Mit dem Mut einer Frau. Jane Pejsa. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jane Pejsa
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783865064493
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ab. In den polnischen Provinzen Preußens wird das sich ausbreitende nationale Bewusstsein noch dadurch verstärkt, dass sich die tief religiösen Katholiken wegen ihres Glaubens verfolgt fühlen.

      Im Namen des Reichskanzlers von Caprivi und mit Unterstützung des Kaisers hat Graf Robert einen revolutionären Schulgesetzentwurf in den preußischen Landtag eingebracht. Hans Hugo ist außer sich vor Freude. Trotzdem hofft er, die Debatte möge kurz sein, da er von einem schweren Husten geplagt ist, dem das schlechte Wetter Berlins keine Besserung bringt. Seine Tochter Elisabeth, die ihn überallhin begleitet, ist über den Gesundheitszustand des Vaters besorgt und würde ihn am liebsten heim nach Kie­ckow bringen.

      März. Zwei Monate bereits dauert die vehemente Debatte in der preußischen Abgeordnetenkammer, die mit einer Schärfe geführt wird, wie man sie seit einem Jahrzehnt in Deutschland nicht mehr gekannt hat. Fast könnte man glauben, es entstehe ein neuer Religionskrieg. In Belgard liest Ruth die täglich aus Berlin eintreffenden Briefe von Vater Kleist, in denen er gewissenhaft über Vater Zedlitz’ Fortschritte in der Durchsetzung des Gesetzentwurfs berichtet. Es sind kurze Zusammenfassungen nicht nur der Reden, die ihr Vater vor der Kammer gehalten hat, sondern auch der Aussagen seiner Anhänger. Aus seinen Briefen schließt Ruth, dass die Abstimmung bald stattfinden und Vaters klare Vorstellung von Kirche und Staat bald Wirklichkeit werden wird.

      Völlig unerwartet beginnt der Kaiser jedoch zu wanken und entzieht in der Folge dem Entwurf seine Unterstützung. Graf Robert ist sprachlos, widerruft den Gesetzesentwurf und reicht seinen Rücktritt als Kultusminister Preußens ein. Reichskanzler von Caprivi ist außer sich vor Wut über die Charakterschwäche des Kaisers und tritt 24 Stunden später von seinem Posten als Ministerpräsident Preußens zurück. Als deutscher Reichskanzler bleibt er jedoch im Amt. Zum ersten Mal in der Geschichte Deutschlands werden diese beiden Posten nicht mehr von einer Person bekleidet, ein schlechtes Omen für Caprivis Durchsetzungsfähigkeit als Reichskanzler und, was noch schlimmer ist, für die Stabilität des Deutschen Reiches. Vier Jahrzehnte nach seinem Eintritt in die Politik verlässt Hans Hugo seine Wohnung in Berlin und kehrt mit Elisabeth nach Kieckow zurück.

      April. Der Gutsherr besucht nun regelmäßig die Kirche von Kieckow und wie in früheren Jahren beginnt der Sonntagsgottesdienst erst dann, wenn auch er anwesend ist. Gewöhnlich dauert die Predigt in Kieckow sehr lang. An seinem ers­ten Sonntag zu Hause nickt der Gutsherr während der Predigt des Pfarrers ein, man hört sein lautes Schnarchen. Das wird jedoch nie mehr vorkommen – der alte Herr hat geschworen, nie wieder einzuschlafen! Jedes Mal zu Beginn der Predigt steht er auf und bleibt bis zu deren Ende stehen. Keiner aus der Gemeinde wagt einen verstohlenen Blick in seine Richtung; nicht einmal die Kinder belächeln ihn. In Kie­ckow ist das, was der Gutsherr tut, automatisch richtig. Elisabeth, jetzt die Herrin von Kieckow, sitzt neben ihrem Vater. Über ihrem dunklen Kleid und Mantel trägt sie das Stolbergsche Kreuz. Insgeheim fragen sich die Dorfbewohner, wann es die neue, junge Herrin übernehmen wird und was dann aus der ihnen so vertraut gewordenen Elisabeth wird. Im Dorf wird viel darüber spekuliert, wer das magi­sche Kreuz einmal tragen wird. Die Weisen sagen jedoch: »Wartet ab.«

      1892, Mai. Hans Hugo von Kleist liegt im Sterben. Von Kieckow aus geht die Nachricht nach Belgard, Stettin und Berlin. Kaiser Wilhelm sendet ihm eine persönliche Botschaft, in der er ihm die Wiedererlangung voller Gesundheit wünscht. Hans Hugo, der noch bei vollem Bewusstsein ist, belächelt die Botschaft, weiß er doch, dass der Kaiser solche Wünsche nur verschickt, wenn der Zustand hoffnungslos ist. Trotzdem ist er hocherfreut; als preußischer Aristokrat freut er sich über die Anteilnahme seines Königs.

      Frühmorgens am 20. des Monats erlischt Vater Kleists Lebenslicht. Seine Kinder Hans Anton, Jürgen und Elisabeth sind an seinem Sterbebett versammelt. Bis zum Abend ist auch Ruth mit den Enkelkindern Hans Jürgen, Spes und Konstantin eingetroffen. Es wird Ruths erste Beerdigung in ihrem Erwachsenenleben werden, für die sie, wie sie feststellen muss, noch nicht die entsprechende Kleidung besitzt. Die Hausdame kommt ihr sofort zu Hilfe, indem sie ihr innerhalb von 24 Stunden von der Schneiderin des Dorfes eine vollständige Trauerbekleidung mit Hut und langem Schleier anfertigen lässt. Ruth erkennt sich im Spiegel kaum wieder und hofft, sie werde dieses Kleid viele Jahre lang nicht mehr benötigen.

      Wie sollte sie auch ahnen, dass sie in nur fünf Jahren diese Kleidung wieder anziehen und dann zwölf Monate lang Tag für Tag tragen wird!

      Die Plätze in der Kirche von Kieckow reichen nicht aus, um allen Trauergästen Platz zu bieten, viele stehen in den Gängen oder hören, so gut es geht, von draußen zu. Außer den Familienangehörigen und den Dorfbewohnern sind Gutsbesitzer und Bekannte anwesend, die meisten kommen aus dem Kreis Belgard, manche jedoch auch aus weiter entfernten Orten wie Stargard, wo die Herrensitze der Puttkamers und Bismarcks liegen. Die meisten Zeitgenossen von Vater Kleist sind zwar nicht mehr unter den Lebenden, aber einige wenige gibt es noch. Dazu gehört Philipp von Bismarck, Otto von Bismarcks Neffe, ein langjähriger Freund von Hans Hugo von Kleist. Die Abwesenheit des ehemaligen Reichskanzlers fällt auf. Im Alter von 77 Jahren befindet sich Otto von Bismarck auf einer Vortragsreise durch Deutschland, durch die er die Gunst der Deutschen erwerben und wieder an die Macht gelangen möchte. Die langjährigen Freunde und Familienmitglieder sind empört über seine Abwesenheit und erinnern sich daran, wie sie ihn einst, als sie alle noch viel jünger waren, den »wilden Junker« getauft hatten.

      Viele offizielle Gäste sind angereist, die sich in das Gästebuch des Gutshauses eintragen und im Gedächtnis von drei Generationen der Kleists aus Kieckow bleiben werden. Unter ihnen sind als des Kaisers persönlicher Vertreter Adjutant von Jacobi, der Oberpräsident von Pommern von Puttkamer sowie der Staatssekretär des Reichsschatzamtes Freiherr von Maltzahn und Freiherr von Manteuffel, der Vizepräsident des Herrenhauses.

      50 Jahre später wird Ruths Sohn Hans Jürgen das Gästebuch verbrennen, denn im Dritten Reich werden die Menschen nach ihren Kontakten beurteilt und verdächtigt.

      Der Herr von Kieckow ist tot. Sein Nachfolger kann erst in vier Jahren eingesetzt werden, wenn der Pachtvertrag für Kieckow abläuft. Für eine vorzeitige Ablöse des Pachtvertrags ist nicht genug Geld vorhanden. In der Zwischenzeit regiert Elisabeth über Kieckow, während Hans Anton kommt und geht, ganz wie ihm gerade zumute ist. Jürgen und Ruth kehren mit ihren Kindern nach Belgard zurück. Über die Zukunft des Gutes spricht Jürgen wenig, vertraut Ruth jedoch wehmütig an: »Ach, könnten wir doch nur zusammen in Kieckow leben, aber wahrscheinlich wäre das zu viel des Glücks.«

      In der Gruft unter der Kirche von Kieckow stehen nun zwei Särge; Vater Kleists sterbliche Überreste befinden sich neben denen der Mutter. Jürgen, der sonst jede Freude und Sorge seines Lebens mit Ruth teilt, sagt dazu nichts. Sie spürt jedoch, dass sich die Geschwister mit ihm über den Ort, an dem ihre Eltern begraben werden sollen, nicht einig sind.

      September. Jürgen wird als Reserveoffizier für einen Monat militärischer Ausbildung in die Armee einberufen. Zum ers­ten Mal seit seiner Hochzeit hat er einen solchen Befehl erhalten, denn eigentlich gehört er nicht zu den aktiven Reser­visten. Die Einberufung ist jedoch eine Ausnahmeübung und, wie es heißt, für den Notfall; sie hängt offensichtlich mit der immer ehrgeiziger werdenden Außenpolitik des Kaisers zusammen, die böse Zungen als »Säbelrasseln« bezeichnen. Jürgen sind diese politischen Entwicklungen nicht verborgen geblieben. Als Reserveoffizier ist er jedoch verpflichtet, seinen militärischen Pflichten nachzukommen und wieder einmal seine uneingeschränkte Loyalität dem Kaiser gegen­über unter Beweis zu stellen.

      Ruth hatte immer Mitleid mit den jungen Ehefrauen empfunden, deren Männer als aktive Reservisten jedes Jahr einen ganzen Monat von ihren Familien getrennt werden. Nun muss sie diese Erfahrung selbst machen. Als ihr Vater Graf Robert die Nachricht von der Einberufung hört, lädt er Ruth umgehend ein, diesen Monat in Großenborau zu verbringen. Nach so vielen Jahren im öffentlichen Dienst ist er mit seiner Frau auf das Gut zurückgekehrt, das er nun selbst verwaltet. Ruth hat seit ihrer Heirat ihre schlesische Heimat nicht mehr gesehen und für die Kinder wird es der erste Besuch dort sein.

      Am Bahnhof von Belgard vergießt Ruth Tränen beim Abschied von ihren Kindern. Der sechsjährige Hans Jürgen hält seine kleine