Ludwig suchte nach einem Kiosk mit deutschsprachigen Zeitungen und fragte sich, was er sehen konnte und was nicht. An den Kassen gab es Belege, ließ man sie liegen, rannte der Verkäufer hinterher. An den Straßenecken sah man schwarz-weiße Autos mit der Aufschrift Guardia di finanza. Keine teuren Läden, aber auch kein Ramsch wie in den Fußgängerzonen in Frankfurt an der Oder oder Bromberg, wo er zu Tagungen gewesen war.
„Kommst du, Ludwig?“, rief Sibylle. „Es geht schon los.“ Eine stille Menge schloss sich vor ihnen in der Straße zusammen, setzte sich langsam in Bewegung. Jennifer hustete, Fabian jammerte.
„Ich habe keine Lust“, sagte Ludwig, „ich bleibe hier.“
„Warum willst du denn nicht?“, flehte Sibylle. Eva und Stefan gingen schon vor, an den Händen ihre Kinder.
„Du weißt, dass ich Prozessionen albern finde. Ich gehe zu Hause auch nicht zu Prozessionen. Was soll ich da?“ Ludwig knurrte. Er packte Fabian an der Hand; Sibylle umklammerte die von Jenni.
„Niemand geht zu Hause zu Prozessionen“, gab Sibylle zurück.
Am Morgen hatte das Paar sich schon darüber gestritten; Ludwig hatte Sibylle abgefertigt: Gott ist ein Vorwand für Kriege und für Streber, hatte er gesagt, und damit basta. Wenn du jeden Tag Patienten in der Röhre hättest – Hör mir auf, ich weiß, was du siehst, beim Röntgen, hatte Sibylle gesagt, du bist ein echter Held, und: Kernspintomografie, hatte Ludwig zurückgegeben, Kernspintomografie. Allem Gezanke zum Trotz hatte Sibylle gehofft, er würde seine Meinung noch ändern. O ja, Sibylle hatte ein großes Potenzial zu hoffen. Auch nach siebzehn Jahren Ludwig.
„Geh nur“, sagte er, „wir treffen uns nachher am Parkplatz. Ich will mir eine Zeitung kaufen. Ich nehme die Kinder mit, es ist viel zu kalt. Sie kriegen noch Fieber. Außerdem habe ich Fabian versprochen, uns nach einem Laden für Taschenmesser umzusehen. Wir gehen in ein Café.“
„Die Kinder können sich das ruhig ansehen“, sagte Sibylle. Sie legte ihr schmeichelndstes Gesicht auf.
„Kannst du nicht mir zuliebe mitkommen?“, fragte Sibylle.
„Nein, nein, nein“, sagte Ludwig.
Sibylles Magen verkrampfte sich. Ihre Miene entglitt, zusammen mit dem Vorsatz zu bitten.
„Nie kannst du einfach mal mir zuliebe etwas tun“, sagte sie. „Du willst überhaupt nichts mit mir teilen, nur wenn es dich interessiert, ansonsten nicht ein winziges Etwas, du bist dermaßen stur, es kotzt mich an.“ Sibylles Ton war schneidend wie der Wind. Sie erschrak über ihre Worte, doch in diesem Augenblick hasste sie ihn. Ludwig schüttelte den Kopf, sein Gesicht versteinerte, undeutbar.
„Du blöder Macho“, zischte sie, „du bist genau wie dein Vater.“
Ludwig drehte sich um, mit Fabian und Jenni an der Hand, und Sibylle wurde von Menschen gedrängt, die sich der Prozession anschlossen.
„Ludwig!“, rief sie. „Verdammt noch mal, Ludwig!“ Aber Ludwig ging fort, und Sibylle ließ sich drängen.
An den Straßenrändern zwischen den alten Gemäuern standen die Menschen und warteten auf den Christus aus Holz. Kam er, bekreuzigten sie sich. Eva sah in ihre erwartungsvollen, ernsten Gesichter. Sie bekreuzigten sich wie die Fischer, die Eva in den letzten Tagen beobachtet hatte, überrascht von dieser Geste, wenn sie den Hafen von Sciacca verließen und an der großen Madonna aus hellem Gips vorbeifuhren. Zu ihren Füßen rote Nelken, orange leuchtende Orchideen und weiße Rosen, ein ewiges Licht im roten Plastikbecher mit Goldrand. Der Fischer stand vorn am Bug und wartete, bis er den äußersten Punkt der Mole erreichte, an dem sie auf ihrem Sockel stand, und das Schiff den Schutz des Walls verließ. Dort erst schlug der Fischer das Kreuz. In diesen Tagen tobte der Sturm heftig um die Insel. Es war dringend nötig, um Schutz zu bitten.
Eva, die an Gott wie an einen Herrscher aus einem fernen Jahrhundert dachte, beneidete den Fischer. Er hat die Madonna, dachte sie, und wie zärtlich ist seine Geste, mit dem ganzen Körper ihr zugewandt, wie er mit der Hand Stirn, Magen, Schulter links, Schulter rechts berührt und zum Schluss mit den Fingern die Lippen. Oh, sie beneidete ihn, wie er sich anvertraute, diesem mütterlichen Wesen, und sie beneidete ihn um seinen Glauben, die Madonna würde an ihn denken, wenn er draußen auf dem Meer war, und ihn mit ihren ausstrahlenden Gedanken zurückbringen, hierher in den sicheren Hafen. Und die Madonna wuchs und wuchs und Eva sah sie über den Dächern der Stadt, wie sie ihr zulächelte und nickte. Eva drückte feste Sinas Hand und schniefte ein bisschen. Es roch nach Weihrauch, und der Wind war scharf, ihr Näschen war rot und gereizt. Sie drehte sich um, suchte Stefan in der schweigenden Menge; er war weit hinter ihnen, mit David und Lucie, und Eva, die mit Sina weitergeschoben wurde, wusste: Er würde die Kinder tragen, wenn sie nicht mehr konnten, ihr heiliger Christophorus. Der Mönch mit der Klarinette.
Sina wiederum drückte Evas Hand, die Hand ihrer Mutter. Sie zog sie durch die Menge, sie wollte ganz dicht heran an den Christus, den sie hoch über den Häuptern der Menschen sah, von hinten, im blauen Gewand, die gebückte Gestalt unter dem Kreuz. Sie wollte die Männer sehen, die ihn auf einem Karren zogen, und sie wollte das Kind sehen, dessen Stimme sie singen hörten. Eine hohe, einzelne Stimme, der der Chor der Menge antwortete.
„Was singt das Kind?“, fragte Sina.
„Psst.“ Eva legte die Hand an die Lippen und beugte sich zu Sina herab. „Sie singt die Stationen des Kreuzgangs. Dies ist die erste Station.“
Mama hat keine Ahnung, dachte Sina, Mama hat alles vergessen, dabei hat sie es in der Schule gelernt, sie hat es mir erzählt. Bei einem Lehrer mit weißen Haaren und halb blind, aber Ohren wie eine Fledermaus. Manchmal liest sie uns aus der Bibel vor und lässt uns Bilder in ein Heft malen, und dann wird sie wütend auf Gott und sagt, so geht das nicht, dieser Gott ist nicht gerecht. Aber Jonas und der Wal, das findet sie schön, und den heiligen Franziskus. Den hat sie mal gesehen, in Italien, in einem tiefen Blau, hat sie gesagt, und die Sterne waren darauf verstreut, in einer uralten Kirche.
Und Sina zieht Eva und sie kommen der Sache näher, und Sina sieht neun Sängerinnen und vor dem Karren mit dem Jesus, den sie nur halb sieht, eine Frau, die keine Schuhe trägt. Sina ist verblüfft. Barfuß geht sie auf dem kalten Boden, mit dicken Waden und knotigen Füßen. Wie ein Habicht. Die Zehennägel krallen sich in den Boden, sie sind silbergrau lackiert. Sieht komisch aus zu dem feinen Rock. Ihre Stimme ist laut, und Sina begreift: Es ist gar kein Kind! Sie ist es, die singt. „Gesu, in quest’ ora …“Jesus, in dieser Stunde der Verzweiflung, hat Mama gesagt. Und alle gucken die zwei Mädchen an, so alt wie ich, höchstens zehn, mit Ohrlöchern und Ohrringen, die hinter der Habichtfrau gehen, stolz und gerade und auf den Händen ein Kissen aus Samt. So etwas habe ich noch nie gesehen, denkt Sina.
Stefan der Mönch sang wie ein Kind in der Kirche, seine dunklen Augen leuchteten. Frauen sahen ihn an; ein schöner Heiliger, mit Kindern an der Hand. Jetzt weiß ich, dachte er, woher Verdi das hat, dieses Fern-Nah des Chores, und dann die einzelne Stimme. Beeindruckend, wenn noch dazu der heulende, verrückte Wind mitsingt und kein Mensch spricht, zwischen den hohen Mauern aus alten Steinen. Als wären wir der Chor auf einer riesigen Bühne und das Städtchen eine Kulisse.
Der Himmel war düster und schwer.
Stefan hielt die Melodie sicher und klar. Er freute sich zu singen; es war immer dieselbe tiefe Freude, die er empfand, wenn er Musik hörte oder machte. Stefan hatte das sonderbare Empfinden, er könne sich auf diese Menschen verlassen, die ihren Kummer dem Christus aus Holz hinterhertrugen