Meine Antwort auf Ihr Buch, Herr Sarrazin. Evelyn Kreißig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Evelyn Kreißig
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783944224046
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enges Verhältnis zu ihr. Sie war eine kluge und fortschrittliche Frau, die in ihrem Wohnort als herzensgut und hilfsbereit bekannt war und in ihrem Leben am wenigsten an sich selbst gedacht hat. Da ihre Kinder- und Jugendzeit in die Kriegs- und Nachkriegszeit fiel und ihre Eltern arm waren und vier weitere Kinder hatten, konnte sie keine „höhere“ Schule, wie es damals hieß, besuchen, obwohl sie die Fähigkeiten dazu gehabt hätte. Ihr Traum war es, Sängerin zu werden, denn sie hatte eine sehr schöne Stimme, die sie nach einer Schilddrüsenoperation verlor. Auch die Fähigkeit zur Schneiderin hätte sie gehabt, deren Lehre jedoch ihre Eltern nicht bezahlen konnten. So erlernte sie den Beruf einer Strumpfwirkerin, den sie bis zur Zeit des Zweiten Weltkrieges ausübte. Sie erzählte mir, dass sie und ihr Mann während der Hitlerdiktatur unter die sogenannten Doppelverdiener fielen und sie deshalb unfreiwillig arbeitslos wurde. Ihr Mann, der im Zweiten Weltkrieg als Koch in seiner Kompanie in Ägypten tätig war, wurde 1942 durch einen Bombenangriff auf das dortige Feldlager getötet.

      Ich habe also meinen Großvater nie kennengelernt, worüber ich heute noch traurig bin und weshalb ich die Absicht habe, irgendwann sein Grab in El Alamein zu besuchen.

      Meine Großmutter heiratete mehr oder weniger aus finanziellen Gründen ein zweites Mal. Ich habe nie gespürt, dass sie und ihr Mann sich liebten, sondern eher nur eine „Wirtschaftsgemeinschaft“ waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete meine Oma viele Jahre als Köchin und später bis zu ihrem 67. Lebensjahr als Küchenhilfe. Ich hatte das Privileg, in den Schulferien regelmäßig zu meiner Oma fahren zu dürfen, wo ich sehr verwöhnt wurde und kaum Pflichten hatte. Zu Hause war das Geld knapp, da das Lehrergehalt meines Vaters nicht sehr hoch war und meine Mutter nur wenig als Reinigungskraft dazuverdienen konnte, da sie die meiste Zeit für die Familie da sein musste. Meine Aufgaben bestanden oft darin, das Treppenhaus zu wischen, für die ganze Familie die Schuhe zu putzen oder meiner Mutter bei der großen Wäsche und beim Mangeln dieser zu helfen.

      Als ich zur Erweiterten Oberschule ging, hatte ich jeden Tag umfangreiche Hausaufgaben zu erledigen, wofür ich aber keinen Arbeitsplatz hatte und ich meine Bücher und Hefte auf dem Küchentisch ausbreiten musste, denn den Wohnzimmer-Tisch nahm schon mein Vater in Beschlag. Mein Zeitumfang war dadurch jeden Tag begrenzt, denn die Familie wollte ja Abendbrot essen und meine Mutter musste anschließend den Abwasch ebenfalls auf dem Küchentisch erledigen. Dazu holte sie jedes Mal zwei große Schüsseln aus dem Aufwaschschrank im Vorsaal, für den kein Platz mehr in der Küche war. Als Vorsaal bezeichnete man damals den Korridor der Wohnung, der alles andere als einem Saal ähnelte. Manchmal musste ich nach dem Abendbrot meine Schulsachen wieder aufbauen, um die Hausaufgaben zu beenden. In den Ferien dagegen faulenzte ich fast immer bzw. genoss meine Freizeit.

      Bei meiner Oma musste ich höchstens mal den Wäschekorb tragen oder einkaufen gehen. Welchem Kind gefällt es nicht, wenn es nur wenig oder gar nicht im Haushalt helfen muss?

      Von meinem heutigen Standpunkt aus sehe ich das natürlich anders, denn auch Kinder müssen aus erzieherischen Gründen ihren Beitrag im Haushalt leisten. Ich erinnere mich an eine Situation, als ich mir einmal erlaubte, einen Brief meiner Eltern an meine Großmutter zu öffnen, in dem sie ihr mitteilten, dass meine Mutter wieder schwanger ist. Das war ziemlich frech, doch mir geschah nichts, aber ich hatte trotzdem ein schlechtes Gewissen. Sonst war ich eigentlich ein pflegeleichtes Kind und machte meinen Eltern und Großeltern kaum Sorgen, wurde aber auch ohne Strenge erzogen. Einmal jedoch bekam ich von meinem Vater eine kräftige Ohrfeige, als ich völlig ahnungslos neben ihm vor dem Kohlenkasten in unserer Küche stand. Ich sollte erraten, wofür ich sie bekam, was mir jedoch nicht einfiel. Mein „Vergehen“ war, dass ich auf dem Heimweg von der Schule mit meiner Freundin ein Wettspucken veranstaltet hatte, bei dem uns mein Vater, der ein paar Meter hinter uns lief, beobachtete. Man hört oft die Meinung, dass eine Ohrfeige oder ein Klaps auf den Po noch niemandem geschadet hat. Mir hat es jedoch auch nichts genützt, denn am nächsten Tag wiederholten wir die „Aktion“, natürlich nicht ohne uns zu vergewissern, dass mein Vater nicht in der Nähe war.

      Auch ich habe einmal die Beherrschung verloren und meiner ältesten Tochter eine Ohrfeige gegeben, nachdem sie mich aus irgendeinem Grund als „blöde Kuh“ bezeichnet hatte. Ansonsten halte ich von Schlägen jeder Art gar nichts, denn der körperliche Schmerz ist schnell vergessen, doch der seelische bleibt ein Leben lang.

      In der Schule ist zum Glück die Prügelstrafe schon lange abgeschafft worden, obwohl sie heute wieder einige Leute gerne eingeführt hätten. Meine Großmutter erzählte mir, dass auch sie einmal von einem Lehrer mit dem Rohrstock auf die Finger geschlagen wurde und ihr Vater sie nicht nur einmal mit dem Ochsenziemer verprügelte. Meine Oma war das älteste Kind ihrer Eltern und hatte deshalb die meisten Pflichten, auch ihren drei Schwestern gegenüber. Als danach noch ein Junge zur Welt kam und ihr Vater diesen aus dem Fenster hielt mit der Bemerkung: „Else, hier ist dein Bruder!“, schrie sie zurück: „Ich will diesen Affen gar nicht sehen.“ Ihr Bruder ist später wie ihr erster Mann im Zweiten Weltkrieg gefallen.

      Verurteilung

      Als meine Großmutter 1997 im Alter von 87 Jahren einen Schlaganfall mit den Folgen einer halbseitigen Lähmung erlitt, nahm ich sie in unser Haus auf und pflegte sie vier Jahre lang. Bis zu diesem Alter führte sie noch ihren eigenen Haushalt und half auch mir bei der Bewältigung meiner häuslichen Aufgaben. Da ihre Wohnung von meiner nicht weit entfernt lag, kam sie fast täglich, um mir die eine oder andere Arbeit rund um das Haus abzunehmen. Oft waren, wenn ich nach der Arbeit nach Hause kam, schon die Betten gemacht, die Wäsche gebügelt oder das Geschirr abgewaschen. Ich erinnere mich noch an die Enttäuschung meiner Großmutter, als wir uns einen Geschirrspüler kauften, da sie befürchtete, jetzt weniger zu tun zu haben. Ihr Leben war fast ausschließlich ausgefüllt durch Arbeit, da sie es von Kindheit an nicht anders kannte. Sich selbst hat sie nur wenig gegönnt und immer zuerst an andere gedacht. Finanziellen Reichtum hat sie nie erlebt, doch an menschlichen Eigenschaften war sie reicher als mancher Bankier, Manager oder Politiker. Eines Tages sitze ich mit ihr wie so oft am Küchentisch, als sie die mehr rhetorische Frage stellt, was wohl mit ihr im Krankheitsfall werden wird. Spontan versichere ich ihr, dass ich sie bei mir aufnehmen und sie, wenn notwendig, pflegen werde. Bis zu dem Tag, der ihr und mein Leben verändern sollte, kamen wir nie wieder darauf zu sprechen. Es war an einem Nachmittag, als ich mit ihr meine jüngste Tochter von der Schule abholte. Meine Oma ging in der Zwischenzeit zum Bäcker, um Kuchen zu holen, den sie so gern aß. In dem Moment, als sie bezahlen wollte, erlitt sie einen Schlaganfall und fiel zu Boden. Da die Verkäuferin sofort die Dringende Medizinische Hilfe anrief, konnte ihr Leben gerettet werden, das von nun an ohne fremde Hilfe nicht mehr möglich war. Es begann eine Odyssee über Krankenhausbesuch, Rehakur in Thüringen bis zu Physiotherapie bei mir zu Hause. Meine Oma war nie eine gläubige Frau, doch in den letzten Wochen und Monaten betete sie häufig und rief nach Gott.

      Meine älteste Tochter war gerade ausgezogen, so dass wir ein Zimmer in der oberen Etage frei hatten und meine Oma in unser Haus aufnehmen konnten. Da sie lange Zeit bis über das Rentenalter von damals 60 Jahren hinaus gearbeitet hatte, bekam sie eine relativ hohe Rente und außerdem eine passable Witwenrente. Davon hat sie uns die Pflege bezahlen können und vor allem meiner jüngsten Tochter Sandy immer ein paar Scheine zugesteckt. Während dieser Zeit arbeitete ich verkürzt und war ständig unter Zeitdruck zwischen der Erfüllung meiner beruflichen Pflichten und denen zur Pflege meiner Großmutter. Die Mittelschule meines Wohnortes, in der ich arbeitete, ist nur zehn Minuten Fußweg bzw. zwei Minuten Fahrweg mit dem Auto entfernt, so dass ich schnell von A nach B kam. Persönliche Interessen wie Kino- oder Theaterbesuche, sportliche Aktivitäten wie Joggen, Schwimmen oder Skifahren traten in den Hintergrund, da meine Oma ans Bett und ich dadurch ans Haus gefesselt war.

      Wenn ich mich heute recht erinnere, besuchte mein Bruder seine Großmutter während dieser Zeit vier- bis fünfmal. Als sie 2001 starb, bekam ich von ihm vorgeworfen, mich an ihr bereichert zu haben. Und außerdem wäre ich schon immer geldgierig gewesen und habe nur deshalb unsere Großmutter gepflegt.

      Eine andere Bemerkung von ihm war die, dass ich sie in einem „Loch“ als Zimmer leben ließ, das einer dringenden Renovierung bedurft hätte. Dafür hätten wir lieber eine Terrasse gebaut und mit Aktien spekuliert. Dieses „Loch“ war allerdings ein ganz normales