Kleine Geschichte von der Frau, die nicht treu sein konnte. Tanja Langer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Langer
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783963115943
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Gioia, gleich gegenüber, an warmen Sommerabenden. Sie konnten draußen sitzen; niemand störte sich an den Kindern; andere hatten auch welche.

      Manchmal stand Ludwig, kurz bevor er loszog, auf dem Balkon. Sah wie ein Feldwebel mit vorgerecktem Brustkorb stolz lächelnd auf das Häusermeer, die Dächer der Jahrhundertbauten, die ihn, und das war von unschätzbarem Wert, in keiner Weise an die grauenhaften Reihenhäuser in Recklinghausen erinnerten, wo er groß geworden war. Er wusste nicht, wie sehr er in dieser Haltung seinem Vater glich, einem korrekten, gut aussehenden Bundeswehroffizier, mit dem er seit Jahren nicht gesprochen hatte. Manchmal gucken uns die Eltern aus der Kopfhaut, gerade wenn wir uns weit entfernt von ihnen glauben.

      Ludwig zog nach solchen Blicken über die Dächer ein geringeltes oder gestreiftes T-Shirt an, fuhr mit der Hand durch die sich allmählich ausdünnende, daher kürzer geschnittene Lockenpracht, die er jeden Abend durch eine Massage mit Birkenwasser pflegte. Er sprengte etwas Aftershave ins Gesicht, fasste kurz an den Gürtel, ob Leatherman und Pieper fest saßen, lief ungeduldig die Treppen hinunter, um dann gemächlich durch die Straßen seinem Ziel entgegenzuschlendern.

      Sibylle liebte diese Auftritte Ludwigs. Zugleich war etwas in ihnen, das sie wütend machte, das sie nicht zu benennen wusste und das sie hin und wieder zu spöttischen Bemerkungen hinriss. Ein kleiner Neid vielleicht? An guten Tagen küsste Ludwig sie einfach auf die krause Stirn und zog sie mit; an schlechten fertigte er sie mit ein, zwei kühlen Sätzen ab, was sie wiederum mit einem knappen jetzt sprichst du wie dein Vater quittierte, worauf Ludwig die Tür zuschlug und verschwand. Rituale sind etwas Wunderbares.

      Ich fühle mich nicht jung, wenn ich die jungen Dinger in den Kneipen sehe, dachte Sibylle jetzt auf ihrer Bank in der Ende-April-Sonne. (Sie sah ausgesprochen elegant aus, mit Tuch und Brille, was bedeutete da schon jung?) Sie hatte die Kinder zur Schule begleitet und war langsamer als sonst durch die Straßen zurückgegangen. Schlendernde Frau am Morgen, an den Bäumen erstes Grün, so zart und fein, dass das Sonnenlicht hell und tanzend hindurchfiel. Ein einzigartiges Licht. Sie hatte die milde Luft eingeatmet, war verdutzt stehen geblieben: Die Schuhreparatur hatte das Fenster umdekoriert. Ein einziges Paar roter Frauenschuhe stand da. Auf der ganzen Fläche vor dem altmodischen, halbhohen Vorhang, der die Einsicht in den Laden verhinderte. (Alles auf alt zu trimmen war eine neue Mode.) Die Schuhe wirkten klobig, mit schweren Absätzen, wie eigentümliche Gefäße. Worauf warteten sie? Auf ein Paar Frauenfüße? Nein. Die roten Schuhe sahen so aus, als warteten sie auf etwas anderes, Größeres. Ganz allein standen sie da im Fenster und warteten.

      Sibylle hatte sich regelrecht losreißen müssen. Sie hatte ihre Bilder im Fotogeschäft abgeholt; es machte schon um acht Uhr auf. Die Gesichtsfarbe des Verkäufers wurde immer gelblicher. Er sollte einmal seine Leber untersuchen lassen, hatte Sibylle gedacht, sich aber jeden Kommentar verkniffen. Ludwig hatte selbstverständlich eine Digitalkamera, von Ebay, doch Sibylle hielt an ihrem alten Fotoapparat fest und hoffte, dass es nicht allzu bald unmöglich werden würde, Abzüge machen zu lassen.

      Sie hatte keine Lust, nach Hause zu gehen. Unordnung wartete dort auf sie, schmutzige Wäsche und Rechnungen. Sibylle hasste Unordnung. Das Au-pair sollte erst einmal aufräumen. Zu dumm! Sie hatten gar kein Au-pair mehr! Plötzlich bekümmerte sie der Gedanke, dass sie die nächsten zehn, zwanzig Jahre nach Neukölln in die Praxis fahren müsste. Neukölln war auch so unordentlich. Sibylle stand noch immer unter dem Schock der Rückkehr aus Sizilien. Jedes Mal, wenn sie aus den Ferien in ihre Altbauwohnung zurückkehrte, erschrak sie. Wie improvisiert alles wirkte, sie kühl und ausdruckslos ansah. Jedes Mal begann sie eine Diskussion mit Ludwig, wie sehr sie sich ein eigenes Haus wünschte, und wie anders dort alles sein würde. Dann nahm der Alltag wieder Besitz von ihr, die Wohnung füllte sich mit Leben, sie vergaß.

      Sie würde sich um eine Putzfrau kümmern müssen. Jetzt aber wollte Sibylle erst einmal hier auf der Bank sitzen, den schönen Morgen genießen und ihre Fotos betrachten. Sie las noch einmal die Namen der Schiffe im Hafen von Sciacca und dachte an ihre nächtliche Unterhaltung mit Stefan. Ihr Puls beschleunigte sich. Sie schloss die Augen hinter den dunklen Gläsern, wartende rote Schuhe blitzten auf, Stefans schmales Gesicht mit dem auffallenden, roten Mund. Sie sah sich in seiner Umarmung. Schüchtern, scheu, voll Wärme, so wie sie es hin und wieder träumte. Eine innige Umarmung, keine hitzige, sexuell aufgeladene. Aus solchen Träumen erwachte sie zufrieden und melancholisch zugleich. Sie lösten ein ähnliches Gefühl aus wie ihre Tagträume vom Leben auf dem Land, die ihr aus unerfindlichen Gründen peinlich waren, trotz der ewigen Diskussionen über ein Haus, genauso wie Ludwigs Wunsch, eines Tages auszuwandern; sie empfand eine leise Scham, als handelte es sich um die Aussteigerwünsche eines halbwüchsigen Jungen, der sie mit rau quietschender Stimme in die Klasse krächzte. Eines Erwachsenen nicht würdig, dachte sie. Aber trugen nicht alle Menschen ein solches Bild von sich selbst im Innern? Ein Sehnsuchtsbild, das alles in sich verdichtete, was man gern sein wollte, wie man das Leben gern verbringen wollte? Für die eine war es eine Schlittschuhläuferin, die im altmodisch langen Mantel, die Hände in einen Muff gesteckt, auf einem See ihre Achten fuhr, ihre Spuren ins Eis kratzend, das in der Sonne leise knackte, vorwärts, rückwärts, der Atem in der kalten Luft vor dem Mund. Einer anderen war es die Schwimmerin, die sich geradlinig durchs schimmernde hellblaue Wasser bewegte.

      Und für sie selbst? Sibylle musste nicht lange nachdenken. Für sie selbst war es die Reiterin, die auf einem braunen, gelenkigen Pferd durch Wald und Wiesen galoppierte, das heißt, es war vor allem das körperliche Gefühl, an das Sibylle dachte, den beweglichen Rücken des Tieres unter sich, mal ruppiger, mal weicher. Sie dachte weniger an die Landschaft, die sie durchquerte, (obwohl sie oft den Frühlingswind wusste, junges Grün), sondern vor allem das Gefühl ihres Körpers auf dem des Tieres, in der intensiven Bewegung, die Muskeln des Pferdes, das Auf und Nieder beim Traben, das Nachgeben und wieder Anpressen ihrer Beine.

      Ihre Versuche, diesem Bild eine Wirklichkeit zu geben, waren im letzten Jahr gescheitert. Sie hatte vor dem sechshundert Kilogramm schweren Wesen Angst bekommen, das nervös von ihr geführt an den Zügeln ging und auf jedes Geräusch reagierte. Das sie schubste und versuchte, vorneweg zu gehen, während der Reitlehrer ihr von hinten immer wieder zurief, sie müsse unbedingt führen. Die Angst, die fast eine Art Ehrfurcht war, hätte sie vielleicht mit der Zeit überwinden können, nicht jedoch die Reaktion ihrer Haut und Schleimhäute: Nach fünf Minuten begann sie zu niesen, was das Pferd mit gespitzten Ohren schadenfroh zur Kenntnis nahm, und nach einer halben Stunde breitete sich ein grässlicher Ausschlag auf ihrem Hals, im Gesicht und an ihren Unterarmen aus, juckend und rot. Dass die Nase ständig lief und sie in Gegenwart des amüsierten Pferdes schniefen und niesen musste, hätte sie hingenommen, doch die Quaddeln, die sich rasch zu Erhebungen auswuchsen, waren unerträglich. Sie dankte dem Lehrer, verabschiedete sich und bedauerte es zutiefst, diese Sehnsucht in der Fantasie verschließen zu müssen.

      Sibylle dachte plötzlich, dass es eine hübsche Idee wäre, die Freunde zu einer Art Urlaubsnachbereitung einzuladen, zu einem Essen. Sie steckte die Fotos in die vollgestopfte Tasche, grub ihr Handy heraus und tippte Evas Nummer ein. Drückte auf den roten Knopf, bevor es klingeln konnte. Sie spürte ein sonderbares Sausen im Ohr.

      Es hatte ihr gefallen, mit Stefan über Musik zu reden und nicht immerzu über medizinische Probleme. Ludwig wurde in Evas Gegenwart oft angenehm gelöst, er lachte oder brummte wie ein Bär. Sie hatten miteinander geschlafen. Sie hatte dabei an ‚Die vierte Hand‘ von John Irving gedacht, worin dem Helden ein Löwe die Hand abbiss. Genaugenommen hatte sie an den Arzt gedacht, der ihm die Hand wieder annähte. Irving erzählte hundert Seiten lang nur von ihm, als hätte er den Mann mit der Hand ganz vergessen. Das fand Sibylle zunächst verwirrend, dann aber schön. Sie vertraute Irving, las alle seine Bücher. Sie las überhaupt gern Neuerscheinungen.

      Sibylle spürte Tränen aufsteigen. Sie spürte, dass sich ihr Bauch aufblähte. Seit ihrer Rückkehr litt sie an Verstopfung. Sie wollte auf keinen Fall darüber grübeln, weshalb und wieso; sie würde mit dem Kaffee ihr probates Mittel herunterspülen, sanft und zuverlässig. Sie wollte an etwas Schönes denken. Sie wollte die Ferien noch ein wenig nachwirken lassen, bevor sie zu ihren Kranken in Neukölln fuhr.

      Sie zwang sich, an den Markt von Sciacca zu denken, auf dem sie die frischen Fische geholt hatten, an den Geschmack der Vorspeisen in dem Restaurant, in