Zusammenfassung
In diesem Kapitel werden die Grundlagen selbstorganisierter Teams geklärt. Gleich zu Beginn zeigt die sogenannte Autoritätsmatrix von J. R. Hackman, dass es sehr unterschiedliche Formen von Selbstorganisation gibt. Die Palette reicht von managergeführten über sich selbst führende oder selbst gestaltende bis zu autonomen Teams. In jedem dieser Teams ist die Verantwortung für die vier Kernfunktionen unterschiedlich verteilt: Zieldefinition, Kontextklärung, Arbeitsmanagement und Aufgabenerledigung erfolgen entweder durch das Management oder durch das Team.
Glenda Eoyangs C/D/E-Modell stellt wiederum klar, dass es drei Voraussetzungen braucht, damit sich Selbstorganisation entfalten kann: erstens eine Grenze, die das jeweilige Team umfasst und seine Rahmenbedingungen absteckt (C wie containing boundary), zweitens Unterschiede hinsichtlich Wissen, Erfahrung, Ausbildung, Alter oder kulturellem Hintergrund, die jedes echte Team braucht (D wie differences), und drittens einen konstruktiven Austausch zwischen den unterschiedlichen Teammitgliedern (E wie exchange). Darüber hinaus spielt auch der Organisationskontext eine wesentliche Rolle. Der organisationsweite Informationsaustausch, die Entscheidungsregeln oder die Feedbackschleifen zwischen Teams und Managern beeinflussen in hohem Maße, wie gut sich Selbstorganisation entfalten kann.
Der Nutzen scheint auf der Hand zu liegen: Selbstorganisierte Teams arbeiten nachweislich mit mehr Freude und Motivation, erhalten besseres Kundenfeedback und schaffen mehr Geschäftswert. Warum selbstorganisierte Teams dennoch nicht das Kernelement moderner Unternehmen darstellen, hat mit der Gestaltung dieser Unternehmen zu tun – und damit zugleich mit dem Design der Managementrolle. Der Vergleich mit dem Fußball unterstreicht, dass es eben nicht nur auf dem Spielfeld, sondern auch zwischen dem Team und dem Coach agile Interaktionen braucht. Das Teilen von Führungsverantwortung und ein entsprechendes Empowerment der Teams sind dafür wesentliche Erfolgsfaktoren.
2Ein Modell für die Führung selbstorganisierter Teams
Was bedeutet die Fußballanalogie für agile Teams? Auf welche Grundwerte können diese setzen? Welche Fähigkeiten werden gebraucht, um Führung in allen Organisationsbereichen zu stärken? Und welche Werkzeuge helfen uns dabei?
In diesem Kapitel versuche ich diese Fragen mithilfe eines einfachen Modells für die Führung selbstorganisierter Teams zu beantworten. Dieses Führungsmodell spiegelt meine aktuellen Erkenntnisse wider, die sich sowohl aus meiner Forschungs- als auch meiner praktischen Arbeit ergeben. Mir ist bewusst, dass dies nicht der Weisheit letzter Schluss ist (falls es so etwas überhaupt gibt). Mir ist ebenso bewusst, dass es eine Vereinfachung dessen darstellt, was sich im komplexen Arbeitsalltag von agilen Teams abspielt. Immerhin wissen wir, dass zwar alle Modelle falsch, manche aber trotzdem nützlich sind.
Mit allem gebotenen Respekt für meine eigenen Kurzsichtigkeiten weiß ich, dass mein Führungsmodell schon in vielen Situationen geholfen hat: Managerinnen und Manager verstanden dadurch besser, was sie gerade taten, Teams fühlten sich zu unterschiedlichsten Experimenten in verteilter Führung ermutigt, andere Coaches begannen intensiv über ihre eigene Arbeit zu diskutieren und ich selbst hatte eine Art von Landkarte, um mich in unbekanntem Gelände zurechtzufinden.
Eine Expedition ins Ungewisse
In seinem Buch Sensemaking in Organizations erzählt der amerikanische Organisationspsychologe Karl Weick die Geschichte einer ungarischen Militäreinheit, die ein Manöver in den Schweizer Alpen durchführte [Weick 1995]. Von einem Schneesturm überrascht, verlor die Einheit jede Orientierung und irrte zwei Tage lang umher. Angehörige hatten bereits jede Hoffnung aufgegeben, als die Einheit drei Tage später wohlbehalten ins Basislager zurückkehrte.
Wie hatte die Einheit es geschafft, dieser schier ausweglosen Situation zu entkommen? Der Kommandant der Einheit erzählte, dass sie tatsächlich bereits alle Hoffnung verloren hatten, als einer der Soldaten zufällig eine Landkarte in seinem Rucksack fand. Alle schienen schlagartig ungeahnte Kräfte zu mobilisieren, es wurde ein gemeinsames Camp errichtet und man überlebte den Sturm. Am nächsten Tag führte der Kommandeur dann seine Truppe mithilfe der Landkarte zum Basislager zurück. Dort war die Überraschung groß, als man herausfand, dass das gar keine Karte der Schweizer Alpen, sondern eine der Pyrenäen war.
Abb. 2–1 Ein Führungsmodell für selbstorganisierte Teams
2.1Drei Dimensionen
Grundsätzlich besteht das Modell aus drei Dimensionen: die Werte, die Kompetenzen und die Werkzeuge für die Führung selbstorganisierter Teams. Abbildung 2–1 zeigt diese Ebenen in Form eines Schiffssteuerrads.
Im Zentrum dieses Steuerrads stehen vier Werte: Respekt, Commitment, Einfachheit und Mut. Es sind dies die vier Begriffe aus dem Lean- und agilen Wertekanon, die mich am stärksten ansprechen. Um diese Grundwerte dreht sich gleichsam alles, was an Kompetenzen gebraucht und an Werkzeugen eingesetzt wird. Sie legen in hohem Maße fest, wie wir uns gegenüber der Welt und der Arbeit verhalten. Deswegen stellen sie gleichsam die Radnabe unserer Führungsaktivitäten dar.
Der mittlere Bereich steht im Zeichen jener vier Kompetenzen, die ich als zentral für die erfolgreiche Führung selbstorganisierter Teams ansehe: Fokussieren, Designen, Moderieren und Verändern. Genau wie die Werte sind diese Kompetenzen keine trennscharfen Kategorien.
So finden sich zahlreiche Fundamente des Fokussierens in Designfundamenten wieder – beispielsweise in der Sprint-Planung von Scrum oder dem visuellen Arbeitsmanagement von Kanban. Andererseits brauchen Sie für das Designen eine professionelle Moderation, um Ihre Ideen zu gestalten. So wird es Ihnen beispielsweise nicht gelingen, ein System kurzer Feedbackschleifen zu etablieren, ohne die richtigen Leute zusammenzubringen. Moderieren bedeutet aber auch, gute Rahmenbedingungen für die tägliche Teamarbeit zu schaffen. Wir wissen wohl alle, was bei Besprechungen ohne Agenda, ohne Beteiligung aller Anwesenden oder ohne eine Zusammenfassung von Ergebnissen herauskommt. Letztendlich braucht es sowohl Fokussierungs- wie Design- und Moderationsfähigkeiten, wenn Veränderung gelingen soll.
Der äußere Bereich meines Steuerrads zeigt einige der Werkzeuge, die Teams für die Umsetzung ihrer Kompetenzen benötigen. Damit bekommen sie gleichsam die Praxis der Selbstorganisation in den Griff. Neben den benannten verweisen die unbenannten Handgriffe auf die Vielfalt möglicher Tools. Deren hohe Anzahl unterstreicht, dass effektive Führung heutzutage eben mehrere Steuermänner oder -frauen braucht. Selbstorganisierte Teams setzen für jede Situation verschiedene Werkzeuge ein. Nicht selten legen dabei gleich mehrere Leute Hand an, um die jeweilige Aufgabe gemeinsam zu meistern.
Summa summarum ergibt sich die Führungsleistung eines Teams immer aus dem Zusammenwirken von Werten, Kompetenzen und Werkzeugen. Diese drei Dimensionen sind freilich nicht linear miteinander verbunden: Der Grundwert Commitment hängt so wenig am Designen wie das Moderieren nur mit den Werkzeugen Review oder Retrospektive stattfinden kann. Stattdessen gleichen die drei Dimensionen eher Kugellagern, die sich ineinander bewegen und immer wieder neu verbinden. In der einen Situation zeigt sich der Grundwert des Muts beispielsweise im Fokussieren auf neue Geschäftsmöglichkeiten, während er in einer anderen Situation das Design eines visuellen Arbeitsmanagementsystems beseelt. Die Kernkompetenz des Veränderns kann gleichermaßen in der Reformulierung teamspezifischer Purpose Statements gefragt sein wie in der Umgestaltung der Managementrolle. Schließlich kann das Werkzeug des kollegialen Feedbacks sowohl individuelle Verbesserung anstoßen als auch die Moderation agiler Meetings bereichern.