So oder so, schloss Eva ihre wirren Gedanken, die Dinge brauchen alle viel zu lange, um wieder ins Gleichgewicht zu gelangen. Sie knöpfte ihren grünen Mantel zu, band das gestreifte Tuch um, warf allen Kusshändchen zu und verließ das Haus Spoerli. Was soll’s, dachte sie und lief, plötzlich grundlos vergnügt, durch die nachmittäglichen Straßen zur S-Bahn, auf dem Weg zu einem kurzen Stelldichein mit Karl.
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„Die Musik ist von allen Künsten die flüchtigste, und doch hinterlässt sie bleibende Eindrücke. Sie bewegt die Seele, sie klingt nach. Sie ist die rätselhafteste der Künste und dem Erotischen die nächste. In diesem Sinne, genug gedacht.“
Tobias, der Mann mit der Es-Klarinette, warf eine Münze in den Kaffeeautomaten und grinste, jaja, machten Stefan, Ernst, Tobias und Matthias, so isses. Das war die Klarinettengruppe. Sie standen in der Probenpause im gelb gestrichenen Flur, der nach Zigaretten und Putzmittel und einer undefinierbaren Substanz roch, die sie Musikerschweiß nannten. Die Klarinetten, die Bläser, die Geiger, alle standen sie herum oder saßen auf den Metallstühlen, die wie Gartenstühle aussahen, bissen in ihre Stullen, tranken Automatengetränke und scherzten. Ihre Probenzeit war streng reglementiert: alle eineinhalb Stunden eine Pause von fünfzehn Minuten. Tobias war klein und hatte vorwitzige kleine Augen; er trug rote Hemden und rote Pullover und gab sich gern rebellisch. Er war Stefans ältester Freund in der Komischen Oper; ein munterer, etwas bissiger Mann Ende dreißig. Mit ihm saß Stefan am liebsten in der Kantine, wenn sich bei Premierenfeiern alle anderen im Foyer unter die Gäste mischten. Sie spielten auch privat zusammen; mit von der Partie waren Ernst, der Bassklarinettist, und ein Klarinettist von der Deutschen Oper. Sie spielten in Kneipen in Berlin, in alten Schlössern in Brandenburg, sie spielten Klassik und Modern, von Bach bis Brubeck.
Tobias’ Ausführungen bezogen sich augenzwinkernd auf das sich anbahnende Verhältnis zwischen dem Bratschisten Heinrich und der nervösen Flöte, wie sie sie nannten, Elena. Sie war erst dreiundzwanzig und neues Ensemblemitglied. Sie hatte glühende Wangen und helles langes Haar. Auch Stefan fand sie nett. Sie hatte ihn schon kindlich offen angelächelt. Er war ein gut aussehender Mann. Um die Wahrheit zu sagen, Elena schwankte noch zwischen Heinrich und Stefan. Zu beider tief melancholischen Augen fühlte sie sich hingezogen; beider Blick löste in ihr den unwiderstehlichen Impuls aus, sie retten zu wollen. Ja, auch die jungen Frauen von heute waren nicht frei von dieser Krankheit. Allein, es fehlte Elena noch an Erfahrung. Es musste sich zeigen, ob sie auf ein weiteres Wahrnehmungsorgan als ihre Augen würde vertrauen können, um zu erkennen, dass Stefan keineswegs so melancholisch war wie sein Blick es glauben machte (ein Irrtum übrigens, dem selbst seine Frau Eva aufsaß).
„Willkommen“, sagte Ernst, der diese letzte feine Witterung aufgenommen hatte, zu Elena, „im Bäumchen-Bäumchen-Wechsel-dich-Verein.“ Elena, zu romantisch wiederum für diese Art der Desillusionierung, fand die Bemerkung des älteren Kollegen nicht komisch. Sie fand die älteren Kollegen überhaupt eher unkomisch. Sie wandte sich ab, zu einem anderen Grüppchen, und sah sich von Heinrich freundlich und offen begrüßt.
„Mensch, Ernst“, sagte Stefan, „jetzt hast du sie vergrault!“
„’s ist besser so“, seufzte Ernst und sah dem Mädchen gewichtig hinterher. Tobias verbeugte sich zu Ernst hin. „Habe Dank, habe Dank, du Retter guter Seelen.“ Er schubste Stefan vielsagend an.
„Na, weißt du“, sagte Stefan. Er wurde rot.
Ernst war ein Mann mit trockenem Humor. Er hielt gern Vorträge über allgemein menschliche Themen. Kürzlich erst hatte er seine Freunde bei mehreren Flaschen Bier über das wichtige Thema der Heimlichkeiten belehrt.
„Viele Menschen haben Geheimnisse“, hatte er gesagt und sich über die wachsenden Geheimratsecken gestrichen, „manche verheimlichen ihren Partnern oder sich selbst Träume und Wünsche oder Sorgen, und manche Menschen verheimlichen sich selbst, unglücklich oder verliebt zu sein. Manche verheimlichen ihren Kindern, wie es war, als sie gezeugt wurden. Manche Mütter verheimlichen ihren Kindern, dass es einen Mann gegeben hat, den sie sehr liebten, lange bevor sie zur Welt gekommen sind, und der fortgegangen ist, um Geld zu verdienen oder das Leben zu lernen. Und der zu spät zurückgekommen ist, als diese Mutter nämlich aufgegeben und den Vater ihrer Kinder geheiratet hatte, die dann späterhin natürlich glaubten, dieser sei die große Liebe ihres Lebens.“
„O Mann, du machst mich fertig“, hatte Stefan gesagt, „wie kann man nur so komplizierte Gedanken haben! Du bist schlimmer als Eva!“
Ernst hatte gekichert. „Das kam früher öfter vor, als du glaubst“, sagte er. „In unserer Generation ist die Liste derer, die wir liebten, freilich etwas länger. Fällt sie deshalb mehr oder weniger ins Gewicht? Das vermag ich nicht zu sagen. Manche verheimlichen …“, und er hatte unverdrossen seine Gedanken ausgebreitet.
Tatsächlich war es nicht leicht, irgendwelche Liebeshändel in der Oper geheim zu halten, wenn man täglich so eng miteinander arbeitete. Die Kollegen deckten einander gegenüber den Gesponsen daheim; untereinander aber waren sie wachsam und eifersüchtig. Obwohl sie immerhin hundert waren (die Sängerinnen und Sänger, Regieassistenten, Bühnenarbeiter und so weiter waren eine Welt für sich, grenzüberschreitende Verbindungen waren eher die Ausnahme), waren die Kreuzungsmöglichkeiten begrenzt. Sie liebten Witze. Witze entkrampften komplexe Verhältnisse. Witze über die anderen Musikergruppen zum Beispiel. Geigerwitze. Bratschenwitze. Die Bratscher galten als die Ostfriesen unter den Musikern. Das war ungerecht, aber was ist an Witzen schon gerecht. Es gab auch Witze über Sex. („Was ist das Gemeinsame an einem Bratschensolo und einer vorzeitigen Ejakulation?“ – „Du fühlst es kommen, und du kannst nichts dagegen machen.“) Witze, wenn es sein musste, über Gott. Witze über Gott und die Neue Musik kamen am besten. Aber zurück zum Getränkeautomaten an diesem Morgen im April. Den hatten wir fast vergessen.
„Na, Matthias, haste die Koffer schon gepackt?“ Ernst wandte sich an den ersten Klarinettisten, Stefans Freund und engsten Mitmusizierenden. Sie wirkten wie Brüder, waren beide groß und dunkelhaarig. Wenn sie spielten, wiegten sie ihre Oberkörper immer parallel zueinander hin und her, wie Schilf im Wind. Matthias winkte ab.
„Mach’s mir nicht schwerer, als es ist“, sagte er.
„Was musste dich auch in eine amerikanische Mieze verlieben“, sagte Tobias, „hier gibt’s doch nette Mädels wie Sand am Meer.“
Alle lachten. Tobias hatte seit Jahren keine Freundin gehabt; die Frauen fanden seinen bissigen Humor schrecklich.
„Erzähl doch mal“, sagte Matthias.
„Wir Klarinettisten“, sagte Tobias grinsend, „sind gemütliche, nette Menschen, freundlich und introvertiert. Wann werden die Frauen das endlich begreifen?“
„Die Frauen begreifen es“, sagte Ernst, „das ist es ja. Sie wollen lieber einen ekelhaften Macho. So einen wie dich!“
Alle lachten. Sie führten dieselbe Unterhaltung alle vier Wochen.
„Apropos. Wie war’s überhaupt in Sizilien?“, fragte Tobias.
„Nett“, sagte Stefan, „ganz nett.“
Seine Freunde nickten. Bei Gelegenheit würde er sicher mehr erzählen. Ein dürrer Leptosom schlurfte vorbei, in Jeans und Holzfällerhemd, er krümmte seinen Oberkörper mit dem leichten Bauch, sodass er aussah wie ein S, das spazieren geht. Ein bisschen wie Karl Valentin.
„Schmidt ist im Anmarsch“, sagte Stefan, „es geht weiter.“
Der Probensaal brummte. Es war ein heller, großer Raum, der früher als Ballettsaal gedient hatte, in der Mitte ein großes, flaches Podium aus Holz. Hundert Musikerinnen und Musiker saßen auf ihren Plätzen und stimmten