Abb. 3-10 Chipping-Fraktur an kaulasttragenden Höckern der ersten unteren Molaren. a) Erste kleine Fraktur des distovestibulären Höckers an Zahn 36 nach kurzer Gebrauchsperiode. b) Größerer Schmelzeinbruch am distovestibulären Höcker von Zahn 46.
3.5.3 Mineraldichte
Analysen zum Mineralgehalt von MIH-betroffenen Zahnschmelzproben ergeben in Abhängigkeit von der gewählten Untersuchungstechnik eine Bandbreite an unterschiedlichen Ergebnissen10,17,18,21,22. REM-Aufnahmen nach dem Rückstreuungsprinzip weisen bei hypomineralisiertem Schmelz lediglich eine Abnahme von 5 % in der Mineraldichte gegenüber gesundem Schmelz auf. Dagegen konnten röntgentomografische Prüfungen eine reduzierte Mineraldichte von ca. 20 % in betroffenen Arealen demonstrieren. Die als Goldstandard geltende transversale Mikroradiografie zeigt sogar, dass in den am stärksten betroffenen Regionen die Mineraldefizite sogar 45 % übersteigen können18,22,23.
Weitere Unterschiede werden im Hinblick auf den Mineralkonzentrationsgradienten deutlich. Während gesunder Schmelz einen von der Schmelz-Dentin-Grenze zur Oberfläche hin zunehmenden Gradienten aufweist, nimmt dieser bei MIH-befallenem Schmelz ab. Die Oberfläche weist dann zusätzlich eine dünne Schicht gut mineralisierten Schmelzes auf22.
Interessanterweise scheint sich die Reduktion in der Mineraldichte nicht nur auf den tatsächlich klinisch betroffenen MIH-Schmelz zu begrenzen, sondern ist auch in der sogenannten Übergangszone, d. h. in bereits klinisch gesund aussehendem Schmelz direkt neben dem MIH-Defekt, zu finden24. Dies kann von großer klinischer Relevanz sein, da im klinischen Alltag häufig die visuell nachweisbaren Läsionsgrenzen als Grenzen für die Präparation geplant werden18,21,24.
3.5.4 Chemische Eigenschaften
Im Vergleich zu gesundem Schmelz zeigt MIH-befallener Schmelz einen vielfach höheren Proteingehalt25,26. Eine Arbeitsgruppe konnte zeigen, dass dieser im Fall von weißen und gelben Opazitäten etwa 8-fach höher, bei braunen Verfärbungen sogar 15- bis 21-fach höher liegt26. Andere Autoren fanden einen 3- bis 15-fach höheren Proteingehalt in hypomineralisierten Schmelzarealen25. Gelber oder brauner Schmelz ist dabei reich an Serumalbumin, Antitrypsin und Serumantithrombin. Der Gehalt an verbleibenden Amelogeninen entspricht nahezu den Normwerten25.
Untersuchungen, in denen das Ca/P-Verhältnis von betroffenem und gesundem Schmelz verglichen wurde, sind in ihren Ergebnissen uneinheitlich11,15,17. Während einige Forschungsarbeiten keinen Unterschied im Ca/P-Verhältnis fanden18, konnte in anderen Studien eine um 5 bis 20 % reduzierte Ratio ermittelt werden27,28.
Analysen der Kohlenstoff/Karbonat-Konzentration und des Kohlenstoffgehalts zeigen eine signifikante Erhöhung sowohl der Kohlenstoffkonzentration als auch des Karbonatgehalts bei hypomineralisiertem Schmelz7,11,27.
3.6 Klinische Implikationen und Schlussfolgerung
MIH-betroffene Zähne zeichnen sich durch eine verminderte Mineralisation aus, die sich vom klassischen Krankheitsbild der Karies unterscheidet. Folglich lassen sich die allgemein gültigen Therapiegrundsätze einer Kariesbehandlung nicht 1:1 auf die der MIH übertragen.
MIH-Schmelz weist einen reduzierten Ca- und P-Gehalt, eine geringere Härte und einen verminderten Elastizitätsmodul aus. Zudem zeigen sich im Vergleich zu gesundem Zahnschmelz stärkere Porositäten, erhöhte Kohlenstoff- und Karbonatkonzentrationen und höhere Proteingehalte. Die Schmelzkristalle sind weniger dicht gelagert und haben dickere prismatische Hüllen sowie höhere inter- und intraprismatische Konzentrationen organischer Partikel. Darüber hinaus ist geätzter MIH-Schmelz durch ein abnormes Ätzmuster charakterisiert, das nicht optimal für den nachfolgenden adhäsiven Verbund mit Restaurationsmaterialien ist.
Aus den beschriebenen Merkmalen lassen sich einige klinischen Überlegungen für die Behandlung von MIH-betroffenen Zähnen ableiten: Da der Schmelz dieser Zähne eine reduzierte Härte und Elastizität aufweist und somit weniger belastbar ist, sollten trotz der prinzipiell minimalinvasiven Herangehensweise bei der restaurativen Therapie überhängende MIH-Schmelzareale vermieden werden24,29. Zudem sollte eine Extension der Kavitätenpräparation bis in den gesunden Schmelz in Betracht gezogen werden24,29, um die Notwendigkeit einer schnellen Wiederbehandlung zu reduzieren. Allerdings ist dies nicht immer möglich. Die hierzu existierenden unterschiedlichen Ansätze werden in Kapitel 12 näher beleuchtet.
1. Radlanski RJ. Orale Struktur- und Entwicklungsbiologie. Berlin: Quintessenz, 2011.
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