflochten.
Bindung: Ein bleibendes Vermächtnis
Lei und ihr Vater mussten wohl kaum bewusst über ihre Verhaltensweisen nachdenken, doch wie bei allen Menschen haben die positiven Effekte ihrer sicheren Bindung eine bleibende Wirkung. Diese erste Beziehung, die so nah ist, dass „zwei“ darin fast nicht von „einem“ zu unterscheiden ist, können wir nicht einfach abschütteln, wie ein Schmetterling seinen Kokon abstreift, auf und davon fliegt und vergnügt bis ans Ende seiner Tage lebt. Wir tragen sie mit uns in all unsere Beziehungen, all unsere Arbeit, all unsere Interaktionen, und falls es sich um eine sichere Bindung handelt, dann könnte sie unter Umständen zu einem vergnüglichen „bis ans Ende unserer Tage“ führen.
Fünfzig Jahre Forschung haben gezeigt, dass Kinder mit einer sicheren Bindung:
• mehr Freude mit ihren Eltern erleben
• weniger wütend auf ihre Eltern sind
• sich besser mit ihren Freunden verstehen
• stabilere Freundschaften haben
• in der Lage sind, Probleme mit Freunden zu lösen
• bessere Beziehungen zu ihren Geschwistern haben
• über ein stärkeres Selbstvertrauen verfügen
• wissen, dass sich für die meisten Probleme eine Lösung finden wird
• darauf vertrauen, dass gute Dinge auf sie zukommen
• den Menschen vertrauen, die sie lieben
• freundlich zu den Menschen um sie herum sind
Jahrzehntelange Forschungen haben inzwischen belegt, dass eine sichere Bindung an eine primäre Bezugsperson dafür sorgt, dass die Kinder gesünder und glücklicher sind, in praktisch jeder Hinsicht, in der wir diese Dinge messen können – in Bezug auf Kompetenz und Selbstvertrauen, Empathie und Mitgefühl, Resilienz und Durchhaltevermögen… in Bezug auf die Fähigkeit, Emotionen zu regulieren, intellektuelle Fähigkeiten zu entwickeln und die körperliche Gesundheit zu erhalten… in Bezug auf die Arbeit und ein erfülltes Privatleben. Vielleicht noch wichtiger ist, dass eine sichere Bindung in der ersten Beziehung eines Kindes die Grundlage für gute Beziehungen im weiteren Leben legt. Und inzwischen wissen wir ohne Zweifel, dass Beziehungen der Motor und das Gerüst für Zufriedenheit und Erfolg in allen Lebensbereichen sind. Untersuchungen haben gezeigt, dass soziale Beziehungen die geistige und körperliche Gesundheit fördern und sogar das Sterberisiko senken: Analysen zu Studien in zahlreichen Ländern haben wiederholt ergeben, dass die Wahrscheinlichkeit eines vorzeitigen Todes