Mit dem Mut einer Frau. Jane Pejsa. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jane Pejsa
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783865064493
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Dies ist jedoch nicht eingetreten – und es wird auch nie mehr der Fall sein. Elisabeth bleibt mit Kie­ckow verbunden, wo sie, wann immer sie dort ist, wie ihre Mutter früher das einfache dunkle, auf dem Land übliche Kleid trägt. An Sonntagen und während der Fastenzeit legt sie, wie einst ihre Mutter, das schwarze Stolbergsche Juwelenkreuz an, das Symbol der Herrin von Kieckow.

      Oktober. Wieder einmal, zum dritten Mal im 19. Jahrhundert, wird ein Kleist aus Kieckow Landrat des Kreises Belgard. Die Ernennung und der Umzug bringen viele Vorteile mit sich. Jürgens rascher Aufstieg zum Landrat von Belgard war eigentlich überraschend, denn in diesem Kreis gibt es einige, die der Meinung sind, die Kleists seien zu etabliert und zu mächtig. Vater Kleist wurde jedoch nicht müde, sich für seinen Sohn einzusetzen, was schließlich zum Erfolg führte.

      Ruths Schwiegervater Hans Hugo von Kleist

      Der Landrat von Belgard muss sich mit einer bescheidenen Wohnung zufriedengeben. Sie befindet sich im zweiten Stock eines alten Fachwerkhauses am Ufer des Flusses, der sich von Kieckow in nördlicher Richtung bis zur Ostsee schlängelt. Der Besitzer des Hauses, der im Nachbarhaus eine Färberei betreibt, wohnt im Erdgeschoss. Beide Wohnungen und die Färberei verbindet ein viel genutzter, belebter Hof, in dem sich auch Stallungen befinden. Ein weiterer positiver Aspekt der Belgarder Wohnung, außer der Lage am Flussufer, ist der parkähnliche Garten auf der anderen Straßenseite, der dem Hausbesitzer gehört. Von ihrem kleinen Balkon aus können Ruth und Jürgen über den Hof auf die riesige alte Eiche blicken, die das beherrschende Element des Gartens darstellt, und sich die Fliederbüsche vorstellen, die sie hier zum Frühlingsbeginn pflanzen werden.

      November. Hans Jürgen von Kleist, Namensvetter seines Urgroßvaters und der ganze Stolz seiner Eltern, erblickt zu Hause in Belgard das Licht der Welt. Der Termin für die Taufe wird so gewählt, dass alle noch lebenden Großeltern teilnehmen können. Der Graf und die Gräfin von Zedlitz und Trützschler sind von Posen gekommen; Hans Hugo von Kleist hat eine besonders hitzige parlamentarische Debatte in Berlin verlassen und ist nach Kieckow geeilt, um an diesem großen Ereignis teilhaben zu können. Persönlich bringt er die Taufschale aus Kieckow nach Belgard. Sie hat bereits zwei Generationen von Kleist-Kindern zur Taufe gedient. Wegen des rauen Klimas muss die Taufe in der bescheidenen Wohnung der Eltern abgehalten werden. Danach findet ein kleines Essen statt, auf dem natürlich die unvermeidlichen Reden nicht fehlen dürfen! Beide Großväter sind begabte Redner, die es sich nicht nehmen lassen, die Bedeutung dieses Familienereignisses und den Platz des neugeborenen Kindes in der Ewigkeit und der Vergänglichkeit des Universums darzustellen.

      1887, März. Wilhelm I., Kaiser des Deutschen Reiches, feiert seinen 90. Geburtstag im Neuen Palais zu Potsdam. Das gesamte preußische Herrenhaus, darunter auch Hans Hugo von Kleist und Graf Robert von Zedlitz und Trützschler, wurde zu diesem Ereignis eingeladen. Die Feier ist mehr eine Versammlung der preußischen Aristokratie, der alten Garde, als ein Staatsakt des Deutschen Reiches. Wie üblich steht Reichskanzler Bismarck im Mittelpunkt des Geschehens. An diesem Tag scheint er erregt, er ärgert sich offensichtlich über einige von Kronprinz Friedrich Wilhelm und seiner Frau Victoria getroffene Anordnungen.

      Kronprinzessin Victoria, die erstgeborene Tochter der Queen Victoria und des Prinzen Albert, hat nach Meinung Bismarcks einige gefährliche politische Ideen aus England in ihre neue Heimat mitgebracht, die auch ihren Mann infi­ziert haben. Ungeachtet seiner früheren Zuneigung zu englischen Frauen (ihm wird nachgesagt, als junger Mann zwei englische Schönheiten geliebt zu haben), verachtet er Prinzessin Victoria und ist voller Sorge um die Zukunft des Deutschen Reiches nach dem Tod Wilhelms I. Der in die Jahre ge­kommene Reichskanzler ist so beunruhigt, dass er auf eine gött­liche Fügung hofft – vielleicht könnte der Kronprinz vor seinem Vater sterben? Die ganze Welt weiß von Friedrich Wilhelms schwacher Gesundheit, auch wenn es der Hof nie zugegeben hat; daher befindet sich bei dem festlichen Anlass in der großen Halle des Palastes Prinz Wilhelm, der älteste Sohn des Kronprinzen und Enkel des Kaisers und damit Zweiter in der Thronfolge, an der Seite des Fürsten Bismarck. Nachdem Hans Hugo und Graf Robert auf ein langes Leben mit vielen derartigen gesellschaftlichen und politischen Ereignissen zurückblicken können, sind sie in der Lage, politische Schlussfolgerungen aus scheinbar so banalen Dingen wie den Bewegungen des Reichskanzlers während einer Geburtstagsfeier zu ziehen. Die beiden tauschen leise, hinter vorgehaltener Hand, ihre Beobachtungen und ihre Besorgnis darüber aus.

      Weit entfernt von der spannungsgeladenen Situation in Berlin geht der junge Landrat von Belgard mit Energie und voller Optimismus an seine berufliche Aufgabe. In einer geräumigen Wohnung neben der Färberei von Belgard sorgt Ruth liebevoll und zufrieden für ihren kleinen Sohn. Ein leichter Schatten, der im zweiten Jahr der vielversprechenden Ehe über dem Glück der jungen Familie liegt, steht mit der unsicheren Zukunft, über die sich die ältere Generation in Berlin sorgt, jedoch in keinem Zusammenhang. Er wird vielmehr verursacht von der besitzergreifenden Art der jungen Ehefrau ihrem Mann gegenüber, beruhend auf einer übertrie­benen Angst, Jürgen zu verlieren, von der sie schon einmal, kurz nachdem sie ihn kennengelernt hatte, befallen war. Zwar schilt sie mit sich wegen ihres kindischen Benehmens, doch kann sie unglücklicherweise nur schwer die Fassung bewahren, wenn Jürgen die Nacht nicht zu Hause verbringen kann, was mindestens einmal im Monat sein muss.

      60 Kilometer südlich von Belgard liegt Bad Polzin, die zweite blühende Stadt des Kreises Belgard. Jeden Monat verbringt Jürgen zwei Tage in Polzin; der Abschied ist für Ruth schier unerträglich. Vom Balkon aus beobachtet sie, wie die Kutsche in Richtung Süden auf der Landstraße ihren Bli­cken entschwindet, und jedes Mal bricht sie in Tränen aus.

      Jürgen erfüllt die Arbeit in seinem Kreis mit großem Optimismus. Seine täglichen Aufgaben erledigt er äußerst gewissenhaft, die Fahrten nach Polzin genießt er. Er stellt Fragen und beobachtet alles genau, in der Hoffnung, die hier verwirklichten innovativen Ideen in Belgard einführen zu können. Glücklicherweise wird er nicht abgelenkt durch Gedanken an die auf dem Balkon weinende, vom Abschiedsschmerz überwältigte Ruth. Weder sie noch die Dienstboten werden ihm je ein Sterbenswörtchen davon erzählen.

      Auf seinen Besuchen in Polzin tankt Jürgen Energie und Inspiration. Außer der Einwohnerzahl – in beiden Städten leben etwa 3 000 Menschen – haben Belgard und Polzin so gut wie nichts gemeinsam. Belgards Gründung geht zurück auf Jürgens Vorfahren Klest, der im 13. Jahrhundert dem Deutschen Ritterorden nach Pommern folgte, während Polzin im 16. Jahrhundert unter polnischer Herrschaft entstand und ursprünglich von jüdischen Siedlern bewohnt war. Heu­­te sind zehn Prozent der Bevölkerung jüdisch, die Stadt ist reich an vorbildlichen, modernen Unternehmen – ein blühendes Zentrum des Handels in der sonst trägen pommerschen Wirtschaft. Die Juden sind hauptsächlich im Viehhandel und in der Lederherstellung beschäftigt. Daneben gibt es die nichtjüdischen Weber, deren Fleiß und Handwerkskunst die Stadt in ganz Preußen berühmt gemacht und ihr einen beneidenswerten Reichtum verschafft haben. Die Straßen in Polzin sind gesäumt von prächtigen, aus Ziegel und Stein gebauten Wohn- und Geschäftshäusern, umgeben von sorgfältig gepflegten öffentlichen Promenaden und Parks. In der Stadt verkehren so viele Kutschen wie nirgendwo sonst im ländlichen Pommern. Für den Kreis Belgard ist es ein Segen, über ein so reiches Zentrum innerhalb seiner Grenzen zu verfügen. Jürgen hegt den Wunsch, die Lebendigkeit und die außerordentlichen Leistungen Polzins auch in die nördlichen Randgebiete seines Bezirks übertragen zu können.

      Diesbezügliche Pläne hat er bereits mit seinem Vater besprochen, der vor 30 Jahren ähnliche Beobachtungen gemacht und Vergleiche angestellt hat. Als der Vater noch Landrat von Belgard war, setzte er beispielsweise bei der Kreisverwaltung höhere Steuern auf Grundbesitz durch, die dem Polziner Krankenhaus zuflossen, damit jeder Bürger des Kreises kostenlose medizinische Behandlung erhalten konnte.

      Für Vater Kleist ist das Leben eine Schwarzweißmalerei mit wenigen Grauschattierungen dazwischen. Vor zehn Jahren hatte er damit begonnen, sich sehr für eine neue politische Bewegung, die Christlich-soziale Partei, zu engagieren. Diese Bewegung wurde von Adolf Stoecker ins Leben gerufen, dem charismatischen Oberhofprediger, dem Vater Kleist sehr zugetan war. Der Name von Stoeckers Vereinigung besagt bereits, wofür sie sich einsetzt – soziale Reformen, Ver­bes­serung der Situation