Meiner Mutter
und
zur Erinnerung
an meinen Großvater (1893–1986)
Wir leben in vielen Räumen, hören viele Stimmen.
1. KAPITEL
Lose Enden
Tuttiliebe
In ihrem vierzigsten Jahr geriet für Eva das Leben durcheinander, als sie in Bergen vor einem Bild des berühmten Malers Edvard Munch stand. Eigentlich hatte das Durcheinander schon früher begonnen, vielleicht war es schon immer dagewesen. Ein geradezu regelmäßiges Durcheinander jedenfalls herrschte in Evas Liebesleben, obwohl sie nun schon seit fast zehn Jahren mit Stefan verheiratet war, einem Klarinettisten.
Eva wäre ihm gern treu gewesen, doch wie mit den Männern vor Stefan, vor ihrer Ehe, kam ihr immer etwas dazwischen, und stets blieb sie verwirrt und traurig zurück. Die Liebe wollte ihr nicht glücken. Sie war nicht einem treu, sondern zweien, sie rannte zweien weg, um es mit einem dritten zu versuchen. Sie ließ sich Horoskope stellen, die sie sofort wieder vergaß, und sprach viele Wochen und Monate lang mit ihrer persönlichen Stadtindianerin. Sie schwankte zwischen dem Eingeständnis, nun einmal so zu sein, wie sie war, und der Sehnsucht, doch einmal anders sein zu können. Sie ließ sich von ihrer Freundin Nora die Karten legen; und Nora, die sie kennengelernt hatte, als sie beide jung waren und sich auf Noras Rücken ein langer, kastanienbrauner Zopf kringelte, hatte schon damals gesagt: „Meine Liebe, du möchtest so gern treu sein, ich sehe es dir an.“
Und Eva hatte auch mit Nora geschlafen und dem Mann, der früher in Nora verliebt gewesen war und nun Eva liebte, alle drei zusammen in einem Bett. Eva hatte gespürt, wie zart eine Frau sein kann. Sie hatte Nora geküsst, bis ihr von so viel Nähe und Ähnlichkeit schwindelig wurde, und genau in diesem Augenblick war Robert in die Wohnung gekommen und hatte sich dazugelegt. Später, als es Robert längst nicht mehr gab, hatte sich ihr Gespräch immer wieder um Evas Neigung gedreht.
„Du hältst es eben mit der Tuttiliebe,“ sagte Nora. Nora war eine sehr belesene Person und hatte dieses schöne Wort bei Jean Paul aufgeschnappt. „Die Liebe zu vielen“, erläuterte sie, „um nicht zu sagen zu allen. Es handelt sich um eine Art Generalverliebtheit.“
Doch Eva wollte keine rechte Freude daran haben.
„Was ist so schlimm daran, viele Männer zu lieben?“, fragte Nora und rollte sich eine Zigarette.
„Nichts“, antwortete Eva.
„Warum macht es dich dann so traurig?“, fragte Nora weiter und leckte den Rand des Papierchens.
„Ich hänge so an jedem“, sagte Eva und sah ihre Freundin aus aufrichtig bekümmerten, grün gesprenkelten Augen an.
„Ich bin jedem verwachsen wie das Moos dem Baum, an den es sich schmiegt.“
Nora kicherte.
„Das Dumme ist nur“, sagte Eva, „dass in meinem Herzen Platz für eine komplette Baumschule ist.“
„Soso“, machte Nora spöttisch und zündete die Zigarette an, „lauter junge Tännchen, oder was?“
„Naja“, sagte Eva, „kannst auch sagen, ein ganzer Wald.“ Nora lachte.
„Du bist gemein!“, sagte Eva, fing aber auch an zu kichern.
Nora klemmte die Zigarette zwischen ihre schmalen, hübschen Lippen und begann, die Karten zu mischen.
„Ich verstehe immer noch nicht, was dich daran stört“, sagte sie.
„Nichts.“
„Mann, du schaffst mich. Wo ist dann das Problem?“
„Das Problem ist …“Eva zögerte. „Das Problem ist, wenn ich mich von einem losreißen muss wegen des andern.“
„Wer sagt denn, dass du das musst?“
„Meine Haut“, sagte Eva, verdutzt von ihrer Antwort.
„Hm“, machte Nora und legte die Karten vor Eva auf den Tisch. „Wir machen das Geheimnis der Hohepriesterin. Zieh deine neun Karten.“
So ging das wieder und wieder. Und Eva hatte gesehen, wie Nora sich das Haar kürzer schnitt, wie sie verschiedene Männer liebte, mit denen sie nicht zusammenleben wollte, und wie sie ein Mädchen bekam von einem, mit dem sie auch nicht die Wohnung teilen wollte. Sie hatten studiert, Eva Kunstgeschichte, Nora Psychologie, und beide die Berufe erlernt, mit denen sie jetzt ihr Geld verdienten. Nora arbeitete als Sexualberaterin und Eva im renommierten Berliner Auktionshaus Spoerli. Die Freundinnen hatten manchmal mehr und manchmal weniger Zeit miteinander verbracht, doch der Faden war nie abgerissen. Immer wieder hatten die beiden Frauen in Noras kleiner Küche gesessen, an deren Wänden lauter Filmplakate und Fotografien von dunkelhäutigen Jazzmusikern hingen, und auch von Noras Eltern, als sie jung waren. Nora hatte sich mit unveränderlicher Geste eine Zigarette gedreht, sie angezündet und mit der ebenso unveränderlichen Geste, die Eva so liebte, die Tarotkarten gemischt und auf den Tisch mit dem blauen Wachstuch gelegt. Sie hatten über alles geredet, über Therapien und Männer und Glück und Unglück und Sex und keinen Sex. Und immer wieder hatte Nora gesagt: „Meine Liebe, du möchtest so gern treu sein, ich weiß es. Du weißt nur nicht, wie du das anstellen sollst.“ Und Eva hatte geheiratet und Kinder bekommen, die sie liebte, und sie hatte sich so sehr bemüht, alles gut und richtig zu machen, und die ganze Zeit hatte es ein solches Durcheinander gegeben in ihrem Herzen. Noras Haare wurden langsam grau, früher als Evas, weil sie vier Jahre älter war, und Nora band ein buntes Tuch hinein, und manchmal färbte sie das Haar, und sie saßen in der Küche und tranken Espresso und deuteten die Karten.
Bis Eva in ihr vierzigstes Jahr kam. Da geschahen merkwürdige Dinge.
· 1 ·
In jenem Jahr fegten zwei schwere Orkane über Europa hinweg. Der eine mitten im Sommer, der sehr heiß war und voller Regen, und der andere im Herbst, als der Ätna auf Sizilien ungewöhnlich heftig spuckte und eine große Aschenwolke nach Catania schickte. In jenem Sommer trat die Elbe in der Region Mitteldeutschlands weit über ihre eingegrenzten Ufer, riss Dörfer mit sich fort und überschwemmte ganze Landstriche. Menschen wurden von Bäumen erschlagen, Häuser zerstört, und allmählich sickerte ins Bewusstsein der Bewohner der Alten Welt, dass die Natur sich in ihrer Macht zeigte und sie daran erinnerte, dass auch sie nur ein Teil von ihr waren, ein Teil der Natur.
Doch zunächst, am Anfang dieses bewegten Jahres, genaugenommen im März und kurz vor Ostern, war es nur ein unangenehm kalter Wind, der durch die Gassen von Agrigent im Süden Siziliens fegte.
Und
oh die kalten Winde von Agrigento,
sie fuhren listig unter das weiße Papiertuch, das über die geblümte Tischdecke gelegt und unzureichend befestigt war, und hoben Eva, die ihren Mann ansah, sein schönes blasses Gesicht mit den dunkel melancholischen Augen, fort von diesem Tisch, wirbelten sie hoch in die Luft, fegten sie weg wie eine trotz Achtsamkeit in ein Unwetter geratene Kohlmeise, von einer Bö erfasst, weil er ihrem Blick wie hundertfach zuvor nicht begegnete, warum auch immer nicht begegnete, aus Gründen, die sie herausfinden würde, in diesem Jahr, das wollte sie, unbedingt, denn wieder und wieder geschah es ihr, dass sie hinausfiel aus seinem Blick, mit aussetzendem Herzen ins Weltall hinein
nein
so weit nun doch nicht
nur in die Luft geschleudert zu den Wolken
flog sie hoch
fand, nach dem ersten Schrecken, federleicht, einen Weg, schmiegte sich in freundlichere Lüfte und wurde für einen Moment zu dem, was man den kleinen Meisen nachsagt:
liederlich, lose und frech.
Und oh die kalten Winde, die unter das gleißende Weiß des Papiertuches gefahren, ließen sie dort wieder fallen, wo