Selbstorganisierte Teams führen. Siegfried Kaltenecker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Siegfried Kaltenecker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Зарубежная деловая литература
Год издания: 0
isbn: 9783969105344
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optimal abzustimmen – wofür in der Lean- und agilen Entwicklungswelt regelmäßige Meetings wie Stand-ups, Produktpräsentationen oder Retrospektiven genutzt werden.

      Ein weiteres Charakteristikum selbstorganisierter Teams ist die Balance zwischen Ähnlichkeit und Unterschiedlichkeit. Paradoxerweise müssen Teammitglieder ausreichend Gemeinsamkeiten haben, damit sie ihre persönlichen wie fachlichen Differenzen produktiv machen können. Wie der deutsche Systemdenker Diether Gebert in seiner Studie zu innovativen Teams gezeigt hat, müssen die Teammitglieder einander zuerst einmal ein gewisses Grundvertrauen entgegenbringen [Gebert 2004]. Ohne einen Vorschuss an Respekt und Akzeptanz können sie weder ihre individuellen Hintergründe erforschen noch die gemeinsamen Arbeitsprozesse definieren. Später sind laut Gebert vor allem eine angemessene Balance von Anerkennung und Belohnung sowie ein fairer Umgang wesentlich. Respektlosigkeit schadet der Teamarbeit ebenso wie das Trittbrettfahren auf Kosten von anderen.

       Selbstversorgung in der Gesellschaft

      Wem die weiter oben erzählte Geschichte über die selbstorganisierte Futtersuche der Ameisen zu tierisch ist, der muss nicht lange suchen, um auch im Sozialen fündig zu werden – etwa bei Hausbesetzern. Eines der eindrucksvollsten Beispiele gesellschaftlicher Selbstversorgung führte über viele Jahre hinweg der »Torre de David« in Caracas vor Augen. Denn ab 2007 brachte die Wohnungsnot in der Hauptstadt Venezuelas über 1.000 Familien aus den umliegenden Armenvierteln dazu, in ein nie fertiggestelltes 190 Meter hohes Finanz- und Bürogebäude einzuziehen.

      Abseits all der Mythen, die sich um den anarchischen Wolkenkratzer ranken, wurde die Kraft der Selbstorganisation durch viele Fakten belegt: beispielsweise durch ein Mopedtaxi, das den fehlenden Lift ersetzte und die Bewohner immerhin bis ins zehnte der 28 bewohnten Stockwerke brachte; durch die Wasser- und Stromversorgung, die allen Familien für wenig Geld zur Verfügung stand; durch einen Lebensmittelladen, einen Friseur und sogar einen Zahnarzt, die sich im Torre angesiedelt hatten; oder durch eine gemeinsam vereinbarte Hausordnung [Brillembourg & Klumpner 2012].

      Es liegt auf der Hand, dass sich selbstorganisierte Teams gut einspielen müssen, um ihr Potenzial entfalten zu können. Was Russell Ackoff über Systeme im Allgemeinen sagt, gilt ebenso für jedes einzelne Team: Seine Leistung ergibt sich nicht aus der Summe seiner Teile, d.h. aus den addierten Leistungen jedes einzelnen Teammitglieds – es ist vielmehr das Ergebnis der Interaktionen aller Teammitglieder [Ackoff 1994].

       1.1.2Voraussetzungen für Selbstorganisation

      In ihrer Dissertation Conditions for Self-Organizing in Human Systems nennt Glenda Eoyang drei Grundbedingungen für Selbstorganisation [Eoyang 2002]:

      1 Eine Grenze, die das System umfasst und seine Identität definiert (im Original C für containing boundary). Einfach gesagt gibt es kein klares »Selbst« ohne eine definitive Abgrenzung von »Anderen«. In Unternehmen erfolgt diese Abgrenzung beispielsweise durch richtungsweisende Missionen, explizite Regeln oder eindeutige Entscheidungsrichtlinien.

      2 Unterschiede hinsichtlich Wissen, Erfahrung, Ausbildung, Alter, Geschlecht oder kulturellem Hintergrund (im Original D für differences). Eingespielte Teams wissen, wie sie ihre Diversität am besten einsetzen.

      3 Ein offener Austausch sowohl innerhalb des Teams als auch im Wechselspiel mit dem Umfeld (im Original E für exchange).

      Jedes Element dieses sogenannten C/D/E-Modells ist von einem unterstützenden Organisationskontext abhängig. Dieser Kontext gleicht dem, was jede Pflanze braucht, um gut gedeihen zu können: fruchtbare Erde, sauberes Wasser, gute Luft und ausreichend Licht. Auf unternehmerische Zusammenhänge übertragen sorgen vor allem folgende Dinge für gutes Wachstum:

       Fokus, der jedem selbstorganisierten Team deutlich macht, worauf es sich konzentrieren soll und auf welches größeres Ganzes seine Arbeit einzahlt (Stichwort Strategie);

       Entscheidungsregeln, die Gestaltungsspielräume und Kompetenzen klären;

       Ressourcen wie angemessene Arbeitsräume, Budgets, Werkzeuge, Weiterbildungsmöglichkeiten oder Coaching;

       Arbeitsflüsse, im Sinne transparenter Abläufe und Ergebnisse;

       Feedback zur laufenden Abstimmung und Validierung des eigenen Tuns;

      Eoyangs Modell aufgreifend können wir nun ein einfaches Bild von Rahmen, Unterschieden und Austausch im Unternehmenskontext zeichnen.

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      Abbildung 1–2 zeigt fünf gelbe Formen im Zentrum. Diese Formen repräsentieren die Unterschiede der einzelnen Teammitglieder hinsichtlich ihres Backgrounds, ihrer persönlichen Stärken oder ihrer fachlichen Fähigkeiten. Die schwarzen Verbindungspfeile unterstreichen, dass alle Teammitglieder miteinander vernetzt sind. Durch intensiven Austausch formen sie sich zu einem Team, das um seine Unterschiedlichkeit weiß. Dieser Austausch ist jedoch keineswegs auf das Team begrenzt. Agilität steht und fällt damit, dass der Rahmen auch direkte Interaktion mit Kunden und Stakeholdern fördert. Weit davon entfernt, für seine Umwelt eine klassische Blackbox darzustellen, steht das Team in beständigem Austausch mit dieser Umwelt – und kann darüber hinaus, wie ich in Kapitel 4 noch genauer ausführen werde, wesentliche Aspekte seines Innenlebens transparent machen.

      Jedes Team braucht einen unterstützenden Rahmen im Sinne eines richtungsweisenden Fokus, klarer Entscheidungsregeln oder geschmeidiger Kommunikationsflüsse. Und es braucht jemand, der Verantwortung für das Management dieses Rahmens übernimmt – dargestellt in Form eines orange umrandeten Kreises, der bewusst außerhalb des Team-Fünfecks platziert ist. In Kapitel 5 werde ich mich ausführlich mit dieser besonderen Rolle und ihrem Zusammenspiel mit dem selbstorganisierten Team beschäftigen. Zuvor gilt es jedoch, noch ein paar andere Grundfragen zu klären.

       1.2Wozu brauchen wir selbstorganisierte Teams?

      Obwohl wir nunmehr die konstitutiven Merkmale selbstorganisierter Teams geklärt haben, bleibt uns die Frage nicht erspart, wozu wir diese überhaupt brauchen. Wieso können wir nicht weiter auf managementgeführte Teams setzen? Wozu sollten wir den ganzen Aufwand mit den Rahmenbedingungen (Container), der Differenzierung (Differences) und dem Austausch (Exchange) auf uns nehmen? Was veranlasst uns dazu, plötzlich auf selbstorganisierte Teams zu setzen? Die Beantwortung dieser Fragen führt uns zwangsläufig zu einem kleinen geschichtlichen Exkurs.

      Bereits ein daumenkinoartiger Rückblick zeigt uns, dass wir in den letzten Jahrzehnten ein gewaltiges Ausmaß an Veränderungen erlebt haben:

       Politische Veränderungen wie etwa der Zerfall des Realsozialismus und des früheren Ostblocks

       Ökonomische Veränderungen von der Tyrannei des Shareholder Value über den Aufstieg der sogenannten BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) bis zur globalen finanziellen Krise 2008

       Soziale Veränderungen wie die verstärkten Migrationsbewegungen aus den unterschiedlichsten Krisengebieten dieser Welt

       Demografische Veränderungen durch die gestiegene Lebenserwartung und die sinkenden Geburtenraten in der westlichen Hemisphäre

       Ökologische Veränderungen wie globale Erwärmung und Klimawandel

       Gesundheitliche Veränderungen, die wir zuletzt in der globalen Covid-19-Krise hautnah erleben mussten

      All diese Veränderungen haben neue Herausforderungen mit