Kleine Geschichte von der Frau, die nicht treu sein konnte. Tanja Langer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Langer
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783963115943
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Bescheidenheit, seine Aufmerksamkeit, wenn er ihr am Tisch einschenkte oder den Salat reichte. Er hatte nicht geflirtet, gerade deshalb konnte sie es genießen; keine beunruhigenden Gefühle kamen auf und machten den Urlaub mit den Freunden kompliziert. Das Leben fühlte sich oft genug verworren und unüberschaubar an; sie liebte es, wenn alles seine Ordnung hatte. Manchmal allerdings beschlich sie die leise Frage, ob dies denn wirklich alles sein sollte.

      Sie holte das Heft ‚Arzt und Kunst‘ aus ihrer Tasche und blätterte darin. Es war erstaunlich, wie manche ihrer Kollegen die Zeit fanden, großformatige Bilder zu malen. Wann machten sie das bloß? Einer malte Frauen, die an Geräte angeschlossen waren und dabei ihre Formen verloren wie die Sanduhren von Dalí in der Wüste; einer zerschnitt mit dem Pinsel magere Körper und fügte sie in schrillen Neonfarben neu zusammen; und eine Hautärztin, die auf dem Foto die Zähne bleckte, malte naive Köpfe, aus denen unheimliche Rankpflanzen wucherten und in deren Augen sich öde Hochhäuserblocks spiegelten.

      Sibylle blätterte schnell fort von diesen Bildern und wandte sich den medizinischen Reportagen des Magazins zu. Die Tabellen waren optisch aufgepeppt, und die Berichte über Tests mit Naturheilpflanzen lasen sich, als handelte es sich um Expeditionen ins ewige Eis. Sibylle fing an zu lachen. Was für einen Vogel hatten sie denn da aufgetrieben, für den die Beschreibung von gastrointernen Vorgängen ein Abenteuer war? Sie würde Ludwig am Abend daraus vorlesen; er lächelte immer abfällig, wenn sie über die pflanzlichen Mittel sprach, die sie ihren Patienten empfahl. Sie las eine Menge Bücher über alternative Medizin und Hausmittel. Sie versteckte sie unter dem wackligen Sofa, das sie aus ihrer Studentenbude in ihr Zimmer in der gemeinsamen Wohnung mitgebracht hatte. Dort lagen auch, hinter den anderen versteckt und von Staubmäusen bedroht, Bücher mit Titeln wie ‚Krankheit als Chance‘, ‚Der Körper – dein Weg‘, ‚Die Weisheit der Steine‘ und ähnliche Werke, die Ludwig ohne Zögern als esoterische Scheiße bezeichnen würde.

      Plötzlich fand Sibylle es ärgerlich, wie oft Ludwig über sie spottete. Plötzlich dachte Sibylle noch intensiver an Stefan, der mit ihr so freundlich über die Madonna von Palermo gesprochen hatte, eine Holzfigur, die bei einer Geburt aus Mitgefühl für die werdende Mutter echte Tränen geweint hatte.

      Das nächste auf Hochglanzpapier besprochene Mittel war das Keuschlamm, das agnus castus, eine altbewährte Heilpflanze in sämtlichen Fällen von Hormonstörungen. Der Autor genierte sich, von Gebärmüttern und Brüsten zu sprechen. Sibylle las Verächtlichkeit heraus. Sibylle war es schon oft aufgefallen, dass Männer, die über Menstruationsbeschwerden schrieben, etwas Süffisantes oder etwas Mitleidiges hatten. Als haftete den Worten etwas Unerlaubtes, gar Glitschiges an. Auch bei Unfruchtbarkeit und den hormonellen Umstellungen auf dem Weg in die Wechseljahre schien eine gewisse Verunsicherung zu herrschen, welcher Ton denn der angemessene sei. Noch schlimmer wurde es allerdings zu Sibylles Vergnügen, ging es um die delikaten Störungen der Erektion. Erst dank des bewundernswerten Einsatzes des ehemaligen Fußballers Pélé konnte das Problem öffentlich angesprochen werden, das heißt in Anzeigen und Fachartikeln.

      Sibylle liebte das keusche Lamm. Sie gab es Frauen, die sich Kinder wünschten. Sie nannte es aus Jux Keu-Schlamm. Schließlich erhöhten alle möglichen Arten von Schlamm die Fruchtbarkeit. Im letzten Jahr hatte sie eine Schauspielerin als Patientin gehabt, die glaubte, an einer Magen-Darm-Grippe zu leiden. Die Schauspielerin war schwanger. Mit Zwillingen. Sie war ganz aus dem Häuschen geraten. Sie erzählte Sibylle, dass sie jahrelang trotz heftigen Kinderwunsches nicht schwanger geworden sei. Sie könne es gar nicht begreifen. Sie habe in den letzten Monaten hart gearbeitet. Sie spiele die Marie in Büchners ‚Woyzeck‘ an mehreren Abenden in der Woche. Sie müsse bei jeder Vorstellung für längere Zeit in einem Schlammloch auf der Bühne liegen.

      Sibylle hatte angefangen zu lachen. Der Schlamm, hatte sie gerufen, es liegt am Schlamm! Die Schauspielerin hatte etwas beleidigt reagiert, war jedoch am Ende des Jahres mitsamt ihren Babys zu Sibylle gekommen. Sie berichtete ihr kichernd, dass das Theater in diesem Jahr einen enormen Sonderposten für Schwangerschaftsvertretungen aufzubringen hatte. Sie konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen (die Hormone). Drei Maries, die sie vertreten hatten, waren ebenfalls schwanger! Sibylle witterte einen potenten Woyzeck hinter dieser ungeheuren und offenbar alle Beteiligten überraschenden Kinderschwemme. Doch diese Umstände zu erkunden war ihr leider nicht vergönnt.

      Das Keuschlamm war wie der ebenso keusche Mönchspfeffer äußerst effektiv, wenn den Frauen vor der Menses die Brüste zu platzen schienen und sie über alles und nichts in Tränen ausbrachen oder Kopfschmerzen aus heiterem Himmel bekamen, wenn ihre Eier, unregelmäßig produziert, allzu lebhaft sprangen und sie an allem verzweifeln ließen, auf dem holprigen Weg ins Alter. Derselbe Mönchspfeffer, der jungen Frauen zu Kindern verhalf, half ihnen später kostenoptimiert, mit dem Keine-Kinder-mehr-kriegen-Können klarzukommen. Sibylle war jetzt zweiundvierzig und spürte manchmal gewisse Veränderungen. Zu gegebenem Zeitpunkt würde sie für sich selbst auf jene Mittel zurückgreifen.

      Zunächst aber sah sie voller Freude, dass die Cafébesitzerin an der Ecke die Türen ihres Reiches aufschloss; sie konnte es kaum erwarten, eine schöne Schale sanft gerösteten Kaffee mit perfekt geschäumter Milch zu trinken und – was sie sich nur zweimal im Monat gönnte – ein buttrig knuspriges Croissant hineinzutunken.

      Aufgeregt und nun doch mit einer gewissen Entschlossenheit kramte sie ihr Handy aus dem vielseitigen Inneren ihrer Handtasche. Sie rief Eva an und lud sie und Stefan auf dem Band, das ansprang, zum Fondue am Samstag ein. Die Fotos seien fertig. Sie ließ Stefan grüßen. Sie spürte wieder das Sausen im Ohr und wurde ein bisschen rot.

      · 3 ·

      Eva saß im Nachthemd auf ihrem und Stefans Bett. Sie hatte die Vorhänge aufgezogen und das Fenster geöffnet. Die Vögel zwitscherten. Die Luft strömte angenehm in den Raum. Sie hörte das Telefon klingeln. Das Band sprang an. Sie hatte nach dem kurzen Gespräch mit Karl Kaffee, Brot und Tageszeitung ins Bett mitgenommen. Sie überflog die üblichen Kriegs- und Krisenberichte, das übliche Wir-kennendas-schon-Alles im Kulturteil. Heute brachte Stefan die Kinder in die Schule und in den Kindergarten; sie musste erst um zehn bei Spoerli antreten. Eva war gereizt bei der Vorstellung eines hektischen Rendezvous mit Karl.

      Karl Ebeling war sechsundfünfzig Jahre alt, Gebrauchtwagenhändler und viel in Osteuropa unterwegs. Er hatte eine Halbglatze, die Eva äußerst anziehend fand, ein Meerjungfrauentattoo am rechten Oberschenkel, sehnsüchtige graue Augen und so eine Art, die Hände an Evas Beinen heraufwandern zu lassen, die sie immer wieder „aber Herr Karl!“, seufzen ließ. Sie hatten seit vier Jahren ein Verhältnis. Am Anfang hatte es Eva fast den Verstand gekostet; sie fühlte sich, als hätte man ihr die Haut abgezogen, nackt, empfindlich, aufgewühlt. Die Kinder waren noch klein und forderten alles von ihr; ihre Nächte waren unterbrochen; durch die ständige Übermüdung geriet sie in einen luziden Zustand, in dem sie sich um so mehr nach körperlicher Liebe sehnte. Ihre Erfüllung erforderte allerdings eine abenteuerliche Organisation des Alltags.

      Eva war sich sicher, dass Karl sich in sie verliebt hatte, weil ihr Busen so dick war; sie hatte Lucie damals noch gestillt, sie war gerade fünf Monate alt. Karl hatte ihren Busen hingebungsvoll gestreichelt. Als der Busen wieder kleiner wurde und Eva vom vielen Stress ganz dünn, bevorzugte Karl es allerdings, sie mit Blick auf ihren Rücken zu lieben.

      Karl hatte angehalten, als sie mit einem geplatzten Reifen am Straßenrand zwischen Berlin und Kleinmachnow stand. Sie hatten den Reifen gewechselt, tiefe Blicke und die Telefonnummern. So hatte es begonnen. Es hatte leidenschaftlich begonnen. Eva hatte gedacht, Karl würde der Vater ihres vierten Kindes. Sie hatte es Stefan gesagt. Es wird vorübergehen, hatte Stefan gesagt, bleib bei mir. Dann hatten sie vor dem Fernseher gevögelt. Ich will nicht, dass du dich trennst, hatte Karl gesagt. Und sie hatten in seinem großen, frisch bezogenen Bett gevögelt. Und so war es geblieben. Karl hatte zwei erwachsene Kinder und lebte von seiner Frau getrennt. Er hatte sich nie scheiden lassen.

      In der letzten Zeit schien es für Eva immer schwieriger zu werden, Zeit für den Herrn Karl zu finden. Seine Wohnung fing an, seltsam zu riechen, nach Staub und abgestandener Luft.

      Eva warf die Zeitung auf den Boden und blätterte ungeduldig in einem Kunstband über August Macke. Sie suchte etwas. Wüsste sie nur, was. Rastlos überlegte