Worum geht es nun bei den Mythen? Sie enthalten poetische Beschreibungen von Naturereignissen, die für den Menschen wichtig sind, philosophische, ethische und moralische Lehren oder religiöse Begründungen von historischen Umständen. Es kommen Menschenbilder und der Umgang der Menschen untereinander oder gegenüber der Natur darin vor. Auch wenn sie rein vom Menschen erfundene Geschichten sind, so spiegeln sie doch kulturelle Hintergründe wieder, die für die Theorie und Praxis der dazugehörenden Religion bedeutend sind.
Ich möchte drei Beispiele dazu anführen und erläutern: den Mythos der Persephone [Gem86], den von Thjalfi und Röskva [Sno91] sowie das Nibelungenlied [Boo03]. Letzteres ist zwar mehr eine mittelalterliche Sage bezogen auf die ritterliche Minne, basiert aber in Teilen auf heidnischen Mythen wie dem Sigurd- bzw. Sigfridlied [Jor01], im Nibelungenlied dann Siegfried genannt, und ist in Bezug auf die deutsche Geschichte interessant zu betrachten.
Persephone ist die Tochter des Zeus und der Fruchtbarkeitsgöttin Demeter, die auch für das Wachstum und Gedeihen des Getreides und anderer Saat zuständig ist. Hades möchte sie ehelichen und stellt Zeus einen Heiratsantrag, dem dieser weder zustimmt noch ihn ablehnt, weil er weiß, daß sie nicht freiwillig in der sonnenlosen Unterwelt würde leben wollen. Hades nimmt das Schweigen dennoch als Zustimmung an und entführt sie in die Unterwelt, wo sie sich ihrem Schicksal fügt. Demeter jedoch ist verzweifelt und unterbindet das Wachstum aller Pflanzen, was wiederum Zeus zum Eingreifen bringt, der eine Einigung erzielt, daß Persephone im Halbjahresrhythmus zwischen der Unterwelt und dem Zusammenleben mit ihrer Mutter wechselt.
Hier geht es ganz offensichtlich weder um einen historischen Tatsachenbericht noch ein niedliches Märchen, hier wird in wunderschöner Form geschildert, wie sich die Jahreszeiten, besonders Sommer und Winter, und das mit ihnen verbundene natürliche Wachstum abwechseln. Ein etwas naiver Gläubiger mag das als Grund ansehen, warum es Sommer und Winter im Sinne einer göttlich gegebenen Naturgesetzlichkeit gibt, aber über eine solche Sichtweise sollten wir heutzutage aufgrund der einfachsten astronomischen Kenntnisse hinaus sein. Und ich denke, daß das auch die damaligen Griechen waren, wenigstens die halbwegs gebildeten.
Die Geschichte von Thjalfi und Röskva kennt man heute vielleicht eher aus dem dänischen Zeichentrickfilm „Walhalla“, der einen Comic von Peter Madsen auf die Leinwand brachte und diesen Mythos in kindgerechter Form erzählt. Auf einer Reise machen die beiden Götter Thor und Loki Halt bei einem Bauern, der zwei Kinder besitzt, einen Sohn namens Thjalfi und eine Tochter namens Röskva. Sie übernachten dort, und Thor schlachtet die Ziegen, die seinen Wagen ziehen, um sie mit Loki und der Bauernfamilie zu verspeisen. Er verbietet allerdings, ihre Knochen anzurühren. Die Kinder hören nicht darauf, brechen einen der Beinknochen auf und essen auch das Knochenmark.
Am nächsten Morgen erweckt Thor die Ziegen wieder zum Leben und stellt fest, daß eine davon aufgrund des verletzten Knochens lahmt. Das macht ihn recht wütend, wobei man anmerken muß, daß die Ziegen in der Mythologie für den Ablauf von Gewittern mitverantwortlich sind, ihr Getrappel produziert den Donner, so daß das Fehlverhalten der Kinder sozusagen globale Konsequenzen haben kann. Interessant ist jetzt seine Reaktion als Strafe für dieses Fehlverhalten. Weder verflucht oder züchtigt er sie oder ihre nachfolgenden Generationen, noch vergibt er ihnen einfach, wie es beides so mancher andere Gott tun würde. Er nimmt sie stattdessen in seine Dienste auf und läßt sie den von ihnen angerichteten Schaden abarbeiten.
Ich finde, hier wird eine wichtige ethisch-moralische Lehre verbreitet, nämlich daß man Fehlverhalten weder übermäßig noch überhaupt nicht bestrafen sollte, sondern den oder die Verursacher zwingen sollte, den angerichteten Schaden wieder gut zu machen, ggf. mit zusätzlicher Strafe, die der Schwere der Tat angepaßt ist, damit sich Verbrechen nicht mit etwas Glück als kostenfreie und möglicherweise positive Möglichkeiten darstellen. Der Umgang Thors mit Zuwiderhandlungen gegen seine wegen der naturbezogenen Rahmenbedingungen wichtige aufgestellte Forderung zeigt, wie sich eine Gesellschaft in Bezug auf Verbrechen verhalten sollte. Das mag jetzt weit hergeholt klingen, aber mit Überlegungen dieser Art kann man meiner Meinung nach so manches Sinnvolle aus Mythen herausholen, ohne daß sie reale historische Ereignisse wiedergeben.
Das Nibelungenlied beruht in Teilen auf geschichtlichen Vorlagen wie dem Hunnensturm in der Völkerwanderungszeit. Man vermutete auch, daß der Drachentöter Siegfried den Cherusker Arminius darstellen soll, der Drache den „Heerwurm“ der drei Legionen des Varus [Höf61]. Auf die Zusammenfassung des gesamten Inhalts will ich hier verzichten, die Geschichte sollte einigermaßen bekannt sein. Stattdessen soll auf die charakterlichen Archetypen der Protagonisten sowie die sogenannte „Nibelungentreue“ eingegangen werden. Beides paßt zu der zuvor schon ausgebreiteten Weise der Mytheninterpretation, und letztere hatte einen feststellbaren negativen Einfluß auf die deutsche Geschichte, was meiner Meinung nach an der christlichen statt einer heidnischen Deutung der Archetypen und der daraus folgenden Sichtweise auf Gefolgschaft und herrschaftliche Hierarchien liegt.
Wie man auch an diversen Verfilmungen der Sage schön sehen kann, gilt Siegfried als der Held, der Gute, Hagen von Tronje als der finstere Böse und König Gunther als der intellektuell wie militärisch Überforderte, der auf die Hilfe seiner Helden angewiesen ist, um seine hehren Ziele zu erreichen. Siegfrieds Heldenrolle in Bezug auf die Drachentötung aus älteren Quellen ist nachvollziehbar, im späteren Verlauf des Nibelungenlieds trifft sie meiner Meinung nach nicht mehr zu. Hagen als der übriggebliebene Heide ist der Böse von Natur aus, ebenso werden seine Handlungen als Verbrechen gedeutet. Der herrschende König ist zwar leider etwas unfähig, aber ihm gehorchen die Untergebenen, wie es sich gehört, und helfen ihm, wo sie können und müssen. Soweit die gängige Deutung.
Ich deute die Charaktere ganz anders. Hagen ist der tragische Held, der Gute, Gunther der Böse, der Tyrann, der nur eigennützig nach Macht und Wohlstand strebt, und Siegfried der intellektuell Unbedarfte, der vom König schamlos ausgenutzt wird, um seine Ziele zu erreichen.
Entscheidend für diese Deutung sind die Handlungsstränge um Brünhild. Diese hatte erwartet, von Siegfried umworben zu werden, was ein Verliebtsein ihrerseits ausdrücken mag, aber dann wurde von Gunther um ihre Hand angehalten. Um als tauglicher Ehemann zu gelten, mußte der Bewerber sie in einem Kampfspiel besiegen, wozu Gunther nicht fähig war. Zum Sieg verhalf ihm Siegfried unerkannt mittels seiner Tarnkappe. Dies war gegenüber Brünhild schon nicht gerade gentlemanlike. Sie vermutet richtigerweise einen Betrug und wiederholt das Kampfspiel quasi in der Hochzeitsnacht. Gunther hätte hier zugeben müssen, ein Betrüger zu sein, doch Siegfried hilft ihm wieder mit der Tarnkappe, nach Ansicht mancher Interpreten vergewaltigen sie Brünhild sogar. Dieses Verbrechen will Hagen sühnen, er ist aber aufgrund der bis auf eine Stelle am Körper gegebenen Unverwundbarkeit Siegfrieds (eine deutliche Parallele zu Achilles aus der Illias) nicht in der Lage, ihn mittels üblicher körperlicher Gewalt zu bekämpfen. Der angeblich hinterlistige Mord mit intriganten Erkundigungen zuvor ist daher eher eine Kriegslist gegen einen ansonsten unbesiegbaren Gegner zur Wiedergutmachung eines Verbrechens als ein Verbrechen selbst.
Im Gegensatz zu Siegfried handelt Hagen hier im damaligen kulturellen Kontext durchaus ehrenhaft, ebenso in anderen Handlungssträngen. Er begeht in der Sage nur einen entscheidenden Fehler: Er hält einem falschen, nämlich tyrannischen Herrscher die Treue. Da steht er nicht allein, die übrigen Burgunder tun es ihm gleich. Aber er ist der Protagonist, der den Fehler versinnbildlicht, an dem am Ende das gesamte Volk zugrunde geht.
Diese Nibelungentreue der Burgunder gegenüber ihrem König ist also keine Tugend, sondern eine Warnung vor den möglichen negativen Konsequenzen, wenn die geschworene Treue nicht gegenseitig erbracht wird, sondern nur von unten nach oben oder von einer Seite zur anderen. Im christlichen Kontext wird die unbedingte Treue der Untergebenen nach oben, die Gnade der Oberen nach unten als richtig angesehen. Dies entspricht der mythologischen Hierarchie mit einem obersten Gott. Im Heidentum, speziell im germanischen, ist Treue eine bilaterale Angelegenheit2. Sie muß erwidert werden, auch und gerade vom Herrscher,