Auf den ersten Blick schien man tatsächlich vieles verändert zu haben: Das Arbeitssystem und der Input waren sauber visualisiert, WIP-Limits gesetzt und neue Feedbackschleifen installiert. Die ersten Retrospektive-Ergebnisse bestätigten, dass die Leute mehr über ihre tatsächlichen Arbeitsflüsse gelernt hatten. Erste Messdaten gaben Aufschluss über die aktuelle Leistungsfähigkeit und ermöglichten verlässlichere Zusagen gegenüber den Kunden. Wie sich im Rahmen des von mir moderierten Verbesserungsworkshops herausstellte, wurden diese Lernergebnisse jedoch durch einige alte Verhaltensmuster konterkariert. So wurde der Input zwar visualisiert, die dahinter stehenden Stakeholder jedoch nur wenig koordiniert, sodass nach wie vor die lauteste Stimme regierte. Die Standups wurden vom Abteilungsleiter noch sehr stark als Statusreporting moderiert und den einzelnen Aktivitäten auf dem Board waren formelle Gates hinterlegt, an denen die Leute auf hierarchische Entscheidungen warten mussten. Im Rahmen des Workshops arbeiteten wir intensiv an diesen Problemen – und definierten auch klare Lösungswege.
Es spricht für die Aufgeschlossenheit der Abteilung, dass sie am Ende unseres Workshops alles andere als frustriert waren. »Die Entwicklung geht munter weiter«, brachte es der Abteilungsleiter auf den Punkt, »und auch ich habe jetzt präzise Hinweise, was ich als Nächstes angehen muss.«
Das Wechselspiel von Lernen und Verlernen erinnert uns daran, dass Selbstorganisation kein technischer Prozess ist. Obwohl wir mit einer Menge struktureller Themen zu tun haben, sind immer Emotionen im Spiel: positive wie Stolz, Begeisterung oder Spaß, aber auch negative wie Verwirrung, Unsicherheit und Angst. Beide Gefühlskategorien sind wie zwei Seiten derselben Medaille, die vor allem in Veränderungsprozessen in Erscheinung treten, aber konstitutiver Bestandteil aller Teamarbeit sind. Keine Motion ohne Emotion wie der Lateiner weiß.
Unter diesem Blickwinkel erstaunt es kaum, dass viele der Verschiebung von Autorität mit gemischten Gefühlen gegenüberstehen. Wie immer, wenn wir an den Grundlagen des professionellen Selbstwertgefühls rütteln (etwa an Rollen, Verantwortlichkeiten oder Jobtiteln), werden wir einige Leute überfordern und andere vor den Kopf stoßen. Wie die deutschen Change-Management-Pioniere Klaus Doppler und Christoph Lauterburg schon vor über 20 Jahren überzeugend darlegten, tauchen mit jedem bevorstehenden Wandel sofort drei Fragen auf [Doppler & Lauterburg 2000]:
Muss ich mich verändern? Verstehe ich, wozu wir selbstorganisierte Teams brauchen? Sind diese Teams verpflichtend oder gibt es Alternativen? Und was kann ich mir davon erwarten?
Kann ich mich verändern? Bin ich in der Lage, mit den Folgen von Selbstorganisation umzugehen? Habe ich alle Kompetenzen, die es für Selbstorganisation braucht? Wie stehen meine Chancen für gute Ergebnisse? Was zählt unter den neuen Rahmenbedingungen als Erfolg?
Will ich mich verändern? Ist Selbstorganisation interessant? Was ist für mich drin? Besteht irgendein Risiko, dadurch Geld, Beziehungen oder Karriereperspektiven zu verlieren? Oder kann ich mir vielleicht sogar einen Gewinn ausrechnen?
»Wir sind ja alle für eine Verbesserung, aber warum müssen wir dafür gleich unsere Organisation ändern?«, brachte eine Betriebsmitarbeiterin die weitverbreitete Veränderungsambivalenz einmal auf den Punkt. Selbstverständlich kann eine solche Veränderung nicht einfach verordnet werden. Wie ich in Kapitel 6 zur Führungskompetenz des Veränderns noch genauer ausführen werde, braucht es dafür von Anfang an professionelles Change Management. Es braucht:
Profunde Information – Was ist Selbstorganisation?
Gemeinsames Verständnis – Wozu brauchen wir das?
Klare Messkriterien – Woran erkennen wir, dass uns die Selbstorganisation etwas bringt?
Professionelle Moderation – Wie werden wir den Wandel gestalten?
Kontinuierliches Training und Coaching – Was müssen wir wissen und tun? Wie geht das konkret? Und wer unterstützt uns dabei?
1.3Was haben selbstorganisierte Teams mit Führung zu tun?
Nach den bisherigen Ausführungen liegt die Frage auf der Hand, was genau wir tun müssen, um Selbstorganisation zu fördern. Was ist notwendig, um Teams sozusagen in Form zu bringen? Wie lässt sich deren Selbstorganisation bestmöglich unterstützen? Und wer tut was, damit wir gemeinsam in Führung gehen können?
Mein Konzept von Führung als Teamsport aufgreifend, möchte ich im Folgenden eine Analogie zum Fußball wagen, um diesen Fragenkatalog zu bearbeiten. Für diese Analogie sprechen zumindest zwei Gründe. Erstens kann Fußball als Paradebeispiel für agile Interaktionen gesehen werden. Ständig muss man sich auf neue Spielsituationen einstellen, rasch auf überraschende Spielzüge des gegnerischen Teams reagieren, dessen Angriffe entschärfen, dabei eigene Chancen kreieren und diese auch möglichst effizient nützen. Zugleich gilt es, angemessen mit der Eigendynamik des Umfelds umzugehen – sei es nun die Anfeuerungen der eigenen Fans im Stadion (nutzen!), die Buhrufe der gegnerischen Anhängerinnen (ignorieren!), die Kritik der Medien zu verarbeiten oder den Wünschen der Sponsoren und Eigentümerinnen zu entsprechen.
Zweitens demonstriert Fußball anschaulich, dass wir nur als Team erfolgreich sein können. Ein Spiel, geschweige denn die Meisterschaft kann nur gewonnen werden, wenn alle Spielerinnen zusammenhelfen. Dafür braucht es eine Vielzahl von Fähigkeiten:
Die Fähigkeit, das gesamte Spiel, das Zusammenspiel des Teams sowie die eigene Rolle im Spiel zu verstehen – sei es nun als Torhüter, Verteidigerin, Mittelfeldspieler oder Angreiferin.
Die Fähigkeit, sich innerhalb eines vorgegebenen Rahmenwerks zu bewegen.
Physische Fähigkeiten wie Laufen, Springen, Checken oder Grätschen.
Technische Fähigkeiten mit dem Ball wie Passen, Stoppen, Dribbeln oder Schießen.
Taktische Fähigkeiten bezüglich der Spielanlage, bestimmter Spielzüge, des Umschaltspiels von Defensive auf Offensive oder des Spiels ohne Ball.
Emotional-intelligente Fähigkeiten, sodass man auch in der hitzigsten Situation weder die Gegner noch die Schiedsrichterin ungebührlich attackiert.
Strategische Fähigkeiten, um die aktuelle Spielsituation rasch zu überblicken, Angriffsmöglichkeiten und Defensivbedarfe zu erkennen sowie Standardsituationen wie Freistöße, Eckbälle oder Elfmeter herauszuarbeiten.
Systemdenkerische Fähigkeiten, um zu verstehen, dass Fußball mehr ist als 22 Spielerinnen, die das Runde ins Eckige zu bringen versuchen.
Natürlich tragen die einzelnen Spieler unterschiedlich zur Team-Performance bei. Die sogenannte Netzwerkanalyse verdeutlicht beispielhaft, dass es immer aktivere Spieler gibt (siehe Abb. 1–5). Diese Spieler, die mit größeren Kreisen dargestellt werden, dominieren aber das Spiel nicht zwangsläufig. Teil der Faszination von Fußball ist es, dass jeder auf dem Feld das entscheidende Tor erzielen kann – sogar der Torhüter, wie einige der spektakulärsten Situationen der Fußballgeschichte belegen.
Ganz nebenbei spitzt Abbildung 1–5 die Frage nach der Rolle des Coaches zu, der im Englischen bezeichnenderweise Manager heißt. Was ist seine Aufgabe? Das Spiel zu kontrollieren? Die Bewegungen seines Teams zu steuern? Alle wesentlichen Spielzüge durchzuplanen? Alle, die auch nur