Zudem, wenn es ein ewiges Leben nach dem Tod geben sollte, wäre dieses dann auch zeitlos, d. h. ohne jede Veränderung. „Leben“ kann man das kaum nennen, wenn man sich nicht mehr ändern, nicht mehr handeln, nichts mehr wahrnehmen kann. Von einem endgültigen Tod ohne jedes Jenseits unterschiede sich dieser Zustand nicht.
Bei diesen gedanklichen und logischen Schwierigkeiten nimmt es nicht Wunder, daß Theologen, die einen zeitlosen Gott als ewigen annehmen, ihm ab und zu zeitliches Eingreifen in die Welt zutrauen. Dies macht meiner Ansicht nach noch schlimmere Probleme als alles andere. Wie soll das physikalisch funktionieren, in einer Zeitlosigkeit von Zeit zu Zeit reale Zeitpunkte zum Handeln zu haben? Das ergibt keinerlei Sinn.
Die Annahme, daß man Schöpfer für den Kosmos brauche, kommt aus einer philosophischen Sicht, die zum Beispiel Titus Lucretius Carus, genannt Lukrez, wie folgt formulierte [Car12]: De nihilo quoniam fieri nihil posse videmus. = „Denn wir sehen, daß nichts von nichts entstehen kann“, was oft zu Ex nihilo nihil fit = „Von nichts kommt nichts“ verkürzt wird.
Man geht hier davon aus, daß alles Existierende und besonders etwas, das irgendwie entstanden ist, also nicht immer existiert hat, eine Ursache haben muß. Für den Kosmos, der einen Anfang besitzt, muß es demnach eine Ursache geben, die in einem zuvor oder ewig existierenden Schöpfergott gesehen wird. Gegen diese Sicht gibt es einen logischen und einen physikalisch-philosophischen Einwand, letzterer stammt allerdings erst aus dem frühen 20. Jahrhundert.
Die Annahme einer ununterbrochenen Ursache-Wirkungs-Kette, die eine Ursache für den Kosmos erfordert, bedingt ebenso, daß es für die Existenz des Schöpfergottes eine Ursache geben muß, womit man in einen infiniten Regreß gelangt, der hier an einer beliebigen Stelle, nämlich dem Schöpfergott, abgebrochen wird, für die es keinerlei logische Begründung gibt. Genausogut könnte man einen „Meta-Gott“ fordern, der den Schöpfergott erschafft, und dort die Kette abbrechen. Oder man bricht die Ursache-Wirkungs-Kette bei der Entstehung des Kosmos selbst ab, so daß philosophisch gar kein Schöpfergott notwendig wäre.
Nach der Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik, die die Nobelpreisträger Niels Bohr und Werner Heisenberg formuliert haben und die heutzutage von den allermeisten Physikern akzeptiert wird, geschehen in der mikroskopischen Welt permanent indeterministische Vorgänge, auf die eine beständige und für alles geltende Ursache-Wirkungs-Kette nicht anwendbar ist [Hei55]. Dies gilt dann natürlich auch für die Entstehung des Kosmos, die man als ursachenloses Quantenereignis auffassen kann, insbesondere bei einem expandierenden Universum, das zu Beginn Ausmaße hatte, die im subatomaren Bereich liegen. Bei dermaßen kleinen Abständen der Raumzeit ist wegen der Heisenbergschen Unschärferelation [Hei27] energetisch so ziemlich alles möglich, auch die Entstehung eines gigantischen Universums.
Ein weiteres Problem mit Schöpfergottheiten, die den Kosmos um des Menschen willen hervorgebracht haben, sind die Ausmaße unseres Universums. Unsere Welt macht darin nur einen winzigen Ausschnitt aus, vermutlich gibt es unzählige weitere, auf denen Leben und wohl auch Intelligenz entstanden sein mag. Ein solch gigantisches Gebilde nur zum Zwecke des Menschengeschlechts zu erschaffen, erscheint wenig sinnvoll. In Zeiten eines Weltbildes, das sich aufgrund der limitierten Beobachtungsmöglichkeiten auf das Sonnensystem mit einer abschließenden Fixsternsphäre beschränkte, fiel dieser Umstand nicht auf. Vielleicht mag ein Schöpfergott mit dem Kosmos weit mehr intendiert haben, als uns zugänglich ist oder gar offenbart wurde; einsichtig erscheint mir das aber nicht.
Eine Mischform zwischen einem Schöpfergott und immanentem Polytheismus zeigen zwei ägyptische Schöpfungsmythen, jene aus Memphis und die Enneade von Heliopolis [Sha91]. Hier entsteigt der eine Gott, der den gesamten Kosmos inklusive aller anderen Götter erschafft, zunächst dem Nun, dem Urmeer. Im Mythos von Memphis ist es Ptah, der Baumeister, in der Enneade Atum, der Selbsterschaffene. Das Nun kann man mit dem Ginnungagap und dem Chaos vergleichen. Das Tohuwabohu im Alten Testament geht in dieselbe Richtung.
Die ungeordneten Zustände der literarischen Mythen vor dem Kosmos, ob nun Nun, Ginnungagap, Chaos oder Tohuwabohu genannt, lassen sich einigermaßen mit dem kosmologischen Zustand beim Urknall vergleichen, sei es nun ein Nichts oder nach neueren Hypothesen eine Art ewiger Quantenschaum, aus dem Universen als materielle Blasen entstehen [Vil07]. Oft gibt es noch Erweiterungen zu den Mythen, die von einem zyklischen Werden und Vergehen des Kosmos ausgehen, z. B. das Aufkommen einer neuen Welt nach Ragnarök in der nordischen Mythologie. Zyklische Konzepte werden von modernen Kosmologen ebenfalls diskutiert: Sollte die gesamte Masse des Universums groß genug sein, ist ein ewiger Zyklus von Expansion und Implosion aufgrund der Gravitation unausweichlich [Wei77].
Die empirische Tatsache, daß das Universum sich ausdehnt und somit einen Anfang gehabt haben muß, statt ewig zu existieren, wird von den Religionen gerne als Beweis für eine Schöpfung genutzt, die eine solche postulieren. Interessanterweise war es ein katholischer Priester und Astrophysiker, Georges Lemaître, der die erste Urknalltheorie formulierte [Lem27]. Schließlich sah man lange nur zwei Optionen, eine Welt mit einem durch einen transzendenten Schöpfer initiierten Anfang und ein ewiges Universum. So sagte schon Heraklit [Stä06]: „Diese Welt […] hat weder ein Gott noch ein Mensch geschaffen, sondern sie war immer, ist immer und wird sein ewig lebendes Feuer.“
Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse erlauben aber, sowohl einen zyklischen als auch einen endlichen Kosmos anzunehmen, der ohne transzendente Ursache aus einem zeitlosen Nichts oder Quantenschaum spontan entstanden ist, wenn man die gängige Kopenhagener Interpretation der Quantenphysik mit einbezieht.
In Anbetracht all dieser Umstände halte ich die Grundidee der Weltwerdungsmythen für weitaus sinnvoller und besser zu den naturwissenschaftlichen Tatsachen passend als jene Mythen, die von einer Schöpfung des Kosmos als Handlung eines oder mehrerer höherer Wesen erzählen.
Ebenfalls eng mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen verbunden sind die Mythen, die von der Entstehung des Menschengeschlechts berichten. Hier sind in allen mir bekannten Mythen die Götter involviert, so daß man fragen kann, wie das mit der Evolutionstheorie zusammenpaßt, nach der das Leben von allein entstanden ist, sich selbst weiterentwickelt und so auch den Menschen ohne Planung oder äußere Einflußnahme hervorgebracht hat.
Hierbei sind zwei Dinge wichtig: Zum einen der schon erläuterte Umstand, daß ein Mythos eine Lehre enthält, die nicht unbedingt etwas mit naturwissenschaftlicher Erkenntnis zu tun haben muß, zum anderen die Vorstellung, die man mit den in den Mythen agierenden Göttern verbindet und die wir im nächsten Kapitel im Detail analysieren werden.
Nimmt man die Götter zum Beispiel als personifizierte Naturgesetze, so wie Jordan in seiner Edda-Übersetzung die Götter einige Male „Ordner“ nennt [Jor01], dann ist die „Erschaffung“ der Menschen durch diese Götter ein völlig natürlicher Vorgang.
Gerade bei der Erschaffung der Menschen in der Völuspa gibt es vielfältige Interpretationsmöglichkeiten. Rein wörtlich finden die Götter Odin, Hönir und Lodur am Strand zwei Baumstämme, die sie durch die Gabe diverser Eigenschaften und Fähigkeiten in das erste Menschenpaar Ask und Embla (= „Esche und Ulme“) verwandeln.
Nun ist eine Schöpfung des Menschen aus Bäumen ein sehr archaischer Mythos [Tho58] und mag von den Erzählern der Völuspa so beabsichtigt gewesen sein – es sind hier aber weitere Deutungen möglich: So mögen die Baumnamen rein symbolisch oder poetisch gemeint gewesen sein, und die Menschwerdung ist hier die erste Begegnung mit und der Erhalt gewisser Fähigkeiten von den Göttern. Es geht also nicht um die biologische Erschaffung des Menschen, sondern um seine kulturelle beziehungsweise zivilisatorische Entwicklung. Der Kontakt mit den Göttern, bei dem der Mensch Gaben erhält, was man als die Erlangung ganz neuer Arten von Wissen deuten kann, versetzt den Menschen auf eine andere Entwicklungsstufe. Evolutionär geschah das natürlich nicht zu einem Zeitpunkt, sondern über einen sehr langen Zeitraum, aber im Mythos kann man das konzentriert darstellen.
Aus heutiger Sicht wissen wir natürlich, daß alle Lebewesen auf der Erde evolutionär miteinander verwandt sind, so daß eine moderne Interpretation dieser Stelle