Die Kehrseite dieser Partei ist ihr heftiger, eklatant zur Schau getragener Antisemitismus, den Kronprinz Friedrich Wilhelm als »Schande und Schmach für Deutschland« bezeichnet hat. Hans Hugo ist sich der Schattenseite von Stoeckers christlichem Idealstaat wohl bewusst, verteidigt ihn aber mit der Aussage, die Darstellung der Juden sei nicht ganz ungerechtfertigt und überhaupt nur Teil eines Programms, mit dem die geistigen Qualitäten ganz Deutschlands neu belebt werden könnten.
Männer wie Hans Hugo haben eine zwiespältige Einstellung zu den wenigen Juden, denen sie im täglichen Leben begegnen. Zum einen bewundert er die Betriebsamkeit der Stadt Polzin, des Handelszentrums des Kreises Belgard, dessen Mittelschicht von Juden dominiert wird. Dennoch distanziert er sich von allen Juden mit der Behauptung, sie seien nicht besser als Straßenmusikanten. Als sein Sohn sein Befremden über diesen unpassenden Vergleich äußert, berichtet ihm der Vater von seinen Schwierigkeiten, als er noch für Kieckow zuständig war.
Damals gab es nichts Schlimmeres für die Arbeit auf dem Gut als eine Gruppe von Straßenmusikanten. Sie kamen morgens, blieben den ganzen Tag, machten Musik für das ganze Dorf und kassierten bei den Dorfbewohnern ab. Die Arbeiter opferten ihre letzten, hart verdienten Münzen, eine reine Geldverschwendung für die Leute und ein verlorener Arbeitstag für den Gutsbesitzer. Nach Vater Kleists Ansicht seien die jüdischen Händler nicht besser. Sie kamen nach Kieckow in der Absicht, Tierhäute zu kaufen, kamen aber nur dann, wenn der Gutsverwalter nicht da war. Die Arbeit im Dorf kam zum Stillstand, während sie zankten und feilschten und Geld oder wertlosen Plunder anboten im Tausch gegen die großen und kleinen Häute, welche die Männer während der Saison zusammengetragen hatten. Dafür bekamen sie nach Vaters Überzeugung viel weniger, als die Häute wert waren, weswegen er seit dieser Zeit die Juden in Kieckow nicht mehr duldete.
Jürgen erinnert seinen Vater daran, dass die jüdischen Händler die Bauern wenigstens mit Geld bezahlt hätten, wovon es in Kieckow wahrhaftig äußerst wenig gab. Außerdem, fährt Jürgen voller Zuversicht fort, werden die expandierende Eisenbahn und die neuen landwirtschaftlichen Methoden die fahrenden Händler und Musikanten bald vertreiben. Für Neinsager und noch mehr für Demagogen hat er nichts übrig. Was Jürgen dabei übersieht, ist, dass Ideen nur langsam sterben und die Menschen glauben, sich nicht erinnern zu können, aber auch nicht bereit sind, zu vergeben und zu vergessen. 30 Jahre nach Vaters Verwicklung in Adolf Stoeckers idealistischen Feldzug wird ein Mann namens Adolf Hitler Stoeckers Thesen überarbeiten, alle christlichen Elemente daraus verwerfen und die antijüdischen Aspekte weiterentwickeln. Hitlers Thesen werden in ein Buch mit dem Titel »Mein Kampf« eingehen. Nur wenige Deutsche werden dieses Buch lesen, einige dieser wenigen aber werden von der idealisierten Darstellung der Nation und des Volkes begeistert sein. Sie werden vielleicht sogar Entschuldigungen für die unvertretbaren und widersinnigen rassistischen Thesen finden, ähnlich wie Vater Kleist damals mit Stoeckers Ideen verfahren war.
Unter den wenigen, die »Mein Kampf« gelesen haben, wird es aber auch Einzelne geben, die erkannt haben, wie ernst es Adolf Hitler mit seinen rassistischen, gegen die Juden oder die Slawen gerichteten Theorien meint. Dazu werden zwei Kleists aus Pommern gehören, der eine aus Kieckow und der andere aus Schmenzin. Sie werden ihre Warnung schriftlich in einem Traktat niederlegen, das keine Beachtung finden wird. Dessen ungeachtet werden die Deutschen 60 Jahre später, 100 Jahre nach Stoeckers Umtrieben, einander zuflüstern: »Ja, die Kleists aus Pommern, die sind schon seit Jahrhunderten Antisemiten.«
1888, März. Ruth erwartet ihr zweites Kind, aber dennoch befindet sie sich mit Jürgen auf Händen und Knien im Garten gegenüber der Färberei von Belgard. Die beiden pflanzen zusammen die Fliederbüsche, die sie aus Kieckow mitgebracht haben, und der kleine Hans Jürgen sieht ihnen dabei zu.
Graf Robert von Zedlitz und Trützschler steht bloßen Hauptes vor der Garnisonskirche in Potsdam. Vor seinen Augen wird der Sarg Kaiser Wilhelms I. von einem bespannten Leichenwagen heruntergehoben. Die Leibgarde des Königs salutiert vor dem Sarg. Robert ist begeistert von den präzisen Bewegungen der Leibgarde und erinnert sich an die Zeit, als er selbst Leibgardist war. Fast reflexartig salutiert auch er. Wie hat sich die Welt doch verändert in all den Jahren.
In seiner Nähe steht auch Hans Hugo von Kleist, ebenfalls in Gedanken versunken, während er den Weg des Sarges und das Salutieren für den verstorbenen Kaiser beobachtet. Der heutige Tag ist ein Tag der Trauer für Vater Kleist. Kalt bläst der Wind; der neue Kaiser Friedrich III., wie er sich entgegen der preußischen Tradition nennt, ist todkrank; Otto von Bismarck wirft nicht einen Blick in Richtung seines »Onkels Hans«.
Juni. Schon wieder stehen Graf Robert von Zedlitz und Trützschler und Hans Hugo von Kleist bloßen Hauptes nebeneinander vor der Garnisonskirche. Diesmal wird der Sarg Friedrichs III. in die Familiengruft der Hohenzollern getragen. Er, der bei Amtsantritt bereits schwer an Krebs erkrankt war, konnte sein Amt nur 99 Tage ausüben. Die königliche Leibgarde salutiert vor dem Sarg und wendet sich dann, um dem neuen König und Kaiser, Friedrichs Sohn Wilhelm II., zu salutieren.
Die Taufschale
1888, Juli. An einem sonnigen, warmen Nachmittag wird die erste Tochter von Ruth und Jürgen von Kleist geboren. Sie erhält den Namen Spes, lateinisch für »Hoffnung«. Am nächsten Morgen bereits verlässt Ruth das Bett und geht mit der kleinen Tochter auf den Balkon ihrer Wohnung in Belgard, um den Garten auf der anderen Straßenseite zu bewundern, der im Frühjahr mit so viel Liebe angepflanzt wurde.
Eine Woche später versammeln sich die Familien von Ruth und Jürgen zur zweiten Taufe in Belgard, dieses Mal in der mittelalterlichen Marienkirche, der sich Ruth mittlerweile tief verbunden fühlt. Das Bauwerk aus dem 14. Jahrhundert mit dem hohen, spitz zulaufenden Mittelschiff gilt als das herausragende Kunstwerk Pommerns. Wieder hat Vater Kleist die Taufschale aus Kieckow mitgebracht, die jetzt auf dem Taufstein unterhalb des berühmten Altars aus dem 17. Jahrhundert steht. Die Blumen, die um die Taufschale gelegt sind und in zwei Vasen den Altar schmücken, hat Ruth selbst im Garten am anderen Ufer des Flusses gepflückt.
Blumen haben in ihrem Leben immer eine wichtige Rolle gespielt. Im Alltag gehen selbst die langweiligsten Arbeiten leichter von der Hand, wenn man sich an Blumen erfreuen kann; bei festlichen Anlässen, wie zum Beispiel zu dieser Taufe, bringen Blumen einen Zauber über die ohnehin empfundene Freude; später wird Ruth erfahren, dass Blumen aus ihrem Garten sie trösten und in Zeiten tiefster Traurigkeit und Verzweiflung ihre Leiden lindern können.
In Form einer kleinen Prozession kehrt die Familie aus der Kirche in die Wohnung zurück, wo das Festessen stattfinden wird. Der Festsaal befindet sich oberhalb des engen, unordentlichen Innenhofes und ist nur über eine dunkle Steintreppe zu erreichen. Die junge Mutter und ihre Dienstboten müssen ständig gegen Mäuse in den Schränken des Esszimmers ankämpfen, aber es wäre undenkbar, eine Feier wie diese nicht zu veranstalten. In der preußischen Aristokratie dient ein solches Essen der Aufrechterhaltung der Tradition einer Gesellschaftsklasse, wenn nicht gar der ganzen Nation. Zumindest sind die Eltern und Großeltern des Kindes dieser Meinung und sie glauben, das Kind werde ebenfalls eines Tages ihre Ansicht über den Lauf der Welt teilen. Spes jedoch wird später vieles in Frage stellen, dagegen rebellieren und schließlich einen anderen Weg einschlagen.
Am Ende des Tages kehrt Vater Kleist in seiner Kutsche nach Kieckow zurück, um die Taufschale wieder an ihren Ehrenplatz zu bringen. Er ist müde; er macht sich Sorgen über die Sozialisten und die polnischen Nationalisten, über geschäftliche Dinge – alles Vorboten zukünftiger Veränderungen in Pommern. Der Pachtvertrag für Kieckow wird in acht Jahren auslaufen, Hans Hugo spürt jedoch, er wird diesen Termin nicht mehr erleben. Sein größter Wunsch ist, dass Ruth und Jürgen das Gut übernehmen, wie er es in seinem Testament auch verfügt hat.
In der Zwischenzeit erfreuen sich die jungen Eltern an ihrem kleinen Sohn und der neugeborenen Tochter. Auch nehmen sie in zunehmendem Maße am gesellschaftlichen Leben Belgards teil. Sie haben einen Freundeskreis gewonnen, dessen Verbindungen mehrere Generationen