Die Gottesvorstellung beschreibt nun das, was man für die Grundlage des menschengemachten und menschenähnlichen Bildes hält. Diese Unterscheidung ist gerade im Heidentum wichtig, in dem es recht eindeutige Bilder, aber eine ganze Reihe von verschiedenen Vorstellungen gibt, eben weil letztere keineswegs dogmatisch zu glauben sind. Die religiöse Praxis und Rede stützt sich auf die Bilder, die persönliche Beziehung oder das, was ein Monotheist Glaube nennen würde, auf die Vorstellung.
Im heutigen wie im früheren Heidentum ist die Gottesverehrung in der rituellen Praxis das Wichtige, Gottesglaube dagegen eher zweitrangig. Dies kann man schon den Schriften Ciceros entnehmen [Cic95] und ist ebenso in modernen Publikationen nachzulesen. So schreibt Fritz Steinbock [Ste04]:
Wir fragen nicht: „Was glaubst du? Was weißt du? Was kannst du?“
Wir fragen: „Welchen Göttern opferst du?“
Es gibt auch Gottesvorstellungen, die keinen Glauben benötigen, wie meine persönlichen zum Beispiel. Außenstehende oder Atheisten mögen diese Vorstellungen für unsinnig oder überflüssig halten, die Existenz der Götter läßt sich mit diesen Vorstellungen allerdings kaum bestreiten, so daß hier religiöser Glaube einer vernunftgeleiteten Definition weicht (siehe Seiten 51 ff).
Mit dieser Einstellung erntet man oft Unverständnis. Warum man einem Gott opfern oder ihn verehren sollte, ohne im herkömmlichen Sinne gläubig zu sein, ist vielen nicht einsichtig. Das Problem ist wieder, daß die meisten Menschen hierzulande an die Grundsätze des Christentums gebunden sind, beziehungsweise nur diese kennen, und man den Stellenwert und die tiefere Bedeutung eines Begriffs innerhalb eines religiösen Systems nicht einfach auf ein anderes anwenden kann. Ich persönlich vermeide daher in Gesprächen möglichst den Begriff „Glaube“, weil er meistens falsche Assoziationen hervorruft. Man muß nicht die anthropomorphe Existenz eines Gottes, wie im Mythos beschrieben, für physikalische Realität halten, wenn man weiß oder auch nur vermutet, daß das, was dieses Bild symbolisiert und was man sich darunter vorstellt, tatsächlich existiert.
Bei den abrahamitischen Monotheismen stellt sich dabei noch das Problem, daß Gottesbilder generell verboten sind oder daß zumindest, in moderateren Kreisen, davon abgeraten wird, sie zu benutzen oder als Grundlage des Glaubens zu nehmen. Dies bezog sich im frühen Judentum zwar nur auf die Herstellung von Gottesstatuen und ähnlichem (2. Mose 20, 4)1, wurde aber im Laufe der Zeit auch auf gedankliche Gottesbilder ausgedehnt. Deren Gottesglaube muß sich also auf die theologische und meistens dogmatisierte Gottesvorstellung beziehen, so daß Abweichungen davon schnell zu neuen Konfessionen führen, weil die Gläubigen mit den unterschiedlichen Vorstellungen nur schwerlich zusammen einen Ritus begehen beziehungsweise eine Gemeinschaft bilden können. Ein gutes Beispiel dafür liefert das Christentum, in dem es diverse Gottesvorstellungen insbesondere bezüglich der Verbindung von Gottvater und Jesus gegeben hat, die zu enormen Streitigkeiten geführt haben, und wo sich erst mit dem 1. Konzil von Nicäa im Jahre 325 die trinitarische Vorstellung, also die Dreieinigkeit, gegenüber dem Arianismus durchgesetzt hat. Daneben gab und gibt es noch Nestorianer und Miaphysiten und wissen die Götter, was sonst noch.
Interessanterweise hat die Trinität Vorbilder im gesamten indogermanischen Kulturraum, wo es diverse Götter-Triaden, also Götter-Dreiheiten gibt, auch wenn die nichtchristlichen sich auf mehrere Götter statt nur einen beziehen. Im Hinduismus bilden Brahma, Vishnu und Shiva das Trimurti (
= Sanskrit für „drei Formen“), im griechischen Heidentum gibt es die Trias Zeus, Poseidon und Hades, im römischen Jupiter, Juno und Minerva, im germanischen Wodan, Wili und We (auch Odin, Vili, Ve genannt). In allen dreien gibt es die drei Moiren, Parzen beziehungsweise Nornen. Der im römischen Reich gerne praktizierte ägyptische Isis-Kult hatte Isis, Osiris und Horus.Der Theologe Rudolf Bultmann schrieb, daß für das Christentum „nicht Erkenntnis (γνῶσις), sondern Glaube (πίστις)“ charakteristisch sei [Bul98]. Diese Abgrenzung macht einen entscheidenden Unterschied zwischen primären und sekundären Religionen aus. Hat man eine Offenbarungs- oder eine Buchreligion, dann soll beziehungsweise muß man glauben, was in der besagten Offenbarung oder dem Buch beschrieben wird. Heutzutage beschränken sich die meisten Gläubigen auf Kernaussagen und ignorieren Dinge, die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen widersprechen. Es gibt aber auch zahlreiche Gläubige, die ihre schriftlichen Grundlagen insgesamt für wortwörtlich nehmen und jede Abweichung vom Niedergeschriebenen konsequent ablehnen.
Abbildung 3: Aufbau einer sekundären Religion
Bei Erfahrungsreligionen und auch der Begriffsbestimmung, die Religion als Beachtung der zugehörigen Rituale, Wertvorstellungen und Traditionen statt über den Glauben definiert, liegt der Fall anders. Hier trifft man selten Leute, die den Inhalt der Mythen für wortwörtlich nehmen oder sie für historische Tatsachenberichte halten. Spirituelle Erfahrungen und Erkenntnisse gewinnt man hier durch die Praxis, sei es aufgrund von Riten, Meditation oder anderem, nicht allein durch das Gelesene, auch wenn das Lesen und Reflektieren über die Mythen eine große Rolle spielen.
Dieser Unterschied macht sich auch am Glaubensbekenntnis bemerkbar, das im Christentum und Islam einen hohen Stellenwert besitzt, meistens auswendig gelernt und mindestens einmal ausgesprochen werden muß. Nach www.hagalil.com gibt es auch ein jüdisches Glaubensbekenntnis [Hag12], dessen Relevanz und Verbreitung sich allerdings meiner Kenntnis entzieht.
Abbildung 4: Aufbau einer primären Religion
Im Heidentum sieht das deutlich anders aus. Es mag zwar noch mehr geben, aber ich persönlich kenne nur eine einzige heidnische Religionsgemeinschaft, die ein offizielles Glaubensbekenntnis besitzt, nämlich die dänische Forn Siðr = „die alte Sitte“. Sie selbst bezeichnen das sogenannte trosbekendelse als „poetische Definition des Glaubens und der Weltanschauung“ [For12], und soweit ich informiert bin, ist es nur deshalb entstanden, weil es in Dänemark für die staatliche Anerkennung einer Religionsgemeinschaft notwendig ist. Da spielen vermutlich die Ansichten der evangelisch-lutherischen Staatskirche mit.
Es gibt also definitiv Religionen, bei denen kein Glaubensbekenntnis, also auch kein vor- oder niedergeschriebener Glauben, existiert, und der Glaube als solcher nicht die Wichtigkeit besitzt, wie das von den meisten Menschen in der westlichen Welt für alle Religionen angenommen wird. Leider ist es unglaublich schwer, diesen Menschen zu erklären, wie man Götter verehren kann, ohne an sie im herkömmlichen, also hierzulande christlichen Sinne zu glauben. Für sie ist Glaube Voraussetzung für Verehrung, letztere ginge angeblich nicht ohne ersteren.
Ein fest vorgegebenes Bekenntnis über den eigenen Glauben hängt meines Erachtens auch mit der möglichen Anzahl gleichzeitig ausgeübter Religionen zusammen, etwas, das im vorhergehenden Kapitel schon angesprochen wurde. Ein fest umrissener und genau definierter Glaube, dem zudem noch ein absoluter Wahrheitsgehalt zugesprochen wird, führt beinahe automatisch dazu, daß man neben seiner eigenen über diesen Glauben definierten Religion keine andere mehr akzeptieren kann.
Fehlt eine solche Verbindung von absoluter Wahrheit und dogmatischen Glaubensaussagen, ist es kein Problem, mehreren und sogar vorgeblich widersprüchlichen Religionen wie Buddhismus und Shintoismus anzugehören und sie zu befolgen.
Damit eng zusammen hängt die heutzutage oft geäußerte Ansicht, die Römer hätten die Christen aufgrund ihres „falschen“ Glaubens verfolgt. Wenn man den Glauben an eine Gottesvorstellung für den Kernpunkt der Wahrheit hält, meint man schnell, daß seine Gegner gerade deswegen gegen einen eingestellt sind. Wie man aber an der bisher aufgezeigten antiken Religionsdefinition, dem