Meine Antwort auf Ihr Buch, Herr Sarrazin. Evelyn Kreißig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Evelyn Kreißig
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783944224046
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in den sprichwörtlichen Sand gesetzt.

      Vier Jahre hat meine Großmutter nur im Bett gelegen, da sie halbseitig gelähmt war und das Zimmer aus eigenen Kräften nicht verlassen konnte. Einmal pro Jahr haben wir veranlasst, dass sie zur Kurzzeitpflege in ein Pflegeheim kam.

      Gesunde Lebensweise

      Ich war gerade in der Sauna, wo Deutsche mehr oder weniger unter sich sind. Als ich mich so umsah, habe ich keine Angst verspürt, dass sich die einheimische Bevölkerung durch die Migranten schon verdünnt haben könnte. Aber Ihre Informationen über die Geburtenraten von Migranten, Herr Sarrazin, müssten mich da eines Besseren belehren. Auf Seite 60 Ihres Buches schreiben Sie zum Beispiel, „bleiben die Geburtenraten der Migranten über dem deutschen Durchschnitt, setzt sich die ‚Verdünnung‘ der einheimischen Bevölkerung fort.“ Das wäre zwar nicht weiter schlimm, aber würde sich bei der gleichzeitigen Verschlechterung des Bildungs- und Qualifikationsprofils sehr nachteilig auf die deutsche Zukunftsfähigkeit auswirken. Als positive Auswirkung habe ich mir überlegt, dass wir Deutschen dann mehr Platz in der Sauna hätten, da Muslime ja in der Regel auf Saunabesuche aufgrund ihrer Religion nicht erpicht sind. In der Sauna kam mir noch ein anderer Gedanke im Zusammenhang mit Ausländern. Bei der Betrachtung der zahlreichen Saunagänger dachte ich, eigentlich kann es uns Deutschen nicht schlecht gehen. Ohne dass sich jemand von mir diskriminiert vorkommen sollte, erschienen mir doch viele Männer und Frauen sehr dick. Nein, sie kamen mir ehrlich gesagt nicht nur so vor, sondern sie waren es auch. Mir fiel gleich Cristiane ein, die eine sehr schöne, aber nicht ganz schlanke, junge Frau ist. Sie zeigte mir einmal ein Foto aus „leichteren“ Tagen und bemerkte dazu, dass sie, seit sie in Deutschland ist, durch die Ernährungsumstellung 22 Kilo zugenommen hat. Ich glaube es ihr, kann mir natürlich auch vorstellen, dass es in Brasilien wie in Deutschland ebenfalls dickere Jugendliche gibt. Nach einer Erhebung des statistischen Bundesamts Destatis aus dem Jahr 2009 sind 51 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland übergewichtig. Das andere Extrem des Untergewichts liegt dagegen nur bei 2,3 Prozent. In einer Talkshow des Rundfunks Berlin-Brandenburg, in der es u. a., Herr Sarrazin, um Ihren Speiseplan eines Ein-Personen-Haushaltes geht, machen Sie die Bemerkung, dass Untergewicht doch wohl nicht gerade das Problem von Hartz-IV-Empfängern sei. Was Sie auf die Frage des Moderators, ob Hartz-IV-Empfänger zu dick seien, geantwortet haben, erfährt man in Ihrem Buch leider nicht. (S. 118)

      Am 18.01.11 lautete die Schlagzeile auf dem Titelblatt der „Freien Presse“: „Den Deutschen fehlt die Zeit für gesundes Essen.“ Das ist das Ergebnis einer Nestlé-Studie 2011, die beinhaltet, dass Essen im Schnellrestaurant oder an der Frittenbude und Snacks zwischendurch für immer mehr Deutsche heutzutage zur Lebenswirklichkeit gehören. In einem Interview mit dem Regensburger Kulturwissenschaftler Gunther Hirschfeld vom 18.01.2011 antwortet dieser auf die Frage, ob durch unregelmäßige Tagesabläufe kaum noch Zeit zum Kochen und Essen bleibt: „Wir verbringen zum Beispiel 3,5 Stunden täglich mit Medienkonsum, davon können wir gut eine Stunde zum Kochen abknapsen.“ Alles schön und gut, aber ich meine, dass jeder Berufstätige nach getaner Arbeit froh ist, wenn er zu Hause ist und sich erst einmal ausruhen kann. Auf der anderen Seite kochen aber die, die Zeit hätten, also die Empfänger von Transferleistungen, auch nicht. Sie, Herr Sarrazin, führen das auf ein Verhaltensproblem der betreffenden Personen und nicht auf ein Einkommens- oder gar Armutsproblem zurück. Dazu schreiben Sie in Ihrem Buch: „Im Zusammenhang mit dem Hartz-IV-Menü lassen sich aber einige individuelle Versäumnisse beobachten, etwa wenn

      Kinder nüchtern in die Schule kommen und sich vorwiegend von Fastfood und Süßigkeiten ernähren, weil ihre Eltern nicht kochen oder zu träge sind, morgens aufzustehen und ihren Kindern ein Frühstück zubereiten

      Eltern Alkohol und Zigaretten kaufen anstatt Obst und Gemüse und nicht auf ausreichende Bewegung achten, was zu Fettleibigkeit und gesundheitlichen Folgeschäden führt, die in der Unterschicht häufig diagnostiziert werden.“ (S. 120)

      Ich weiß nicht, ob es schon eine Studie zum Übergewicht von Hartz-IV-Empfängern im Vergleich zum Rest der Bevölkerung gibt. Wenn nicht, dann könnten Sie doch mal eine initiieren und in eine Nachauflage Ihres Buches einfügen. In meiner Bekannt- und Verwandtschaft gibt es jedenfalls mehrere, die keine Leistungen vom Staat bekommen und trotzdem übergewichtig sind, also auch ein Verhaltensproblem haben müssen. Ihre Formulierungen sind meiner Meinung nach zum großen Teil Pauschalisierungen und haben den Touch der Abwertung der „Hartz-IV-Menü-Verbraucher“. Auch wenn ihnen die Unterschichtzugehörigkeit nicht auf der Stirn geschrieben steht, so ist es ihnen wenigstens auf den Leib geschrieben, so dass wir sie leicht erkennen und sie belehren können. Die Bedürftigen sind ja nach den neusten Beschlüssen der Bundesregierung auch Nutznießer eines Bildungspaketes, so dass die Unterschicht-Eltern ihre Sprösslinge endlich mit Bezugsscheinen auch in Sportvereinen anmelden können. Doch der Run auf die Formulare ist bisher ausgeblieben und mit Stand vom 21.04.11 haben in den großen Städten nur zwei Prozent der in Frage kommenden Personen einen Antrag auf entsprechende Leistungen gestellt. Mangelnde Information und Bürokratismus seien der Grund für das schleppende Szenario der Bearbeitung. Auf stern.de vom 21.04.11 wird zum Beispiel darauf hingewiesen, dass die Eltern oft nicht wüssten, wo sie den Antrag stellen müssen. Hartz-IV-Empfänger müssen zum Jobcenter, Wohngeldempfänger zur Wohngeldstelle, Asylanten zum Sozialamt. Außerdem ist für jeden Zweck wie Zuschüsse für ein warmes Mittagessen, Nachhilfe, Vereinsbeiträge, Musikunterricht, Schulausflüge oder Fahrtkosten zu weiterführenden Schulen ein separater Antrag zu stellen. Ich kann mir vorstellen, dass manche Eltern finanzielle Unterstützung für alle diese Bereiche gebrauchen können. Aber Bargeldauszahlungen widersprechen wahrscheinlich dem Vertrauen der Regierung in die richtige Verwendung dieser Gelder durch die Eltern. Lieber nimmt man einen erhöhten Aufwand an Bürokratie in Kauf und rechnet vielleicht sogar mit Einsparungen durch Nichtinanspruchnahme der Leistungen. Immerhin haben in Deutschland 2,5 Millionen Kinder einen Anspruch darauf, bei einer Zahl von 10,3 Millionen Kindern unter 14 Jahren nach Angaben des Statistischen Bundesamtes von 2010 sind das ungefähr ein Viertel. Ich wage lieber keine Prophezeiung in Bezug auf die Wahrscheinlichkeit, dass diese Kinder ein ähnliches Schicksal erleben wie ihre Eltern. Sie, Herr Sarrazin, befürworten ja eher die Sanktionierung von Sozialleistungen bei „Zuwiderhandlungen“ wie zum Beispiel Schulbummelei. Was machen „wir“ aber jetzt mit Kindern, die zwar im Sportverein angemeldet sind, aber nicht regelmäßig hingehen, oder trotz Kostenfreiheit kein warmes Mittagsessen einnehmen und damit nicht ausreichend für eine gesunde Lebensweise sorgen? Es ist ein Teufelskreis, aus dem unsere Gesellschaft nicht so schnell wieder herauskommt. Im Gegenteil, die Schere zwischen den „Reichen“ und „Armen“ öffnet sich immer mehr durch solche Maßnahmen wie die Senkung des Spitzensteuersatzes und anderer steuerlicher Vergünstigungen wie zum Beispiel die Reduzierung der Erbschaftssteuer und auf der anderen Seite durch die Einführung von Hartz IV.

      Im Gegensatz zu meiner Mutter, meiner Freundin M. und meiner Tochter Anett gehöre ich nicht zu den Menschen, die häufig und leidenschaftlich gern kochen. Aber das muss ja kein Hinderungsgrund für eine gesunde Ernährung sein, an die ich mich in der Regel halte und die in keinem Widerspruch dazu steht. Von den Menschen, mit denen ich beruflich viel zu tun habe, kenne ich viele, die gut und gern kochen. Unter ihnen sind es vor allem Arabischstämmige mit einem Duldungsstatus oder laufendem Asylverfahren. Sie leben in der Regel im Asylbewerberheim und haben den ganzen Tag Zeit, weil sie nicht arbeiten und sich damit nicht integrieren dürfen, unabhängig davon, ob sie wollen oder nicht.

      „Wer einen guten Braten macht, hat auch ein gutes Herz.“

      (Wilhelm Busch)

      Integration und Integrationskurse

      In der Sauna habe ich in der Spiegelausgabe vom 20. Dezember 2010/Nr. 51 einen interessanten Artikel von Christoph Scheuermann über eine Podiumsdiskussion von Michel Friedman gefunden und die Seite gleich ausgerissen, um sie mit nach Hause zu nehmen. An einer Stelle heißt es von dem PR-Mann Imran Ayata, dass die Migranten in den sechziger Jahren Gastarbeiter, in den Siebzigern Ausländer, in den Achtziger Asylanten oder Flüchtlinge hießen. Er meint damit, dass man an der Art, wie sich die Worte verformen, die Einstellung der Mehrheit zu den Minderheiten ablesen könne.