Karheinz Martin inzeniert einen Wedekind-Abend und präsentiert im Renaissance-Theater dem Berliner Publikum eine glanzvolle Besetzung: Tilla Durieux, Valeska Gert, Margo Lion und Renate Müller. Der Dreizehnte Stuhl von Bayard Veiller heißt das Stück, das Erich Pabst ebenfalls im Renaissance-Theater herausbringt. Diesmal steht Renate mit Rosa Valetti, Lotte Stein und Hans Leibelt auf der Bühne. Nach diesen ersten Erfolgen ist die junge Schauspielerin in der Berliner Theaterszene bekannt geworden. Auch die Kritiken sind für Renate meist wohlmeinend und erfolgversprechend. In einer Besprechung heißt es: „Eine schöne Hoffnung für größere Aufgaben scheint Renate Müller zu sein. Ihre blendende Erscheinung hindert sie nicht an einer künstlerisch tief empfundenen Leistung. Sie hatte den einzigen menschlichen Ton in dieser Aufführung.“
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Renate klettert in den folgenden Monaten die Karriereleiter immer weiter hinauf. Ihre Einkünfte erlauben es ihr nun, einen neuen Wohnsitz zu nehmen: Kaiserallee 171, ebenfalls in Berlin-Wilmersdorf (westlich von Schöneberg). Seit Herbst 1927 gehört sie zum Verband der Saltenburg-Bühnen, zu dem auch das elegante Lustspielhaus am unteren Ende der Friedrichstraße gehört. Geleitet wird es vom Doktor der Germanistik, Martin Zickel, der bereits um die Jahrhundertwende die „Sezessionsbühne“ am Alexanderplatz, ein Theater mit Niveau, gegründet hatte. In der aktuellen Theaterszene ist er für seine häufig wechselnden Amouren bekannt und verschrien.
An diesem Hause hat Renate Müller am 21. Dezember 1927 ihre nächste Premiere: Unter Geschäftsaufsicht heißt der Schwank von Franz Arnold und Ernst Bach, der eigens für das Zugpferd des Theaters, den Komiker Guido Thielscher, geschrieben wurde.
Wie alle „richtigen“ Berliner kommt Thielscher aus Schlesien. Der kleine, kugelrunde Mime gehört zu den populärsten Künstlern Berlins. Sein Handwerk hat er beim Zirkus gelernt, als Artist. 1877 trat er im Berliner Belle-Alliance-Theater zum ersten Mal als Schauspieler auf. Dann folgte das Central-Theater. Aufsehen erregte Thielscher, als er an das Deutsche Theater verpflichtet wurde. Hier spielte der Possen-Komiker in Werken von Fulda, Schnitzler, Sudermann, Hauptmann und Ibsen, ein Beweis für seine schauspieleriche Vielseitigkeit. Später kehrte er zur Posse und zum Schwank zurück und wurde mit Charly’s Tante zum absoluten Liebling der Berliner.
In Unter Geschäftsaufsicht spielt Guido Thielscher den Buchhalter Haselhuhn aus Merseburg, der in einem Geschäft Ordnung schaffen soll und natürlich nur Unordnung hinterläßt. In gewagten Situationen, hart an der Grenze zum Schmierentheater, entfaltet er seine entwaffnende Liebenswürdigkeit und die ihm eigene Drollerie. Ein Lächeln, ein Zucken der Mundwinkel genügen und Thielscher versetzt sein Publikum in unbändige Heiterkeit. Renate spielt wieder die Rolle einer eleganten Dame, diesmal mit Namen Puffy. Mit ihren Reizen sorgt sie für allerlei Verwirrung. Olga Limburg, Käte Lenz und Hans Zesch-Ballot sind ebenfalls mit von der Partie. Franz Arnold inszeniert mit viel Humor und Leichtigkeit, so dass das begeisterte Publikum aus dem Lachen nicht heraus kommt. Das Stück wird zum Dauerbrenner in der Berliner Theatersaison. Thielscher wird von den Kritikern wie immer gelobt und über Puffy ist zu lesen: „sehr natürlich und anmutig die blonde Renate Müller.“ 19
Es gibt aber auch kritische Stimmen, die sich darüber wundern, dass Renate Müller sich für diese „Klamotte“ hergibt. 20
Thielscher ist von Renate angetan, und als er am 27. März 1928 sein 50-jähriges Bühnenjubiläum feiert, bittet er sie nach der 100. Aufführung von Unter Geschäftsaufsicht auch im anschließenden Nachtkabarett des Lustspielhauses mitzuwirken. Als sogenanntes „Thielscher-Girl“, in einer zwölfköpfigen Tänzerinnentruppe des Impresarios Thielscher, steht sie zusammen mit Alice Hechy, Trude Hesterberg, Charlotte Ander und Marlene Dietrich auf der Bühne.
Presseanzeige zum Theaterstück,1927.
Die Berliner Morgenpost schreibt: „Wer ‚unser Guido‘ ist, braucht man keinem Berliner zu erzählen. Seit 50 Jahren ist unser Guido Thielscher ein Stück Berlin und wenn Paul Morgan ein Quodlibet dichtet, dessen Titel kurz und bündig ‚unser Guido‘ heißt, so braucht es keinen Kommentar und keine Erklärung dazu. ‚Unser Guido‘ war eine der Attraktionen, die den Gästen bei dem Nachtkabarett nach der Thielscherfeier im Lustspielhaus vorgesetzt wurden. 25 der größten Kanonen, alphabetisch von Adalbert bis Westermeier geordnet, führen auf, um unseren Guido liebevoll zu seinem Jubiläum zu veräppeln. Wir haben Tränen gelacht, Thielscher mit an der Spitze. Als Conferencier wirkte Willi Schaeffers, aufgemacht als Thielscher-Imitation in
‚Charlys Tante‘, von zwerchfellerschütternder Komik. Dann Paul Grätz, Willy Prager, Otto Reutter! Eine ununterbrochene Kette von Superlativen der Brettlkunst. Aber den Vogel schossen doch wohl die Thielscher-Girls ab, auch wieder die größten Kanonen, ebenfalls alphabetisch geordnet, zwölf Schönheiten, von Charlotte Ander und Marlene Dietrich bis Renate Müller und Molly Wessely. Unser Guido war begeistert als die Girls mit dem Chor schlossen: ‚Und zum Schluß und zum Schluß gib uns jeder einen Kuß!‘ Das ließ sich Thielscher nicht zweimal sagen. Raus aus der Loge, rauf auf die Bühne, und da die ganze Reihe durchgeküßt.“ 21
Thielscher Girls:
Charlotte Ander, Marlene Dietrich und Renate Müller. Berlin, Lustspielhaus 27. März 1928.
Zickel bringt Renate auch in der deutschen Erstaufführung des amerikanischen Gesellschaftsstücks Trixie, von Cosmo Hamilton, heraus. In New York hatte das Lustspiel einen Aufführungsrekord erreicht, nun soll es in Berlin ebenfalls ein Renner werden. Renate spielt die Titelrolle: Beatrix Vanderdyke (Trixie) ist eine mondäne extravagante Millionärstochter mit Herz, aber auch Launen, die Abenteuer sucht. Als sie von ihrer Familie zu ungewöhnlicher Stunde im Atelier eines Malers von üblem Ruf erwischt wird, rettet sie sich mit dem Schwindel, sie sei mit Pelhem Franklin (gespielt von Johannes Riemann) heimlich verheiratet. So unsinnig wie die Konstruktion der Handlung ist ihre Fortführung. Die beiden spielen nach außen Eheleute und raufen sich, wenn sie alleine sind. Riemann hat in seiner Rolle die Zähmung einer Widerspenstigen von heute zu vollziehen und Renate sorgt auf der Bühne wieder für Spaß, Stimmung und einem Schuß Sex-Appeal. Ihre Partner sind Harry Hardt, Olga Engel und der bereits erwähnte Johannes Riemann, ein junger und schon bekannter Schauspieler, mit dem sie oft vom Film spricht, zu dem sie noch keine richtigen Verbindungen hat. Die Premiere von Trixie findet am 1. September statt. Die Produktion wird freundlich besprochen, ist aber abgesehen von der prominenten Besetzung kein Ereignis. Max Osborn in der Berliner Morgenpost: „Die zwei Schauspieler, von denen die Aufführung getragen wird, und die mit ihrem Temperament und ihrer Liebenswürdigkeit dem Abend wahrhaftig zu so etwas wie einem Erfolg verhalfen, hatten hier die beste Laune: die hübsche, gutgewachsene, von Herzen anmutige Renate Müller mit dem Köpfchen eines amerikanischen Farbendruckplakats, und Johannes Riemann, der die Sache mit annehmbarer Routine abmachte.“ 22
Renate Müller mit Max Gülstorff in „Zweimal Oliver“, Theater in der Königgrätzer Straße, 1926.
Im Lokalanzeiger ist zu lesen: „Ein flottes, elegantes und liebenswürdiges Spielchen, das seine besondere Bedeutung für Berlin lediglich deswegen hat, weil Renate Müller mit der Gestaltung dieser Rolle in die erste Reihe der Darsteller gerückt ist. Da sie neuen und allerneuesten Ansprüchen an die Frauenfigur vollkommen genügt, wurde ihr der Erfolg etwas leicht gemacht. Aber sie ist im Zusammenspiel mit Riemann wirklich erstklassig. Ihre charmante Pikanterie, ihr Temperament, das einmal bis ins leicht Grobe schäumt, ihre nicht nur sympathische, sondern auch gut angewandte Sprache sind Buchungen auf dem Pluskonto des Abends.“ 23 Und der Berliner-Börsen-Courier spricht über „die junge Renate Müller, eine frische, begabte, temperamentvolle Schauspielerin“.