Renate Müller - Ihr Leben ein Drahtseilakt. Uwe Klöckner-Draga. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Uwe Klöckner-Draga
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783939478423
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Schülern beibringt. Reinhardt selbst ist vorübergehend in Wien tätig und wird erst im Oktober 1924 wieder nach Berlin zurückkommen. Die künstlerische Leitung seiner Häuser führt in dieser Zeit der Schriftsteller, Theaterkritiker und Chefdramaturg Felix Hollaender. Der ewig zerstreut und geistesabwesend wirkende Romancier ist Onkel des Komponisten Friedrich Hollaender.

      Der Stundenplan läßt den Schülern kaum Zeit für sich selbst, sie lernen und leben nur für das Theater. Natürlich lernt auch Renate zu deklamieren und übt die üblichen Vorsprechrollen des Gretchen und der Jungfrau von Orleans ein. In der elterlichen Wohnung erklingen jetzt keine Tonleitern mehr, sondern die melodischen Sprachübungen aus dem „Kleinen Hey“: „Qualmende Quelle, Quelle quetschender Qualen“ oder „Pfui Faun, pflücke Veilchen, Pfirsiche verlocken nicht“ usw. Vor allem soll die Bühnenpräsenz und die Einzigartigkeit der einzelnen Schüler geweckt und zur Entfaltung kommen. Renate besucht zwar nicht regelmäßig den Unterricht, lernt aber mit ganzem Herzen und Feuereifer. Sie befreundet sich mit einigen Kommilitonen, die später renomierte Schauspieler wurden, darunter O. E. (für Otto Eduard) Hasse, Werner Fuetterer, Alice Treff und Karin Evans, die den gleichen Lehrgang besuchen. Karin Evans erinnert sich: „Renate war eine tolle Erscheinung, ein Sonderfall in unserer Schule. Wir anderen konnten uns keine ausgefallene Kleidung, keine Seidenstrümpfe leisten. Renate kam immer sehr elegant gekleidet. Für uns war sie ein Rätsel, denn sie kam und ging zum Unterricht, wie sie es wollte; außerdem hatte sie damals schon unglaubliche Beziehungen zu wichtigen Leuten aus der Theaterwelt. Zu ihrem Bekanntenkreis gehörten Prominente, die uns nicht einmal angeschaut hätten. Sie war ein Aushängeschild für die Schule.“ 3 Gemeinsam arbeiten und schwärmen alle für das Theater und haben die gleichen himmelstürmenden Pläne. Die Schüler treffen sich regelmäßig in der Kantine, kurz „D.T.“ genannt, an dessen Wänden Photos und Karikaturen sämtlicher Bühnengrößen hängen, die hier aufgetreten sind. Außerdem kann man hier in den Pausen berühmte Schauspieler auch hautnah erleben.

      Als Lehrer für Szenenstücke wird der junge Lothar Müthel engagiert. Müthel ist bekannt für seine Sorgfalt, mit der er den Charakter einer Dichtung herausarbeitet. Er plädiert für eine reine, unverfälschte Wiedergabe des Bühnenautors. Um die Schüler besser kennenzulernen, läßt sich Müthel von allen etwas vorspielen. Die Begabtesten, unter ihnen auch Renate, bekommen kleine Röllchen bzw. wirken als Komparsen auf einer der fünf Berliner Reinhardt-Bühnen mit. Zum Beispiel in der Reinhardt-Inszenierung Shaws Heilige Johanna mit der umjubelten Elisabeth Bergner, oder in Bertolt Brechts Dickicht mit Fritz Kortner und Franziska Kinz; Regie führt hier Erich Engel. Die Studierenden sollen das Erlernte praktisch beweisen, Routine bekommen und sich „freispielen“. Das bedeute für Renate, dass sie zunächst ein bißchen auf der Bühne herumzugehen oder dazusitzen hat und als einzigen Text hin und wieder „Jawohl, Mama!“ sagen muss.

      Ein weiterer Lehrer für Rollen- und Ensemblespiel, Erich Pabst, (von allen „der Papst“ genannt), ist gleichzeitig Regisseur bei den Reinhardt-Bühnen. Pabst wird für Renates künstlerische Entwicklung noch wichtig sein.

      Ihre erste „richtige“ Rolle bekommt Renate in der Richard Gerner Neuinszenierung von Henrik Ibsens Die Stützen der Gesellschaft. Albert Bassermann spielt den Konsul Bernick, Helene Weigel die Martha und Else Bassermann sehen wir als Lona Hessel. Renate spielt darin das Nettchen Holt. Premiere ist am 9. Februar 1925 im Deutschen Theater, das zu den führenden Bühnen deutscher Sprache gehört.

      „Beachtenswert ist die Aufführung durch die gute Vertretung der Nebenrollen,“ 4 lobt ein Kritiker. Und der gefürchtete Kritikerpapst Alfred Kerr, der seine Kolumnen mit römischen Ziffern versieht, schreibt am 10. Februar im Berliner Tageblatt über die Neuaufführung: „I. Dieses Stück ist veraltet. Ibsen sagt bekanntlich (im ‚Volksfeind‘): Eine Wahrheit lebt zwei Jahrzehnte. Die zwei Jahrzehnte sind längst um für die ‚Stützen der Gesellschaft‘. Was hat sich (nicht etwa durch den Weltkrieg) verändert? - Zwei Dinge: Der Baugrund. Die Bauart. III. Ibsen ist hier noch Schüler des Franzosenstückes. Er hat ja den Seribe, den Dumas, den Sardou dann erst abgestreift. Ibsen ist aus dem Unmodernen dann erst modern geworden - aber just das Abgestreifte wird nachgemacht. In Wahrheit ist der Bau, auch dieses überlebten Stücks, geniestark. V. Aufgabe des Spielmeisters: Drähte zu beschatten. Herr Richard Gerner beleuchtet sie. Eine Gelegenheitsvorstellung - für Bassermann, der das Herrenmenschliche prachtvoll stark, das Bereuende durchaus zureichend bringt. Im Äußerlichen gibt er Echtheitskunst; im Innerlichen ... Meisterschaft. Seine Frau dachte man sich bedenklicher als Lona Hessel. Sie kam öfters theatralisch; öfters mit Rührung. Sie hat aber nichts zerstört. Mathias Wiemann ist vielleicht eine Kraft. (Er gab den Johann Tönnesen.) Als aktiv zu nennen sind Hermine Sterler und Bild. Als passive Wirkungskraft Helene Weigel. Die still verschrumpfte Schwester des Konsuls. Das alte Mädchen (deren Auge, wie Jean Paul sagt, ‚wie das eines eingepökelten Herings glänzt‘. Ein Trauerspiel für sich. Sie bleibt im Gedächtnis.“

      Bei dieser Inszenierung ist Kerr auf die Schülerin Renate Müller noch nicht aufmerksam geworden. Dafür erntet Renate ihre erste Anerkennung in der Rolle der Sophie in Frank Wedekinds Franziska. Die Premiere findet am 4. April 1925 im Theater in der Königgrätzer Straße (das heutige Hebbel Theater in der Stresemannstraße) statt, einem Haus, welches zu den Barnowsky-Bühnen gehört. Die Titelrolle spielt Tilla Durieux und der Herzog von Rothenburg wird von Hubert von Meyerinck gegeben. Regie führt diesmal Karlheinz Martin, der ein Verfechter des Expressionismus ist und hier mit Wedekinds Stück gewaltsam aber dennoch pietätvoll umgegangen ist. Seine Schauspieler konnte Martin zu Höchstleistungen anspornen und am Tag nach der Premiere steht in den Zeitungen: „Wedekinds aus Erbitterung und Enttäuschung geborene Weltanschauung hat wieder dieses, eines seiner letzten Stücke diktiert. Man wird sich Wedekinds Franziska fortan nur noch als Tilla Durieux vorstellen können. Martin steigert das Stück ins Hypermoderne und tut recht daran. Im zweiten Bild, der Lasterhöhle, lebt sich die von tausend Einfällen gewürzte Laune des Regisseurs aus.“ 5

      „Die Aufführung der ‚Franziska‘ entfaltete noch einmal allen Glanz und alle Gefahren des Regietheaters. Die Stoßkraft der Handlung - fabelhaft. Das Umschlagen der Vorgänge wurde nicht immer klar. Regie muß Dichterregie, muß Schauspielerregie werden. Nicht schwache Werke, nicht schwache Schauspieler stark machen, sondern das wesentliche Werk, die Persönlichkeit entwikkeln. Wenn das erkannt wird, werden auch die Anregungen dieser starken, oft hinreißenden, oft irritierenden Franziska-Aufführung nicht vergeblich gewesen sein.“ 6

      Im nächsten Stück, der Gustav Raeder-Posse Robert und Bertram oder Die lustigen Vagabonden, wird Renate als Zofe besetzt. Adolf Edgar Licho führt hier Regie. Paul Morgan und Franz Schulz haben das Stück für diese Inszenierung neu bearbeitet. Paul Graetz, Fritz Kampers, Erika Mann und Fritz Rasp stehen auf der Bühne - eine Elitebesetzung - und Renate Müller gehört jetzt schon dazu. Premiere ist am 5. Mai 1925 in der Komödie am Kurfürstendamm. Die Neufassung kommt trotz der routinierten Schauspieler nicht an und Fred Hildenbrandt urteilt im Berliner Tageblatt: „Auch wenn diese biedere alte Kutsche mit einigen aktuellen Witzen morganisiert und überschulzt und dann gewaßmannt und gegraetzt und noch gewangelt und durchflohrt wird. Was, ein moderner Motor, das rattert und knattert, aber der Chauffeur A. E. Licho schaltet zum Erbarmen, die morschen Bretter krachen, so knödelt das Gefährt mühselig vorbei, war es nicht entsetzlich langweilig? Wie, war nicht Carl Sternheim da, Oskar Wilde, Elisabeth Bergner, parodiert von Manfred Fürst, Wolfgang Hellert, Erika Mann? War nicht die Rede von Agnetendorf, Stresemann, Staatsanwälten, Präsidentenwahl? Aber Witze machen ist noch keine Bearbeitung. Gute Schauspieler reden lassen, noch keine Regie. Und eine weißhaarige Posse zum Jazz notzüchtigen, kein Heldenstück.“ 7

      Auch Max Osborn, der ebenfalls zur Garde der angesehenen Berliner Theaterkritiker gehört, schreibt in der Berliner Morgenpost: „Ich habe das Gefühl, dass die Bearbeiter zu dem behaglich in sich ruhenden Volksstück einer weniger nervösen und gehetzten Zeit doch nicht die rechte innere Beziehung unterhalten. Nur so kann ich mir erklären, dass Morgan, der sonst in seinen vergnüglich gepfefferten Conferencen und Solonummern an witzigen und geistreichen Einfällen übersprudelt, vielleicht nicht über recht trockene Scherze hinauskam. Im Salon Ipelmeyer ging es sonst freilich