Aufgeklärtes Heidentum. Andreas Mang. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andreas Mang
Издательство: Автор
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Жанр произведения: Эзотерика
Год издания: 0
isbn: 9783944180564
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      In der deutschen Geschichte gibt es einige Beispiele, wie der falsche Umgang mit der Treue in Katastrophen endete. Wann immer deutsche Herrscher im 19. und 20. Jahrhundert die Nibelungentreue als vom Volke zu leistende Tugend forderten, führten sie das Land in einen Weltkrieg und dann in den Untergang. Für die Angehörigen der militärischen Widerstandsbewegung im Dritten Reich war der Treueschwur auf Adolf Hitler persönlich lange ein ernstzunehmendes Hindernis, aktiv gegen den Herrscher vorzugehen. Stauffenberg zum Beispiel fühlte sich lange an diesen Eid gebunden, bevor er als Attentäter auftreten konnte [Hof07].

      Bei einem anderen – wirklich heidnischen – Verständnis der Treue wäre dieser Bruch weit früher gekommen (siehe auch Seite 151f). Ein Beispiel dazu liefert der als historisches Vorbild für Siegfried vermutete Arminius. Dieser war von mehreren Stämmen als Heerführer gegen die Römer ausgewählt worden, nach seinem Sieg war diese Rolle abgelaufen. Er versuchte aber, sich als Alleinherrscher zu etablieren – vielleicht auch mit militärischer Gewalt, das wissen wir nicht –, woraufhin er von seiner eigenen Verwandtschaft beseitigt wurde. Nun mag ein solcher vorbeugender Tyrannenmord nach heutigem Rechtsverständnis nicht korrekt sein, beim tatsächlichen Tyrannenmord ist man da auch heute noch aufgeschlossener. Kaum einer verurteilt das Attentat Stauffenbergs als übles Verbrechen, und in germanischer Zeit ohne Rechtsstaat oder Staat überhaupt gab es wohl kaum andere Optionen, gegen einen militärisch hochgerüsteten potentiellen Herrscher vorzugehen, den man als halbwegs freier Mensch nicht wollte.

      Eine besondere Art von Mythen sind Schöpfungsgeschichten. Auch hier ist es wenig ratsam, sie als historische beziehungsweise naturwissenschaftliche Berichte zu sehen. Es gibt aber zwischen verschiedenen Schöpfungsmythen aus verschiedenen Religionen einen gewichtigen Unterschied: Es gibt solche, in denen ein ewiger Gott den Kosmos erschafft, wie im Christentum, und solche, in denen der Kosmos von allein entsteht und die verehrten Götter erst später gezeugt werden. Letzteres ist zum Beispiel in den germanischen und griechischen Mythen der Fall.

      Ein Mythos von der Entstehung oder dem Aufbau des Universums hängt stark mit der Kosmologie beziehungsweise kosmologischen Grundannahmen zusammen, sei es mit der Annahme einer Schöpfung durch höhere Wesen, eines spontanen Auftretens oder ewiger Existenz, auch in Form zyklischer Epochen. Das ist zwar noch Philosophie und keine Naturwissenschaft, aber nahe dran, so daß man Vergleiche zu naturwissenschaftlich ermittelten Kosmologien ziehen kann.

      Im germanischen Mythos gibt es zunächst nur das Ginnungagap, die „gähnende Leere“. Aus dem Nichts erscheinen zwei Welten, die des Feuers (Muspelheim) und die des Eises (Niflheim). Das Feuer läßt das Eis schmelzen, es dringt in die Leere ein und bildet den späteren Kosmos in der Urform des Riesen Ymir [Jor01].

      Im griechischen Mythos ist das sehr ähnlich formuliert. Am Anfang gibt es das Chaos, einen völlig ungeordneten Zustand. Daraus entsteht der Kosmos in Form titanischer Urgötter, unter denen Gaia (auf Deutsch auch „Gäa“), die Erdmutter, die wichtigste ist [Hes99].

      In beiden Fällen treten die Götter erst nach einigen wenigen Generationen andersartiger höherer Wesen, den Riesen oder Titanen, auf, von denen sie abstammen. Die verehrten Götter sind also keine Schöpfer des Universums, weshalb ich diese Geschichten auch lieber „Weltwerdungsmythen“ statt „Schöpfungsmythen“ nenne. Hierbei ist noch zu beachten, daß die Annahme der Existenz weiterer Welten, wie eines Jenseits oder der nordischen Neun Welten, sogar ganzer Universen, keine Ausnahme bildet. Die über die Welt der Menschen und das von uns bewohnte Universum hinausgehenden Welten zählen ebenso zum gesamten Kosmos wie die unsere.

      Gegenüber dem Konzept von einem oder mehreren ewigen Göttern, die den Kosmos aus dem Nichts erschaffen, haben die Weltwerdungsmythen meines Erachtens nach zwei Vorteile und machen darüber hinaus einen wesentlichen Unterschied für die möglichen Vorstellungen der involvierten Götter aus.

      Der erste Vorteil ist die Übereinstimmung der Grundaussage, daß der Kosmos von selbst entstand, mit dem aktuellen naturwissenschaftlichen Wissensstand. Unabhängig davon, daß man einen Mythos nicht im Detail naturwissenschaftlich analysieren sollte, ist ein mit der modernen Kosmologie übereinstimmendes Gesamtmotiv nicht abwegig. Die Entstehung des Kosmos „aus dem Nichts“ ist die allgemein akzeptierte physikalische Theorie [Gut99], einen dazu passenden Mythos halte ich für besser als einen dazu unpassenden.

      Im nordisch-germanischen Weltwerdungsmythos kann man das Zusammenspiel von Feuer, Eis und leerem Raum als poetisches Bild für das frühe expandierende Universum nehmen, in dem Strahlung und Materie durch die allgegenwärtige Abkühlung, die aus der Expansion folgte, voneinander getrennt wurden und daraufhin die heutige erfahrbare Struktur des Universums bildeten, inklusive der Galaxienhaufen und Hintergrundstrahlung [Wei77]. Muspelheim, Niflheim und Ginnungagap bilden auf ähnliche Weise Ymir und Audhumbla, die man in diesem Zusammenhang als materielle Struktur des Kosmos interpretieren kann. Bevor die Götter die Welt der Menschen schaffen, töten sie Ymir, um aus seinen Überresten Material dafür zu gewinnen. Physikalisch kann durch Kernfusion innerhalb der Sterne maximal Eisen als schwerstes Element entstehen. Kupfer, Silber, Gold und das für menschliche Schilddrüse notwendige Jod gibt es nur, weil frühe Sterngenerationen als Supernovae explodiert sind, wobei die Elemente, die schwerer als Eisen sind, produziert wurden, die nun auch Grundbestandteile der Erde und des Lebens darauf bilden. Das heißt, wie der Tod des Ymir der menschlichen Welt vorausgehen mußte, war im physikalischen Universum der Tod von Sternen notwendig, bevor ein für Menschen geeigneter Planet entstehen konnte.

      Das soll jetzt weder be- noch andeuten, daß unsere Ahnen, die diesen Mythos verfaßt haben, diese Zusammenhänge erkannt oder heutige astronomische Erkenntnisse dahingehend vorausgesehen haben. Sie scheinen aber eine wesentlich besser zu den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen passende Kosmos-Vorstellung gehabt zu haben als so manche religiöse Konkurrenz. Darüber hinaus finde ich es äußerst interessant, welche Möglichkeiten man hat, den Mythos aus moderner Sicht zu interpretieren, auch wenn das nicht unbedingt notwendig ist.

      Der zweite Vorteil ist, daß ein ewiger Gott, der ein endliches Universum schafft, zu ernsthaften gedanklichen, wenn nicht gar logischen Problemen führt. Zur Erläuterung muß man zunächst definieren, was „ewig“ bedeuten soll. Da gibt es zwei Optionen, erstens einen „unendlich langen Zeitraum“ und zweitens „zeitlos“.

      Die meisten aktuellen Kosmologien gehen davon aus, daß die Raumzeit zusammen mit dem Universum entstand [Haw88]. Einen Zeitraum vor dem Urknall kann es somit nicht gegeben haben, wodurch die erste Definition von „ewig“ als „unendlich langer Zeitraum“ physikalisch unsinnig wäre. Allerdings gibt es auch Hypothesen, die auf andere Verhältnisse hindeuten, so daß ein reiner physikalischer Einwand bezüglich der Definitionen nicht unbedingt sinnvoll ist.

      Ein Gott, der unendlich lange existiert hat und dann zu einem bestimmten Zeitpunkt in dieser Ewigkeit das Universum schafft, läßt die Frage aufkommen, wieso er unendlich lange gewartet hat, bevor er den Kosmos schuf und was den tatsächlichen Zeitpunkt der Schöpfung nun so besonders macht, daß er gerade dann schuf und nicht irgendwann unendlich zuvor.

      Dieses Problem war schon vor dem Christentum bekannt; die Epikureer argumentierten schon im ersten vorchristlichen Jahrhundert gegen das platonische Gottesbild, das auch von einem ewigen Schöpfer ausgeht [Cic95]: „An euch […] richte ich die Frage, warum die Baumeister der Welt plötzlich hervorgetreten sind, aber zahllose Jahrhunderte lang geschlafen haben. Denn wenn auch noch keine Welt existierte, so gab es doch die Zeit […]; weswegen also […] war eure Pronoia3 während dieser unermeßlichen Zeitspanne untätig? Scheute sie die Mühe? Aber ein Gott empfindet keine, und es gab auch gar keine, da alle Kräfte der Natur, Himmel, Feuer, Erde und Wasser der göttlichen Macht gehorchten.“

      In einer unendlich langen Zeitspanne einen zeitlich endlichen Kosmos, dessen Dauer gegenüber der Ewigkeit immer so gut wie Null ist, anzunehmen, der von einem oder mehreren Wesen aus dieser Ewigkeit heraus bewußt erschaffen wurde, ergibt wenig bis keinen Sinn.

      Setzt man Ewigkeit mit Zeitlosigkeit gleich, entgeht man zwar dem oben angesprochenen physikalischen Problem, erhält aber einige neue. Ein zeitloser Zustand kann sich nicht ändern; zu einer Veränderung braucht man immer Zeit, so daß an einem Zeitpunkt t 1 ein Zustand, an einem anderen Zeitpunkt t 2