Kleine Geschichte von der Frau, die nicht treu sein konnte. Tanja Langer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Langer
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783963115943
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der späten Siebziger. Tatsächlich hatte er Kunstgeschichte studiert, aus seinem Studentenjob war eine feste Anstellung im Hause Spoerli geworden.

      Evas Blick blieb in der letzten Zeit häufiger an der Haarpracht anderer Menschen hängen; sie verzeichnete die Spuren des Verfalls und der Täuschung, während sie mit sich selbst noch an jedem Morgen vor dem Spiegel haderte, ob sie dem beginnenden Verlust ihres rostbraunen Tons mit Cremes entgegentreten sollte. Sie beobachtete auch, wie sich die Zähne der Menschen veränderten, wie sie einen gelblichen, in höherem Alter bräunlichen Schimmer annahmen, wie Lücken dämmerten und Kappen golden aufblitzten. Sie registrierte eine gute Pflege ebenso erbarmungslos wie eine nachlässige, und vielleicht war es diese allmählich obsessiv werdende Beschäftigung mit dem natürlichen Verfall, die ihren Widerwillen gegen das mit alten Dingen angefüllte Auktionshaus erregte. Als suchte sie nach einem Ausgleich, sah sie sich auf ihren Wegen nach Häusern um, die aus Glas und Beton gebaut waren. Doch wozu, sie hatten ihr Häuschen aus den Dreißigerjahren, das bestenfalls den Anbau einer verglasten Veranda, viel nötiger jedoch einen neuen Anstrich vertragen könnte. Seltsam, früher war es gerade die Patina des Vergangenen, die sie zu ihrer Arbeit verlockt und ihr Freude bereitet hatte, ob Schmuck, getragene Kleider vom Flohmarkt oder angestoßene Möbel. Nichts Neues, Unbenutztes mochte sie, mit Ausnahme von Büchern. Bei Büchern hatte sie es am liebsten, wenn sie noch in ihrer Plastikfolie eingeschweißt waren, wenn sie sie als Erste öffnen und abziehen durfte, wenn sie an den Seiten schnuppern konnte, die noch nach dem Druck rochen.

      An diesem Morgen spähte sie geradezu verzweifelt nach jüngeren Menschen. Sie wäre schon mit einem dieser kinderlosen Paare in ihrem Alter zufrieden gewesen, in deren Salon genannten Wohnzimmern Kronleuchter hingen und die immer noch eine ausgefallene Recamière oder einen aparten Sekretär suchten, auf dem sie die in Silber gerahmten Porträts ihrer Familie oder beeindruckend große Vasen mit Lilien, Gladiolen und anderen einst verborgene Sinnlichkeit signalisierenden Gewächsen aufstellten.

      Eva ließ die Blicke schweifen.

      Fanny Schattenfroh war offenbar wild entschlossen, den Frühling beherzt anzugehen. Sie trug ein giftgrünes Kleid, das ihre reifen Formen hervorhob; an ihren Ohrläppchen, die allmählich labberig wurden wie die eines indischen Elefanten, glitzerten zwei Diamanten mit Jadeeinlage, passend zum Kleid, in der Form zweier verspielter Delfine. Das Gesicht hatte sie mit rosa Rouge und etwas zu hellem Puder bestäubt, und ihren Gang bestimmten spitze grüne Schuhe, die Eva an das angestrengte Lächeln der Callas denken ließen. Vielleicht hatte sie Krach mit Spoerli der Jüngeren gehabt; die beiden ließen einander links liegen, und Spoerli die Jüngere sah sorgenvoll aus. Die beiden ungleichen Frauen hatten sich im Bund gegen die Seniorin miteinander befreundet. Brigitta Spoerli die Jüngere lebte allein; ergebnislos suchte Eva in ihrem Gesicht nach früherer Schönheit; eine unglückliche Liebe, so munkelte man, habe es mit dreißig verwüstet. Jedes Mal, wenn Eva sie ansah, murmelte sie die einzigen Zeilen eines Liebesgedichts, die sie sich jemals hatte merken können:

       Wenn vierzig Winter deine Stirn umdrängen,

       der Schönheit Flur voll Furchen steht, verheert,

       und deiner Jugend Kleid, dran so viel Augen hängen,

      ist Plunder, Kram, und keinen Groschen wert.

      Worüber sie nicht nachgedacht hatte, war die Tatsache, dass es in Shakespeares Sonett um die endliche Schönheit eines Menschen ging, der offenbar nicht im Gesicht seines Kindes fortleben wird oder will, sondern nur in den Versen eines Dichters, der dies an anderer Stelle eine rechte Verschwendung schalt. Zu Anfang herrschte an diesem Morgen wenig Betrieb; ein hanseatischer Händler beschäftigte Eva seit einer dreiviertel Stunde damit, jeden Meißenteller, jede Meißenschale, jeden Meißenkrug einzeln aus den Vitrinen zu holen und ihm zu zeigen. Er war zum ersten Mal da und offenbar von einem Jagdfieber befallen, das ihn überraschte und verzückte. Seine zerfurchten Wangen glühten, das weiße, wallige Haar, das sich unordentlich im Nacken kräuselte (vermutlich hatte er keine Frau, die ihn regelmäßig von hinten sah und zum Friseur schickte), leuchtete geradezu, und manchmal musste er sich mit einem weißen Stofftaschentuch den Schweiß von der gewölbten Stirn wischen.

      Er hatte sich aus dem Internet die Listen der Auktion ausgedruckt (offenbar wusste er nicht, dass Spoerli den eigens für jede Auktion hergestellten Katalog gern verschickte) und ging nun alle Positionen mit Eva durch. Er stellte sich immer dichter neben sie, wenn sie sich ein wenig recken musste, um eine Schale oder einen Obstteller vorsichtig aus dem oberen Teil der Vitrine zu nehmen. Zu allem Überfluss musste sie ihm noch die Kammer zeigen, in der all jene geblümten und mit Gold verzierten Tassen, Teller, Suppen und Beilagenschüsseln in hohen Metallregalen aufbewahrt wurden, die in längst verblichenen Großfamilien an Sonntagen die Tafel zum Durchbiegen gebracht hatten. Geschirre, auf und in denen köstlicher Fisch, duftende Kartoffeln, die nach baltischem oder friesischem Großgrundbesitz schmeckten, geschmorte Möhrchen, Kalbsbraten mit Pilzsoße und andere Leckereien darauf gewartet hatten, vorgelegt, vertilgt, verspeist und verdaut zu werden, um daraufhin gestapelt, gesäubert, erneut gestapelt und fortgeräumt zu werden, und für die in den offiziellen Ausstellungsräumen unbedingt Platz geschaffen werden müsste, da doch das Interesse an großbürgerlicher bis adliger Lebenskultur in den letzten Jahren deutlich wiedererwacht war.

      Nicht nur das. Seit einiger Zeit schossen in der Stadt Adlige selbst wie Pilze in einem feuchten Spätsommer aus dem Boden; vorbei waren die Jahre des inneren Exils, in denen man seinen Titel besser verschwieg und die Stammbaumtafeln auf dem Speicher verwahrte. Sie kamen aus allen Winkeln, beriefen sich auf verarmte Vorfahren im Ostpreußischen, insbesondere im famosen Baltikum, in dem es von kultivierten Großtanten und -onkeln nur so wimmelte; eine Region, die es fast mit der berühmten Bukowina aufnehmen konnte, in der angeblich die Hühner mit ihren Krallen Hölderlin-Verse in die sandige Erde kratzten. Die Adligen trafen sich zum Austausch von Osterrezepten und Pomeranzenschnaps, schmähten Nestbeschmutzer, die es wagten, anstößige Romane über ihre Kreise zu veröffentlichen (ja, auch Frau von Plessen fand ihre Nachfolgerinnen), und trugen auf ihre stets die Form wahrende Weise zum kulturellen Aufschwung der Stadt das Ihrige bei. Eva beneidete sie um ihre Kenntnis einer um Jahrhunderte zurückreichenden Familiengeschichte. Und natürlich verliebte sie sich immer wieder in zauberhaft gebildete Wesen, die es unter ihnen gab und denen ein letzter stiller Rest eines längst untergegangenen Europas anhaftete wie ein leichtes, sehr altes und doch immer noch verführerisches Parfüm.

      Ob liebenswürdig oder eingebildet, sie alle brauchten ordentlich Geschirr. Denn Erbe hin, Erbe her, die meisten materiellen Dinge waren im Krieg verloren gegangen, und bei den beliebten kulinarischen Großtreffen wollte man schließlich nicht von Ikea-Tellern speisen. Auch wenn es nicht möglich war, dieselben Stücke in den Händen zu halten wie einst Tante Liliane oder Großmutter, sollten sie wenigstens daran erinnern. Aus all diesen Gründen und in jedem Fall also hätte Frau Spoerli gut daran getan, für diese Dinge draußen Platz zu schaffen, damit sie, Eva, nicht mit hanseatischen Händlern hier in der engen Kammer ihren Mittwochvormittag verbringen musste. Die Haltung des Hanseaten wurde immer fiebriger, er beugte sich immer mehr vornüber, zu Evas nicht besonders dickem, noch dazu von ihrem dezenten grauen kurzen Spencer versteckten Busen. Eva spürte seinen Atem, der nach den gestrigem Salat mit feingehackten Zwiebeln roch, und plötzlich hatte sie genug.

      „Ich muss mich einen Moment entschuldigen“, sagte sie, und drängte den Mann aus der Kammer, der ein entsetztes „aber wir sind doch noch gar nicht fertig“ ausstieß.

      „Ich muss mich um eine Kundin kümmern, die sich angekündigt hat, ich werde meinen Kollegen bitten, er wird dann mit Ihnen in die Kammer zurückgehen.“

      Er wird dort sieben Leichen finden, dachte sie grimmig, von sieben durch Evahand gemeuchelten Hanseaten, und sie zerrte den aufgeregten Mann hinter sich her zu Julius Rehweiler, den sie flehend ansah.

      „Herr Rehweiler ist unser Experte für Porzellan“, sagte sie, und Herr Rehweiler (der im übrigen eine seinem schläfenmelierten Alter modisch angemessene Kurzhaarfrisur trug) begriff. Es machte ihm nichts aus, den Kunden zu übernehmen, und Eva verschwand erst einmal in der Toilette (es gab nur eine). Sie hasste sie, weil sie aus dem Kanal nach männlichem Urin roch (eine Behauptung Evas, über die es regelmäßig Streit