Großes Bedauern gibt es bei Renates Freundinnen, als die Vierzehnjährige im Herbst 1920 München verlassen muß und mit der Familie in die damals Freie Stadt Danzig übersiedelt. Die eben noch kaisertreue Metropole und westpreußische Provinzhauptstadt war nach dem verlorenen Krieg im Laboratorium der Diplomatie neu entstanden. Renates Vater hat das Angebot angenommen, die Leitung der Danziger Zeitung zu übernehmen.
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Die alte Hansestadt Danzig wurde im Friedensvertrag von Versailles (1919) von Deutschland getrennt und 1920 als Freistaat unter dem Schutz des Völkerbundes und des von ihm eingesetzten Hohen Kommissars gestellt. Die Freie Stadt Danzig war also ein souveräner Staat im Sinne des Völkerrechts mit einem Parlament (dem Volkstag), einer Regierung (dem Senat) und einem Staatsgebiet. Seine ca. 300.000 Einwohner wurden allerdings nicht nach ihrem Willen gefragt, sie waren verbittert, weil ihr Bekenntnis zum Deutschen Reich bei den Friedensverhandlungen offenbar ignoriert wurden. Trotz der prekären Situation der Stadt, versuchen die Danziger mit der neuen Situation zurecht zu kommen. Sie genießen nun die Danziger Staatsangehörigkeit, deren Erwerb und Verlust sich nach Danziger Recht regelt. Besondere Vorrechte hat sich die junge Republik Polen im Hafen, bei der Bahn und bei der Post einräumen lassen. Die Stabilität des Freistaates steht auf wackligem Boden.
Von Swinemünde aus läuft das Schiff nach einem Sturm mit fünf Stunden Verspätung im Danziger Hafen ein. Für Renate und ihre Schwester beginnt nun ein neuer und bedeutsamer Abschnitt im Leben. Bereits beim ersten Besuch der Stadt sind sie von den prachtvollen Gebäuden, den Gassen und Winkeln der alten Hansestadt angetan. Am Anfang haben die Kinder es nicht leicht, denn in den Augen und Ohren der neuen Mitschüler sind die beiden Müller-Schwestern nur Bajuwaren, deren Sprache und unverständliche Ausdrücke wie „heuer“ statt „in diesem Jahr“ oder „Semmel“ statt „Brötchen“ schallendes Gelächter hervorrufen. Um nicht weiter verspottet zu werden, legt Renate sehr schnell den bayerischen Dialekt ab und bemüht sich wieder um ein reines Hochdeutsch. Renate: „In diesem Alter stellt man sich leicht um, und ich fühlte mich bald sehr wohl in diesem interessanten Milieu. In unserem Hause verkehrten viele Schriftsteller und Politiker.“ 5
Renate ist eine Träumerin, die nach dem Sinn des Lebens sucht, interessiert sich für die Geheimnisse des Daseins und widmet sich mit Hingabe ihren Interessen. Sie stürzt sich bereits als Pennälerin in die Literatur und Philosophie, verschlingt Nietzsche und Schopenhauer und begeistert sich für die moderne Lyrik. Auch die Schriften des Geschichtsphilosophen Oswald Spengler gehören dazu. Sein 1920 herausgegebenes Erfolgsbuch „Preußentum und Sozialismus“ ruft eine große Wirkung hervor und beflügelt ihre Phantasien. Der Kunstgriff, durch den der Sozialismus hier eine neue Vergangenheit geebnet bekommt, wirkte auf die bürgerliche Jugend der Zwanziger Jahre ermutigend. Seine 2 Bände „Der Untergang des Abendlandes“, liest Renate sogar mehrmals. Spengler schuf hier eine von Goethe und Nietzsche beeinflußte Kultur- und Geschichtsphilosophie und unterscheidet in seinem Werk acht verschiedene Kulturen - in Kunst, Religion, Wirtschaft und Recht - deren Entstehung, Blüte und Verfall. Er sieht eine vergleichbare Gesetzlichkeit der gegenwärtigen westlichen Kultur, die ihren Höhepunkt längst überschritten hat und dem Verfall entgegensteuert. Bücher sind für Renate bereits damals ein wichtiges Ventil und in der väterlichen Bibliothek gibt es kaum ein Buch, welches sie nicht liest. Mit ihren Freundinnen und Klassenkameradinnen kann Renate darüber nicht sprechen, die haben ganz andere Interessen. Renate ist auch außerordentlich empfänglich für Poesie und schreibt in ein ledergebundenes Tagebuch selbstverfasste Verse und ihre geheimsten Empfindungen. Nicht in dem obligaten Stil vieler höherer Töchter, sondern wie Beispiele zeigen, in leidenschaftlichen freien Rhythmen.
Mit weniger Eifer besucht sie jedoch das Gymnasium mit seinen sieben Lateinstunden in der Woche. Zwar hat sie die Absicht zu studieren, um später einmal Journalistin zu werden, aber das Leben in Danzig ist viel zu faszinierend und abwechslungsreich, um sich ausschließlich um die Schule zu kümmern. Renate sieht sich vor allem als Tochter ihres Vaters. Karl-Eugen ist ihr Vorbild, ihr Katalysator, mit dem sie über alles sprechen kann. Gabriele: „Ich entsinne mich noch, mit welch ehrfürchtigem Schweigen ich nebenher ging, wenn bei den sonntäglichen Spaziergängen durch die Wälder von Oliva und Zoppot die große Schwester mit dem Vater über Schopenhauer und Nietzsche diskutierte und in heiligem Eifer Worte des ‚Zarathustra‘ in den sonntäglichen Wald hineindeklamierte. Sicher hat sie nicht alles verstanden, was sie damals las, aber mit Sechzehn, siebzehn Jahren muß man sich einfach mit Gott und der Welt herumschlagen und greift, da man nicht allein damit fertig wird, in jugendlicher Vermessenheit gleich zu den schwierigsten Problemen der Philosophie.“ 6
Die sechzehnjährige Renate (x) mit ihrer Danziger Schulklasse, 1922.
Der Vater unterstützt seine Tochter in ihrem Wissensdurst und nimmt Renate auch gerne zu Veranstaltungen mit. Zum Beispiel zum Stapellauf des Lloyddampfers „Columbus“, oder zur Einweihung des Flugplatzes von Langfuhr. Auch erlebt Renate den Schauspieler Eugen Klöpfer vom Berliner Lessing-Theater, als er ein Gastspiel in der Titelrolle in Gerhart Hauptmanns Schauspiel Michael Kramer im Stadttheater gibt.
Es folgt die Zeit der ersten Bälle, die in der damals ganz internationalen Danziger Gesellschaft gegeben werden. Renate erlebt ihr Debüt auf diesem Gebiet mit sechzehn Jahren an Bord eines britischen Kriegsschiffes, das der Freien Stadt seinen Besuch abstattet. Der Hochkommissar des Völkerbunds, der britische General Sir Richard Haking, gibt für die Offiziere einen Ball.
Da die 200 Seekadetten jeder eine Tischnachbarin haben sollen, werden auch die Töchter der Danziger Gesellschaft geladen. Auch Herr und Frau Müller erscheinen mit ihrer ältesten Tochter. „Aber nur dieses eine Mal!“ bestimmt Karl-Eugen. Dabei bleibt es natürlich nicht, denn aus dem Entlein ist in der Zwischenzeit ein reizendes Mädchen geworden, das seine Umgebung durch ihre aufblühende Schönheit den Kopf verdreht. Sie ist jetzt ein liebenswertes Mädchen und stets gut gelaunt. Das lebhafte, gesellige Leben der Ostseemetropole hat Renate erfaßt, und es lockt das Vergnügen mit Tanz, Verehrern und Erfolgen. Ihr Freundeskreis hat sich sehr vergrößert.
Auf einer anderen Abendgesellschaft hat der Gastgeber jede Tischkarte mit einem Vers versehen. Auf Renates Karte steht der Spruch: „...und als Rena Maria Molino, geht sie mal sicher zum Kino“. Diese Freunde scheinen von den Zukunftsplänen der nun Siebzehnjährigen mehr zu ahnen als sie selbst. Vielleicht fiel an diesem Abend der Funke in jenen Teil ihrer Seele, in dem die Worte Kunst und Erfolg bereits tief verborgen glimmten. Denn Renates berufliche Pläne schwanken jetzt zwischen Journalistin, Ärztin und Opernsängerin. Weil sie eine hübsche Stimme hat, bekommt sie bei der Kammersängerin Johanna Brun, die am Danziger Staatstheater engagiert ist, Gesangstunden. Dieses klassizistische Gebäude am Kohlenmarkt wird in Anbetracht seiner charakteristischen Form von den Danzigern liebevoll-respektlos „Kaffeemühle“ genannt. Nach dem Krieg wurde unter den politischen Umständen aus dem Stadttheater ein Staatstheater. Oper und Schauspiel sind hier untergebracht. Intendant Rudolf Schaper pflegt in seinem Haus vor allem Werke von Max Halbe, dessen naturalistische Dramen Renate beeinflussen. Voller Begeisterung und Eifer absolviert Renate ihre gesangspädagogische Ausbildung, geht aber der Familie mit ihren Tonleiterübungen auf die Nerven. Trotzdem ist ihr Sinn für die Bühne geweckt und Renate konzentriert ihre ganze Kraft auf die Musik und setzt sich nun in den Kopf, eine große Sängerin werden zu wollen. Renate: „Nur eines wußte ich: auf dem Gymnasium wollte ich nicht bleiben!“ 7
Da stehen sich nun die feindlichen Kräfte gegenüber: hier die Schule mit dem väterlichen Wunsch, dass Renate erst einmal das Abitur machen soll - dort die erträumte Zukunft als Opernsängerin. Schließlich kann Renate ihren Willen durchsetzten und erreicht, dass ihre Eltern sie mit dem Reifezeugnis für Unterprima von der Schule nehmen. Befreit und selig verläßt sie das rote Backsteingebäude des Mädchengymnasiums. Renate Müller hat ihren letzten Schultag hinter sich. Gleichzeitig heißt es Abschied nehmen vom Danziger Intermezzo, denn die nächste Station in Renate Müllers Leben heißt: Berlin.